Verbrecher

Was ist eigentlich ein „Verbrecher“?

Beim Begriff des Verbrechens scheiden sich die Juristen vom Rest der Welt.

Wer jemals § 12 des Strafgesetzbuches gelesen hat, weiß, dass ein Verbrechen nichts anderes ist, als eine Straftat, die mit mindestens 1 Jahr Haft bedroht wird. Sagt das Gesetz „mindestens 1 Jahr“, liegt ein Verbrechen vor; sagt es „6 Monate bis 5 Jahre“, dann eben nicht.

Außerhalb der Justiz hingegen ist „Verbrechen“ ein Kampfbegriff. Noch so engagiertes Eintreten gegen das Bienensterben, den Pflegenotstand oder die Kinderarmut wird milde belächelt. Wer jedoch das Verbrechen bekämpft, wird populär, egal ob die Definition des § 12 StGB greift oder nicht. Denn statistisch gesehen muss jeder in diesem Land etwa alle 400 Jahre mit einem Wohnungseinbruch rechnen. Das macht Angst, das erfordert den starken Staat.

Zahlreiche wichtige gesellschaftliche Aufgaben liegen bei uns brach, bis irgendwer sie als Verbrechensbekämpfung begreift. Dann wird gehandelt! Betrachten wir beispielsweise psychisch kranke Menschen, so gäbe es durchaus viel zu regeln, denn beim Umgang mit ihnen liegt Manches im Argen. Das gilt oder galt jedoch bisher als gesetzgeberische Drecksarbeit. Wer befasst sich schon gerne damit, wie man diese Menschen behandelt und wer das bezahlt.

Doch nun hat Bayern das Verbrecherpotential psychisch Kranker erkannt und ein neues Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) auf den Weg gebracht, das sich etwa zu 75% nicht mit der Hilfe für psychisch Kranke befasst, sondern mit der Frage, wie man die Gesellschaft vor ihnen schützt – so ähnlich wie beim terroristischen Gefährder.

Unterbringung, Einschränkung des Besuchsrechts, Fixierung (Fesselung ans Bett!), Überwachung. Durchsuchung, Zwang sind den Gesetzesverfassern wichtig. Darüber hinaus natürlich die Registrierung und Speicherung der Daten. Möglichst umfassend, möglichst lange.

Das Vorhaben ist nicht untypisch für die moderne Gesetzgebung, lediglich besonders zynisch. Bisher wurden nur bestimmte Verhaltensweisen von den selbsternannten Verbrechensbekämpfern ins Visier genommen (Gaffen, Trinken, Beleidigen im Internet). Jetzt trifft es erstmals den Menschen selbst, nicht sein Verhalten, sondern seine Eigenschaft, konkret sein Kranksein.

Vorfälle wie der in Münster geben solch unsäglichen Vorhaben Schub. Schließlich war es ein psychisch Kranker, der dort zwei Menschen tötete und Unzählige verletzte. Damit wird es fast unmöglich, derartige Gesetze noch zu bremsen. Es sei denn, man fragt sich einmal ernsthaft, was außer einer Stigmatisierung Betroffener diese bringen. Vielleicht glauben die Bayern ja wirklich, dass der Todesfahrer von Münster sich anders verhalten hätte, wenn er als psychisch Kranker registriert gewesen wäre.

Lassen wir sie es glauben, denn der Beweis des Gegenteils führt erfahrungsgemäß nur zu einer nochmaligen Verschärfung untauglicher Gesetze.

Nationalhymne

Was passiert eigentlich beim „Verunglimpfen der Nationalhymne“?

§ 185 StGB regelt die Strafbarkeit der Beleidigung. Was jedoch eine Beleidigung ist, steht dort nicht, das muss in jedem Einzelfall neu geklärt werden. Grundsätzlich ist diese Klärung Aufgabe der Gerichte. Aber könnte das nicht auch die Regierung erledigen?

Altkanzler Kohl haderte bekanntlich zu Lebzeiten mit Karikaturen, die sein Gesicht in Birnenform zeichneten. Da könnte Angela Merkel doch tätig werden und festlegen, dass es als Beleidigung zu werten ist, wenn Politiker mit Fallobst verglichen werden. Zur Sicherheit könnte Frank-Walter Steinmeier noch zustimmen und schön wüssten die Gerichte künftig, wann ein dummer Spruch zur Beleidigung wird.

Klingt irgendwie schräg. Wer nur ein bisschen Gefühl dafür hat, was „Gewaltenteilung“ bedeutet, bekommt jetzt Bauchgrummeln.

Dennoch ist eine solche Vorgehensweise nicht ausgeschlossen, wie ein Beispiel aus dem Jahre 1952 zeigt. Damals, in den Gründerjahren der Bundesrepublik, arbeitete das Getriebe des Rechtsstaates noch etwas holperig. Der Bundesgerichtshof urteilte seinerzeit noch, dass Sinti und Roma für die Haft in den Konzentrationslagern der Nazis nicht zu entschädigen seien. Die „Zigeuner« hätten ihre Verfolgung schließlich durch »eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb« selbst verursacht (BGH, Urt. v. 07.01.1956, Az.: IV ZR 273/55). In dieser Zeit also war ungeklärt, was die Nationalhymne des jungen Staates sein solle.  Die Nationalflagge hatte im Grundgesetz eine eigene Regelung bekommen (Art. 22 GG), das als Hymne überlieferte Lied der Deutschen hatten die Alliierten jedoch 1945 als „nazitypisch“ verboten.

Nachdem Bundeskanzler Adenauer allerdings bei einem USA-Besuch mangels Hymne ein „Heidewitzka, Herr Kapitän« entgegengeschmettert worden war, sah er Handlungsbedarf. Bundespräsident Heuss war schon vorher initiativ geworden und hatte eine neue Hymne beauftragt. Die fiel jedoch bei ihrer Uraufführung durch und wurde fortan als »Theos Nachtlied« verspottet. In dieser Situation verständigten sich Adenauer und Heuss darauf, das alte Gedicht des Hoffmann von Fallersleben, gesungen auf die alte österreichische Kaiserhymne, künftig als deutsche Nationalhymne zu verwenden.

Bemerkenswert ist dies deshalb, weil die Hymne in § 90a StGB gegen Verunglimpfung strafrechtlich geschützt ist. Das konnten Heuss und Adenauer noch nicht wissen, aber irgendwann hätte doch eigentlich jemand fragen müssen, ob Kanzler und Präsident per Briefwechsel darüber entscheiden können, was in diesem Land strafbar ist. Zweifel an der Legitimation der Hymne sind deshalb nie verstummt, doch zumindest wer sich an der dritten Strophe des Liedchens vergreift, muss tatsächlich mit Bestrafung rechnen. So hat es das Bundesverfassungsgericht 1990 entschieden (konkret ging es um die Anspielung des Kopulierens mit einem Schaf – offenbar ein Running Gag im Bereich der Satire).

Wer nun denkt, die Nationalhymne sei zwar nicht durch Gesetz, aber zumindest durch die Verlautbarungen verschiedener Verfassungsorgane hinreichend geschützt, hat die Rechnung ohne die moderne Gender-Ideologie gemacht. Denn in der dritten Strophe des »Lied der Deutschen“ tauchen zwei Worte auf, die man heutzutage noch weniger in den Mund nehmen darf, als die Kampfrufe der Nazis. Die Rede ist von „brüderlich“ und „Vaterland“.

Künftig solle das „Heimatland“ besungen werden, fordert die Gleichstellungsbeauftragte des Bundesfamilienministeriums hier. Und dieses möge künftig gefälligst „couragiert“ zusammenhalten. Was die Rechtssetzung durch einen Briefwechsel zwischen Kanzler und Präsident taugt, wird nun seine Bewährungsprobe erfahren. Denn das Duo Adenauer / Heuss hat eben das »Hoffmann-Haydn’sche Lied« zur Hymne erkoren und nicht eine Bearbeitung durch den Zeitgeist. Zumindest diese Beiden wären der aktuellen Verunglimpfung durch die Gleichstellungstante sicher „couragiert“ entgegengetreten.

Übrigens: Die Strafe beträgt bis zu drei Jahre Haft und die Tat ist von Amts wegen zu verfolgen. Zuständig ist die Staatsanwaltschaft Berlin.

dolus eventualis

Was ist eigentlich ein „dolus eventualis“?

Derzeit ist der dolus eventualis ziemlich berühmt, denn das Landgericht Berlin war der Meinung, wer bei einem illegalen Autorennen andere totfährt, nehme dies billigend in Kauf. Der BGH hat dieses Urteil bekanntlich aufgehoben, weshalb Viele jetzt denken, die Tötung sei nur eine fahrlässige, was der BGH so aber gerade nicht gesagt hat. Immerhin weiß jetzt auch der Laie: Der dolus eventualis – auf deutsch heißt er „bedingter Vorsatz“ – ist kein richtiger Vorsatz, bei dem jemand weiß und will, dass etwas passiert, sondern nur ein billigendes Inkaufnehmen. Deshalb wird viel über ihn geschrieben, um ihn abzugrenzen vom direkten Vorsatz einerseits und der Fahrlässigkeit andererseits.

Als Studenten haben wir versucht, den dolus eventualis mit einer Faustformel zu begreifen: Jemand hält es für möglich, dass etwas Bestimmtes passiert und es ist ihm egal, ob das passiert. Also nimmt er es billigend in Kauf. Würde er statt „egal“ eher denken „wird schon gutgehen“, wären wir nach Meinung der Juristen im Bereich der Fahrlässigkeit. Ein Ritt auf der Rasierklinge.

Schauen wir uns das einmal an einem gewöhnlichen Elfmeter im Fußball genauer an: Der Schütze weiß und will, dass der Ball ins Netz fliegt. Er erzielt seinen Treffer also vorsätzlich. Aber was ist mit dem Torwart, der dazwischen hechtet? Dass der da ist, weiß unser Schütze. Ganz sicher will er aber nicht, dass der Torwart den Ball fängt. Allerdings hält er das auch nicht für völlig unmöglich. Klingt nach bedingtem Vorsatz, doch jeder wird unterstellen, dass der Schütze hofft, es werde schon gutgehen. Er hat seinen Elfmeter also nicht bedingt vorsätzlich, sondern nur fahrlässig verschossen.

Dummerweise landet der Ball nun aber nicht in den Armen des Torwarts, sondern in dessen Gesicht und bricht ihm die Nase. Zunächst denken wir, das habe der Schütze ja noch weniger gewollt als einen Fehlschuss. Aber der Spieltag war ansonsten wenig ereignisreich, darum hat die Boulevardpresse den Torwart bereits gekauft. „Ich sah die Mordlust in den Augen meines Gegners, dann zielte er genau auf meine Nase“, wird der zitiert. Umgehend schaltet die Politik in den Wahlkampfmodus, rügt „die zunehmende Brutalität des Sports“ und kündigt drakonische Gesetze dagegen an. In dieser Situation soll der deutsche Stammtisch als Richter nun im Nachhinein entscheiden, was genau der Spieler sich vorstellte, bevor er den Ball trat.

Sofern der Torjäger vor dem Spiel ein Interview gegeben hat, wissen wir ziemlich genau, was er dachte. Gibt er das Interview erst hinterher, wird er natürlich abstreiten, so einen Nasenbeinbruch auch nur annähernd für möglich gehalten zu haben. Da kann dann jeder eine andere Meinung dazu haben und keine ist richtig falsch. Letztlich bleibt nur, zu glauben, was der Schütze erzählt – oder eben nicht. Viel zu tun für den Strafverteidiger und am Ende ein Urteil, das genauso gut anders lauten könnte. Eine Glaubensverkündung gewissermaßen – eigentlich die Aufgabe des Pfarrers, nicht des Richters.

Im Fall der Berliner Raser hat der Volksmund sein Urteil längst gesprochen: Sinnlose Raserei und sinnlose Tötung, also Mord. Spätestens jetzt benötigen wir den Pfarrer vom vorherigen Absatz: Herr vergib‘ ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Was denkt denn wohl der Raser, bevor er auf‘s Gas tritt? Ist er wirklich so kaltblütig, dass ihm querkommende Autos egal sind? Oder denkt er viel eher, es werde schon gut gehen? Oder ist er schlichtweg zu doof zum Denken, was zumindest mit der studentischen Faustformel nicht zu lösen wäre.

Bevor Du, geneigter Leser, nun den Daumen senkst, frage Dich doch einmal, wie Du bei anderen Verkehrsvergehen entscheiden würdest. Was ist mit dem Brummifahrer, der ungebremst in das Stauende rast, weil er die Abstandsautomatik abgeschaltet hat, um schneller voranzukommen? Was ist mit der Feuerwehr im Einsatz, die mit Blaulicht über die rote Ampel rast, weil es Vorschrift ist, dass alle anderen warten müssen? Und was ist mir Dir selbst, der Du es morgens im Berufsverkehr mal wieder besonders eilig hast und schnell noch über den Zebrastreifen huschst?

Alle Autofahrer wissen um die Gefahren und brechen dennoch permanent die Gesetze. Aber gilt darum für sie, was Tucholsky einst über die Soldaten sagte?

ex ante

Was ist eigentlich die „ex-ante-Sicht“?

Vor vielen Jahren habe ich mich einmal auf der Suche nach einem Zeugen spät nachts in eine als Drogenhölle verschriene Spelunke begeben, denn ich wusste, dass der Zeuge dort sicher anzutreffen ist. Natürlich bin ich nicht mit Anzug und Schlips aufgetaucht, aber irgendwie war mein Erscheinen doch auffällig. Zuerst wurde getuschelt, dann flog das Wort „Anwalt“ durch den Raum, kurz später schon die Warnung „Spitzel“ und plötzlich stand der Wirt vor mir, mit rot glühendem Gesicht und glasigen Augen. In der Hand hielt er einen Knüppel, keinen Baseballschläger, eher so einen Schlagstock wie ihn englische Polizisten am Mann führen. „Ich schlag ihm die Zähne raus“, brüllte er und sah irgendwie so aus, als ob er das tatsächlich vorhatte. Mir war klar, dass ein schützend erhobener Unterarm gegen solche Knüppel kein wirklicher Schutz ist. Obwohl nicht schmächtig gebaut, war ich körperlich schon deshalb unterlegen, weil ich saß, während er stand. In dieser Situation fiel mir ein, dass ich ein Messer bei mir trug, ein Opinel, Klingenlänge 8 cm, zusammengeklappt in der Hosentasche.
Wie es tatsächlich weiterging, lässt sich in einem meiner Romane nachlesen. Ich denke, ich habe die Szene irgendwo dort beschrieben. Wie es rechtlich weitergeht, entscheiden in solchen Fällen letztlich die Strafgerichte und ihre mitunter verwirrenden Vorstellungen darüber, was Notwehr ist.

Schulmäßig definiert man Notwehr als die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff schnell und sicher zu beenden. Wenn also Kinder in einen Kirschbaum klettern, um sich an den Früchten zu laben, der Eigentümer des Kirschbaums aber nicht klettern kann, um die Kinder zu vertreiben, darf er zur Verteidigung seines Eigentums die Kinder mit der Schrotflinte vom Baum schießen. So zumindest wäre es, wenn man das Gesetz wörtlich nähme und so wurde es 1920 auch vom Reichsgericht noch entschieden.
Der moderne Rechtsstaat hat dem Gesetz darum ein paar ungeschriebene Ergänzungen hinzugefügt. Heutzutage operieren die Strafgerichte mit sogenannten sozial-ethischen Einschränkungen des Notwehrrechts und nehmen eine Rechtsgüterabwägung vor. Kinderleben gegen Kirsche ist irgendwie nicht stimmig, darum würde derselbe Rentner, den das Reichsgericht 1920 freigesprochen hat, für dieselbe Tat 2018 mindestens fünf Jahre hinter Gittern verschwinden.

Klingt irgendwie beruhigend, löst aber mein Problem mit dem Wirt in der Spelunke nicht. Dort stellte sich ja eher die Frage Schädelbruch gegen Messer im Bauch, eine prinzipiell einmal nicht unangemessen erscheinende Reaktion.
Aber die Strafgerichte haben nicht nur sozial-ethische Einschränkungen erfunden, sondern etwas, das ebenfalls nicht im Gesetz steht, nämlich die objektive ex-ante-Sicht. So etwas können sich eigentlich nur Juristen ausdenken. Und noch schlimmer: Sie können es auch anwenden. Die Frage, ob man das Messer ziehen darf, wird nämlich „auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung“ beantwortet. Mit anderen Worten: Der Richter kocht sich einen Tee, setzt sich an seinen Schreibtisch und tunkt den Teebeutel rhythmisch in die Tasse, während er sich die konkrete Situation ausmalt. Dann lehnt er sich zurück, genießt den feinen Bergamotte-Ton seines Earl-Grey und blendet ganz entspannt zunächst einmal den konkreten Stress der Mann-gegen-Mann-Situation völlig aus (objektiv!). Die gespannten Erwartungen einer aufgeputschten Menge sieht er nicht, die Schreie „Los, gib´s ihm“ hört er nicht. Stattdessen grübelt er sachlich und besonnen darüber nach, wie ein vernünftiger Mensch nun reagieren sollte. Das bringt ihn zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es möglicherweise ein milderes Mittel zur Verteidigung gab, nämlich die bloße Androhung des Stichs.
Rechtlich korrekt, da hat er keine Zweifel, wäre eigentlich gewesen, dem Wirt das Opinel zunächst einmal zu zeigen (allein das Aufklappen dauert schon eine Ewigkeit) und ihm freundlich zu erklären: „Lieber Wirt, wenn Du diesen Knüppel gegen meine Zähne richten solltest, muff if leider fuftechen.“ Hat man es versäumt, diese Warnung auszusprechen – der zweite Teil des Satzes wurde offensichtlich bereits ohne Zähne gesprochen – wird der Richter zu dem Schluss kommen, dass das Messer hier verfrüht zum Einsatz kam. Wohlgemerkt: ex ante.

Nun lebt der gemeine Bürger ja nicht gerade ständig in der Gefahr, seine Zähne durch einen Schlagstock zu verlieren (der gemeine Strafverteidiger übrigens auch nicht). Wahrscheinlich werden es eh schon die Dritten und die Rechtsgüterabwägung bei einem künstlichen Gebiss möglicherweise auch völlig anders zu treffen sein.
Die breite Masse treibt das Notwehrrecht heutzutage erst dann um, wenn wieder Sommer ist und die Nation kein anderes Problem hat, als dass ein Hund im Auto auf dem Supermarktparkplatz etwas schwitzen könnte. In sozialen Netzwerken wird darum schon etwa ab Ostern prophylaktisch dazu aufgerufen, auf jeden Fall hemmungslos Autoscheiben einzuschlagen. Wer das nicht umgehend liked und teilt, ist verdächtig, wahrscheinlich missbraucht er auch zuhause seine Kinder. Ginge es nach den Verbreitern solcher Aufrufe, sähen unsere Parkplätze im Sommer aus wie Hamburg nach dem G 20.

Ex ante betrachtet wird ein Richter nicht dazu tendieren, die Sachbeschädigung am Auto als Notwehr zugunsten eines Hundes anzusehen. Klar, Dackelblicke sind unwiderstehlich, da kann man gar nicht anders. Aber möglicherweise hätte ja ein Anruf bei der Polizei oder ein Rundruf im Supermarkt auch schon gereicht, um Waldi frische Luft zuzufächeln. Höchstwahrscheinlich kommt der Richter noch nicht einmal zur ex-ante-Sicht, sondern stolpert schon vorher über das Problem, ob fremde Hunde ein Rechtsgut sind, das jedermann zu schützen sich berufen fühlen darf.

Diese Frage beantworte ich aber erst, wenn ich mal Bock auf einen richtig großen Shitstorm habe.

Legendierte Polizeikontrolle

Was ist eigentlich eine „legendierte Polizeikontrolle“?

Die römische Mythologie kannte den doppelgesichtigen Janus. Der war dafür zuständig die Gegensätze zu vereinen. Anfang und Ende, Leben und Tod, Eingang und Ausgang waren Janus unterstellt, denn mit seinen zwei Gesichtern schaute er gleichzeitig nach vorne und nach hinten, hatte also den Überblick über das Ganze. Was für Kinderaugen vielleicht nach einem Monster aussieht, wurde von den Römern als Gott verehrt. Man baute ihm den legendären Tempel, dessen Tore während eines Krieges offen standen. Das Internet behauptet, die genaue Lage des Tempels sei ungeklärt – ich weiß wo seine Reste stehen, denn ich war schon dort. 

Szenenwechsel: Ein Schuss, ein Knall, ein Toter. Tatütata, die Polizei ist da und der Strafverteidiger fragt sich, welche Rechte die nun hat. Die Juristen antworten wie sie immer antworten: Das kommt drauf an.

Vor dem Schuss galt noch Gefahrenabwehrecht, mithin in jedem Bundesland etwas anderes, denn vor dem Schuss gab es noch keine Straftat, da handelte die Polizei nur zur Vermeidung künftiger Straftaten, also präventiv. Nach dem Schuss gilt die Strafprozessordnung, da ermittelt der Staatsanwalt und die Polizisten sind seine Hilfsbeamten. Heute sagt man „Vernehmungsbeamten“, weil die Polizisten keine Gehilfen mehr sein wollten. In der Sache hat sich nichts geändert.

Wenn sie repressiv handeln, also nach begangener Straftat, laufen die Polizisten an der Leine des Staatsanwaltes. Und der wiederum muss sich bestimmte Aktionen – beispielsweise eine Durchsuchung – vom Richter genehmigen lassen. So will es das Gesetz und so will es auch der Strafverteidiger, damit er klar abgrenzen kann, was erlaubt ist und was nicht. 

Die Geschichte mit dem Schuss ist eigentlich auch für Laien einfach zu verstehen. Vorher präventiv und darum Polizeirecht, hinterher repressiv und darum Strafprozessrecht.

Übertragen wir das mal auf einen Drogenkurier, gilt nichts anderes. Die Hinfahrt nach Holland geschieht im Vorfeld einer Straftat, da überwacht die Polizei nur präventiv. Die Drogenübergabe ist der Schuss und für die Rückfahrt gilt dann Strafprozessrecht.

„Dumm gelaufen“, schimpft da der Polizist. „Jetzt muss ich ja den Staatsanwalt fragen, bevor ich den Kurier anhalte. Und der muss den Richter fragen, bevor das Auto durchsucht werden darf. Das ist doch irgendwie ziemlich nervig mit dem Rechtsstaat.“

An dieser Stelle kommt der Doppelgesichte ins Spiel, der bekanntlich Gegensätze vereint. Janus flüstert den Hilfsbeamten (wir befinden uns ja im repressiven Bereich) ins Ohr: „Versuch’s doch einfach präventiv.“ Und siehe da: Das präventive Polizeirecht kennt ein Schlupfloch, nämlich die allgemeine Verkehrskontrolle. Also flugs die Kelle raus und den Drogenkurier rechts ran gewunken. „Darf ich mal ihr Warndreieck sehen? Huch, was ist denn das? Sieht ja aus wie Heroin. Na so ein Zufall aber auch.“

Und während der Staatsanwalt noch darauf wartet, dass er vor der Durchsuchung gefälligst gefragt wird, ob er mal den Richter fragen darf, hat die Polizei die Arbeit längst erledigt.

„Legendierte Polizeikontrolle“ nennt man dies, weil die Kontrolle nur eine Legende ist, eine Erfindung, um den Richtervorbehalt zu umgehen. Strafverteidiger sehen dieses Vorgehen der Polizei naturgemäß kritisch, aber der Bundesgerichtshof meint: „Kein Problem“. Präventiv und repressiv ist doch irgendwie alles eins, Hauptsache die Polizei kann zugreifen.

Du wirst, geneigter Leser, Dich nun fragen, wozu die Förmelei denn gut sein soll. Schließlich kann es nicht falsch sein, einen Drogenkurier aus dem Verkehr zu ziehen. Also wenden wir uns dem zu, was Dir heilig ist: Dein home und castle. Dort fühlst Du Dich sicher, weil die Polizei ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss nicht hineindarf – denkst Du. Aber vielleicht bist Du ja Versicherungsvertreter mit Heimbüro und empfängst dort auch Kunden. Dann hat der Zoll ein Betretensrecht, um dort nach Schwarzarbeitern zu suchen. Schon mal darüber nachgedacht, ob diese Kontrolle „legendiert“ ist, also einem ganz anderen Zweck dient?

Oder Du bist Jäger, dann darf die Waffenbehörde nachschauen, ob Du Deine Waffen anständig verwahrst. Warum aber sollte es keine legendierte Waffenkontrolle geben? Will das Bauamt wirklich nur prüfen, ob Du vorschriftsmäßig Rauchmelder montiert hast? Und vor dem Schornsteinfeger warnt man schon die Kinder im Lied vom schwarzen Mann.

Vielleicht solltest Du künftig etwas argwöhnischer betrachten, wer zu welchen Zwecken Dein Haus betritt. 

Denn der Janustempel ist geöffnet – was das bedeutet, sollte klar sein!

Geschichtslehren

Ziehen Strafverteidiger eigentlich „Lehren aus der Geschichte“?

Heute – am 22.2.2018 – ist es 75 Jahre her, dass die Geschwister Scholl unter dem Fallbeil des Naziregimes starben. Ich habe heute einen längeren Spaziergang über den Schloßberg gemacht, mich anschließend auf eine Bank am Ufer der langsam vereisenden Nahe gesetzt und mir die winterliche Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Dabei habe ich zurückgedacht an diese kleine studentische Widerstandsgruppe.

Du magst Dich, geneigter Leser, jetzt fragen, weshalb Strafverteidiger in ihren Mittagspausen über den deutschen Widerstand grübeln. Darum solltest Du wissen, dass unsere Strafprozessordnung bereits seit dem Jahre 1877 gilt und folglich sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Grundlage der Strafprozesse in diesem Lande war. Auch im Dritten Reich war sie formell in Geltung, tatsächlich aber zunehmend außer Kraft.

Berechtigt dies den Strafverteidiger, sich in der geistige Nachfolge der Geschwister Scholl zu sehen? Ganz klar: Nein! Ich bezweifle, dass auch nur ein Bruchteil meiner Kollegen diesen Mut aufbrächte. Die Freiheit oder gar das Leben würde ohnehin keiner von uns geben für die gerechte Sache.

Und dennoch weht ein Hauch, ein laues Lüftchen des Widerstandes auch durch unsere Reihen. Ich möchte behaupten, dass die Geschwister Scholl uns zumindest Vorbild sind – ein Vorbild, das wir freilich nie erreichen.

Strafverteidigung hat nichts zu tun mit dem Blutopfer des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Tyrannei. Schauen wir jedoch ein wenig weiter zurück, betrachten wir den Weg hinein in den Terror, dann sehen wir, dass es durchaus die Strafverteidigung war, die unter Berufung auf die oben bereits erwähnte Strafprozessordnung von 1877 dem immer weiter in die Diktatur abdriftenden Staat Paroli bot. Der Geist des Widerstandes wurde in den Jahren zwischen Kaiserreich und Hitlers Machtergreifung geschult. Und es waren die Strafverteidiger der Weimarer Republik, welche das Ethos unseres Berufsstandes formten. Einige möchte ich hier hervorheben:

1.) Martin Drucker

Drucker machte 1924 bereits auf sich aufmerksam, weil er eine Strafprozessrechtsreform heftig kritisierte. Dadurch werde dem Volk „im weiten Maße das Kulturgut eines ordentlichen Strafprozesses“ entzogen. Eine Kritik, die seither alle sogenannten Reformen begleitet, wahrscheinlich aber nie wieder so treffend formuliert wurde: Der ordentliche Strafprozess als Kulturgut.

Da verwundert nicht seine Auffassung, „dass ein Plädoyer für die Gewährung mildernder Umstände den Verdacht der Geistesfaulheit und juristischen Ignoranz des Verteidigers nahe legt.“ – Ein Aufruf, mit der Verteidigung bei den Grundlagen zu beginnen und nicht am Ende.

2.) Paul Reiwald

Reiwald war einer der Ersten Verteidiger, der sich mit der Psychologie im Strafprozess befasste. Grundlegende Schriften dazu wurden von ihm geschrieben. Seine praktische Tätigkeit vor Gericht machte ihn bei den Nazis schnell unbeliebt, weshalb er schon bald nach der Machtergreifung ins Exil floh und von den neuen Machthabern aus der Liste der Rechtsanwälte gelöscht wurde.

Er konnte jedoch sein wichtiges Werk „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher“ dennoch vollenden und darin die geniale Erkenntnis platzieren: Die Scheidewand zwischen Gesellschaft und Verbrecher ist dünn, am dünnsten vielleicht dort, wo sie zur Abwehr gegen ihn gerüstet steht. Richter und Staatsanwalt, sie, die den Verbrecher verfolgen und verurteilen, die sich von dem Mann auf der Anklagebank duch eine Welt geschieden fühlen, stehen ihm näher als sie denken.

3.) Erich Frey

Frey verteidigte 1928 im Prozess um die sogenannte Steglitzer Schülertragödie. Sein Credo war die Gleichberechtigung der am Prozess beteiligten Juristen. Darum ließ er es sich nicht nehmen, das Verfahren durch Erklärungen und Anträge zu steuern. Dem Gerichtsvorsitzenden hielt er entgegen, er verbitte sich, von diesem ständig unterbrochen zu werden. Als daraufhin das Gericht den Vorsitzenden ermächtigte, den Verteidiger für sein Verhalten zu rügen, erwiderte Frey, diese Rüge „konnte nur den Zweck haben, den Verteidiger vor den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie musste aber auch die Würde des Anwaltsstandes verletzen. Der Verteidiger sieht sich nicht in der Lage, unter diesen Umständen die Verteidigung weiterzuführen.“

Wohlgemerkt: Dies geschah in einer Gerichtskultur, die noch von der Kaiserzeit geprägt war. Wenn es heute eine Selbstverständlich ist, als Verteidiger dem Gericht auf Augenhöhe gegenüber zu treten, haben wir dies auch Erich Frey zu verdanken. 

4.) Dr. Max Alsberg

Alsberg kann man als den erfolgreichsten Strafverteidiger der Weimarer Republik bezeichnen. Was mich an ihm fasziniert ist die Tatsache, dass er in politisch schwierigen Zeiten agierte, ohne sich politisch in eine Schublade stecken zu lassen.

Er verteidigte u.a. Kaiser Wilhelm II (nach dessen Abdankung), den Großindustriellen Hugo Stinnes, den rechtsgerichteten Politiker Karl Helfferich und den pazifistischen Journalisten Carl von Ossietzky – stets an der Sache orientiert und ohne Vorbehalte gegen eine Person.

Daneben war er in großem Umfang wissenschaftlich tätig, hatte eine Professur an der Berliner Universität inne und schrieb auch zwei (erfolgreich aufgeführte und heute noch lesenswerte) Theaterstücke über den Berufsalltag des Strafverteidigers (Voruntersuchung und Konflikt).

Schon bald nach der Machtergreifung sah er sich zur Emigration veranlasst. Seiner materiellen Existenz beraubt wählte er am 1. September 1933 im Exil in der Schweiz den Weg in den Freitod.

5.) Schließlich und endlich, hervorragend selbst unter derart bedeutenden Kollegen noch: Hans Litten.

Am 1. Mai 1929 befahl der Polizeipräsident von Berlin die gewaltsame Auflösung der Maikundgebungen in Berlin und erteilte Schießbefehl. 33 Demonstranten wurden getötet, zahlreiche andere wegen Landesverrat angeklagt. In dieser Situation betrat Hans Litten die Bühne der Justiz und stellte Strafantrag gegen den Berliner Polizeipräsidenten wegen Anstiftung zum 33fachen Mord.

Nachdem  die SA im November 1930 das Arbeiterlokal „Edenpalast“ überfallen hatte, übernahm er die Nebenklage und schaffte es, Adolf Hitler persönlich in der Zeugenstand zu zwingen, um zu beweisen, dass der rechte Terror von ganz oben angeordnet war.

Hitler wurde in diesem Prozess derart blamiert, dass er es Hans Litten nie verzeihen konnte. Schon in der Nacht des Reichstagsbrandes ließ der den Anwalt in „Schutzhaft“ nehmen. Es folgte eine jahrelange Odysee durch die Folterknäste und Konzentrationslager des Dritten Reiches. Zuletzt in Dachau angekommen, fürchtete der schwer misshandelte Hans Litten, unter der Folter zu gestehen, was seiner anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterlag. Er nahm sich darum das Leben, um nicht gegen seine Schweigepflicht zu verstoßen.

Es sind große Namen, die vor 100 Jahren einen Kampf aufgenommen haben, der bis heute nicht geendet hat. Positiv ausgedrückt ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Aber es war und bleibt auch immer ein Kampf gegen den Staat, gegen seine Übergriffigkeit, seine Rechtsverstöße, seinen Machtmissbrauch.

Darüber reflektiere ich an solchen Tagen und wenn ich dann alsbald wieder einen Gerichtssaal betrete, denke ich vielleicht kurz an die Geschwister Scholl. Widerstand ist ein zu großes Wort für das, was Strafverteidiger antreibt. Aber zumindest Entschlossenheit lernen wir schon von den historischen Vorbildern.

Knallzeuge

Was ist eigentlich ein „Knallzeuge“?

Unser Gehirn ist ein seltsames Ding. Es bemüht sich geradezu fanatisch um Ordnung. Das tut es nicht, indem es benutze Kaffeetassen in die Spülmaschine räumt, sondern indem es diesen ein Sinn gibt.

Wenn Du, geneigter Leser, eine benutzte Kaffeetasse siehst, denkst Du sofort, dass irgendjemand Kaffee getrunken haben muss, auch wenn Du den Vorgang an sich nie gesehen hast. Das passiert deshalb, weil Dein Gehirn automatisch eine Erklärung für die benutzte Tasse strickt. Kommt jetzt noch Beate Mustermann hinzu, um die Tasse in besagte Spülmaschine zu räumen, steht für Dich umgehend fest, dass Beate den Kaffee getrunken haben muss. Und wenn Dich dann drei Monate später ein Richter befragt, wirst Du nach bestem Wissen und Gewissen antworten: „Beate hat zuerst Kaffee getrunken und dann ihre Tasse weggeräumt.“ Wahrscheinlich würdest Du auch bedenkenlos einen Eid darauf schwören und damit eiskalt ein Verbrechen begehen. Denn Beate hat den Kaffee nicht getrunken und es war auch nicht ihre Tasse.

Viele denken ja, ihr Gehirn sei der Hort aller Logik und über jede Täuschung erhaben. Dabei kann es trotz seiner vermeintlichen Rationalität noch nicht einmal unterscheiden, ob zwei Fotos identisch sind oder nicht, wie sich hier nachlesen lässt.

Beates Verteidiger ist in dieser Situation nicht zu beneiden. Du zeigst als Zeuge keinen Belastungseifer, hast keinen Grund, Beate etwas anzuhängen und machst für alle Beteiligten den Eindruck, als hättest Du Beates Kaffeetrinken tatsächlich beobachtet. Klassische Signale der Glaubwürdigkeit, die Du deshalb ausstrahlst, weil Du sicher bist, gesehen zu haben wovon Du berichtest. Tatsächlich spielt Dir nur Dein Gehirn einen Streich. So hältst Du allen Fragen stand. Also muss Beate wohl schuldig gesprochen werden – vorausgesetzt ihr Kaffeetrinken wäre der entscheidende Beweis.

Beate kann jetzt nur noch hoffen, dass ihr Verteidiger sich intensiv mit Aussagepsychologie befasst und irgendwann einmal etwas von einem Knallzeugen gehört hat. Das ist genau so ein Zeuge wie Du, nämlich einer, der nur kombiniert hat und trotzdem mit Gewissheit behauptet, etwas Entscheidendes gesehen zu haben. Der Knallzeuge heißt so, weil er im Straßenverkehr den Knall eines Unfalls hört. Sofort schaut er dorthin, woher der Knall kam und zieht nun blitzschnell Rückschlüsse aus dem, was er sieht. Danach denkt er für alle Ewigkeit, er hätte den Unfall beobachtet und beschreibt diesen Unfall auch in allen Vernehmungen immer auf die gleiche Art und Weise. Kein gemeiner Lügner, sondern ein Opfer des Gehirns, das nach Ordnung strebt.

Beates Verteidiger kann dieses Problem nur knacken, wenn er in der Vorbereitung sich die Situation genau erklären lässt. Anschließend muss er durch eine geschickte Frage dem Zeugen den Knall entlocken. Nur dann hat Beate noch eine Chance. Fragen nach der Farbe der Kaffeetasse oder danach, welche Kleidung Beate trug, sind Effekthascherei. Sie führen hier nicht weiter, denn das hat der Knallzeuge ja tatsächlich gesehen. Er gilt nur als noch glaubwürdiger, wenn er darauf sicher antwortet. Auch dies muss der Verteidiger bedenken. Besser keine Frage als ein falsche.

Richtig ist hier nur eine Frage, auf die der Zeuge antwortet: „Ich hörte einen lauten Knall, daraufhin drehte ich mich um.“ – Natürlich übertragen auf die Kaffeetasse.

Also, hochgeschätzte Leser: Wer kann Beates Kopf retten?

Selbstleseverfahren

Was ist eigentlich ein „Selbstleseverfahren“?

1 Million ist viel Geld. Wer es zu bekommen hat, muss manchmal lange darauf warten. Jahrelang geht der Prozess hin und her, bis schließlich die Anwälte vor dem hohen Gericht auftreten und Folgendes passiert:

Klägeranwalt: „Ich stelle den Antrag vom 10.6.15 “
Gegenanwalt: „Ich beantrage Klageabweisung.“
Richter: „Beschlossen und verkündet: Termin zur Verkündung einer Entscheidung am 28.2.18 um 12 Uhr.“

So oder so ähnlich verläuft ein Prozess am Zivilgericht. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung, weil alle Beteiligten alle Akten kennen und es wenig Sinn macht, den 73-seitigen Erbvertrag, aus welchem sich der Anspruch auf 1 Mio. Euro ergibt, vor Gericht öffentlich zu verlesen. Denn Anwälte und Gericht kennen die Akte in- und auswendig, sie tauschen seit Jahren Schriftsätze aus, haben alles, was für den Fall relevant ist, längst mehrfach schriftlich zu den Akten gereicht. Die Verhandlung vor Gericht ist nur noch eine Formalität, ein Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert.

Ganz anders hingegen verläuft der Strafprozess. Hier muss alles, was das Gericht in seinem Urteil berücksichtigen will, in mündlicher Verhandlung erörtert werden. Ein Attest über Verletzungen wird vorgelesen und wenn jemand das Medizinerkauderwelsch nicht versteht, muss eben noch ein Arzt hinzugezogen werden, der das Attest erläutert.

Dieser Mündlichkeitsgrundsatz gilt im Strafprozess deshalb, weil der Angeklagte die Möglichkeit haben muss, sich zu allen Vorwürfen zu äußern. Und da er nicht 1 Million zu gewinnen hat, sondern eher einige Jahre Haft, kann man wohl kaum von ihm verlangen, durch das Studium meterdicker Akten an seiner Verurteilung mitzuwirken.

Außerdem gibt es im Strafprozess Schöffen. Die sollen ohne Kenntnis des Akteninhalts entscheiden, nur auf der Basis dessen, was sie im Prozess hören und sehen.

Einzige Ausnahme von diesem Mündlichkeitsgrundsatz ist das Selbstleseverfahren, welches man sich wie folgt vorstellen muss: Am Ende eines Verhandlungstages überreicht der Vorsitzende den übrigen Prozessbeteiligten einen Stapel Papiere. Am Beginn des nächsten Verhandlungstages fragt er, ob jeder die Papiere gelesen hat. Allein dadurch wird der Inhalt der Papiere zum Prozessstoff. 50 eng beschriebene Seiten aufgezeichneter SMS muss dann jeder parat haben und wissen, dass mit der „Lieferung“ auf Seite 27, 3. Absatz von unten angeblich Heroin gemeint sein soll.

Ein nicht ganz unbedenkliches Verfahren, denn niemanden interessiert, ob der Angeklagte alles gelesen oder die Schöffen alles verstanden haben. Wen wundert es also, dass die gerade neu sich bildende Groko genau bei diesem Selbstleseverfahren Reformbedarf entdeckt hat.

„Wir modernisieren das Selbstleseverfahren“, heißt es im Koalitionsvertrag. Und wenn man weiß, aus welcher Ecke diese Idee kommt, ist auch klar, dass damit nicht gemeint ist, die heute schon bekannten Schwächen des Verfahrens auszubessern. Beabsichtigt ist etwas ganz anderes: Noch mehr, noch umfangreicher soll in Zukunft davon Gebrauch gemacht werden. Statt 50 Seiten gibt es dann 500 Seiten zu lesen oder gar 5000. Hauptsache, das Verfahren wird beschleunigt und die nervige Fragerei durch Verteidiger hat ein Ende.

Der Strafprozess der Zukunft könnte dann so aussehen:

Staatsanwalt: „Ich beantrage lebenslang.“
Verteidiger: „Ich beantrage Freispruch.“
Gericht: „Ein Urteil wird Ihnen zugestellt.“

Franz Kafka lässt grüßen

Strafakte

Wie entsteht eigentlich eine „Strafakte“?

Akten, Akten, Akten! Die ganze Justiz besteht nur aus Akten.
In Strafprozessen sind sie blassrot, daher „Rotakten“ genannt. Wenn ein Fall „durch die Instanzen geht“, also durch Rechtsmittel immer eine Instanz höher, bisweilen auch wieder zurück an den Anfang wandert, wird tatsächlich eine papierne Akte auf dem Postweg hin und her geschickt, bis sie irgendwann ausgeurteilt, zerfleddert und kaum noch lesbar im Archiv irgendeines Gerichtskellers landet. Nichts geht ohne die Akte. Niemand wird verurteilt aber auch niemand wieder freigelassen, so lange nicht die zuständigen Organe der Rechtspflege die Akte gelesen und um einige Seiten eigener Ergüsse ergänzt haben.
Die Fixiertheit der Juristen auf eine Akte ist so manisch, dass schon vor einem halben Jahrtausend der Rechtsgrundsatz „Quod non est in actis non est in mundo“ entstand – was nicht in den Akten steht, ist überhaupt nicht auf der Welt.
Wie entsteht aber eine solche Akte? Wo verschmelzen einzelne Seiten derart, dass daraus nach zwei oder mehr Instanzen wie bei der Zellteilung ein gewaltiger Organismus wird?
Nun, soweit es um Strafakten geht, ist der Demiurg die Polizei. Die notiert und speichert grundsätzlich alles, was ihr über den Weg läuft. Anschließend entscheidet sie, was an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wird. Das Gesetz schreibt zwar vor, dass die Polizei ihre gesammelten Aufzeichnungen zu einem Fall als Strafakte den Staatsanwälten zu übergeben hat. Das tut sie aber bewusst nicht. Denn Wissen ist Macht! Und der Staatsanwalt muss sein Wissen mit Richtern und Anwälten teilen. Deshalb bekommt er nur, was für eine Verurteilung benötigt wird. Jedes Strafverfahren beginnt also streng genommen mit einem Rechtsbruch, weil die Polizei Aktenbestandteile einfach zurückhält.

Schauen wir uns das nun einmal in der Praxis an: Dazu stellen wir uns vor, Du wärest, geneigter Leser, mit Deiner Freundin im Auto unterwegs. Es ist schon spät, Alkohol war auch im Spiel und plötzlich knallt es, weil irgendwer sein Auto auf der Straße geparkt hat. Fahrerflucht ist unfair, denkt Ihr, aber die Polizei wollt Ihr jetzt auch nicht unbedingt hinzuziehen. Also schreibt Ihr einen Zettel mit Kennzeichen und Handynummer, steckt ihn an das beschädigte Auto und macht Euch schleunigst aus dem Staub, zwar mit schlechtem Gewissen, aber in der festen Absicht, den Schaden ordentlich zu regulieren. „Zum Glück wird nie jemand erfahren, wer von uns am Steuer saß“, denkt Ihr euch noch.

Irgendein Blockwart musste aber mal wieder tief in der Nacht am Fenster herumlungern. Der hat zumindest das Wegfahren eines Autos gesehen und umgehend die Polizei gerufen. Damit beginnt ein tagelanges Katz-und-Maus-Spiel, denn irgendwie hast Du so gar keine Lust, mit der Polizei zu reden und denen zu erklären, wer gefahren ist. Das wiederum mögen Polizisten nicht leiden, deshalb schwärmen sie aus. Sie suchen Dich zuhause, aber Du bist nicht da. Sie fragen herum, wer Dein Auto sonst noch fährt und versuchen zu rekonstruieren, wann Du wo warst. Obendrein erzählen Sie Deiner Familie, dass es „ganz schlimm“ wird, wenn Du Dich nicht umgehend mit Auto meldest.
Um weiterem Stress aus dem Wege zu gehen, fährst Du 2 Tage später zur Polizei, präsentierst wieder nüchtern Dein Auto und sagst, dass Du sonst nichts sagen willst – vor allem nicht, wer gefahren ist.
Dein Anwalt, den Du von Beginn an konsequent auf dem Laufenden hältst, hat richtig Spaß an dem Fall. Bis er irgendwann die Strafakte auf dem Tisch hat und seinen Augen nicht traut: „Der 01 fuhr nachts allein von A nach B und verursachte einen Unfall. Anschließend entfernte er sich. Dieser Sachverhalt basiert auf den Angaben des 01.“, steht da. Und der 01 bist Du, das will die Polizei wie auch immer festgestellt haben.
Die Rotakte enthält nicht einen Satz über das Katz-und-Maus-Spiel und die verzweifelten Versuche der Polizei, den Fahrer zu ermitteln. Alles liest sich so, als könne es überhaupt keinen Zweifeln daran geben, dass Du gefahren bist. Denn Wissen ist Macht und die Polizei weiß genau, was sie dem Staatsanwalt verschweigen muss, damit Zweifel erst gar nicht aufkommen.

Es ist nun die Aufgabe Deines Verteidigers, all die fehlenden Puzzle-Stücke zusammenzutragen, die aus dem Fall wieder das machen, was er von Anfang an war: ein ungeklärter Sachverhalt. Denn was die Polizei als Strafakte an die Justiz liefert, ist oft nicht mehr als ein Märchenbuch.

Rechtstreue

Sind Strafverteidiger eigentlich weniger „rechtstreu“?

Als junger Anwalt war ich gerne Seminarbetreuer bei der Deutschen Anwaltsakademie. Wenn man sich dort bereit erklärte, die Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung anfangs zu begrüßen und aufzupassen, dass sie sich ordentlich in die Teilnehmerlisten eintragen, musste man das Seminar nämlich nicht bezahlen. Eine Wohltat für die stets leere Schatulle eines Junganwaltes.

Ich betreute so eine ganztägige Fortbildung zum Versicherungsrecht, eine 2tägige zum Baurecht und eine 3tägige zum Familienrecht. Das war im Ablauf irgendwie immer gleich. Dann buchte ich mich in eine Fortbildung für Strafverteidiger und erwarb mir meine ersten grauen Haare. Die Typen kamen nicht pünktlich, füllten die Fragebögen nicht oder nur schlampig aus und standen nach den Kaffeepausen rauchend oder schwätzend draußen herum, obwohl der Referent längst schon wieder am Vortragen war. Schon ab dem Mittagessen fragten sie nach der Teilnehmerbescheinigung, gegen deren Ausgabe ich mich spätestens am frühen Nachmittag kaum noch wehren konnte. Bereits Stunden vor dem Ende machten sich die Ersten klammheimlich davon – mit einer fadenscheinigen Ausrede, aber immerhin mit Bescheinigung, dass sie angeblich acht Stunden brav zugehört hatten.
Seither interessierte ich mich nicht länger für Seminarbetreuung, sondern für Strafrecht.

Abseits aller Klischees zeigt diese Anekdote etwas Wesentliches auf: Strafverteidiger sind anders. Anders als andere Menschen, aber auch anders als andere Anwälte. Und das liegt nicht an den Fällen, mit denen sie zu tun haben. Auch in anderen Rechtsgebieten stehen Menschen am Abgrund: Der Familienvater, der zum Krüppel gefahren wird, der Häuslebauer, dessen Bauträger mit der Kohle durchbrennt, die Eheleute, die sich eine bittere Scheidungsschlacht liefern – es gäbe noch reichlich Beispiele.
Was den Beruf des Strafverteidigers von anderen unterscheidet, scheint mir nicht das Schicksal des Mandanten zu sein. Viel eher ist es der Gegner, dem man ständig gegenübertritt, nämlich der Staatsmacht, die im Bereich der Strafverfolgung sich für keinen miesen Trick zu schade ist. Sie kommt nicht nur mit einer immensen personellen und technischen Ausstattung daher, auch ihre Rechte gehen weit über das hinaus, was der Laie sich vorstellen kann. Heimlichkeit ist ihr Wesen, verdeckt sind ihre Methoden, rücksichtslos ihr Vorgehen. So muss das wohl sein, denn es geht um Verbrechensaufklärung. Da sind andere Kaliber tätig, als in der deutschen Durchschnittsbehörde, über die der Bürger so gerne Beamtenwitze erzählt.

Ich bin davon überzeugt, dass diese ständige Befassung mit Verhör und Festnahme, Überwachung, Durchsuchung und Haft die berufsmäßig daran Beteiligten verändert, sich gewissermaßen in die Gene einprägt. Und daraus entsteht dann eine Denkweise, die Außenstehenden vielleicht übertrieben erscheinen mag, eben ein professioneller Umgang mit dem Strafverfahren. »Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend«, sagt der Verteidiger, wenn die Polizei auf ihre kriminalistische Erfahrung verweist. »Wer sagt das?«, fragt er. »Wo steht das? Warum sollte es gerade so sein und nicht anders?« Immerfort ist er der lästige Quälgeist, der einfach nicht akzeptieren will, was doch unangefochten einhellige Meinung ist. Der Zweifel ist seine Waffe, das genaue Hinschauen und Hinterfragen sein täglich Brot.
Tatsachenverdrehung, Verharmlosung und zwielichtige Nähe zu ihrer Klientel wirft man den Anwälten gerne vor, die aus der Untersuchungshaft wieder herausboxen, wen die Polizei so mühevoll hineingebracht hat. Liegt es da nicht nahe, dass solche Leute auch die Geltung von Gesetzen eher kritisch sehen, auch Verbote nicht akzeptieren oder sie geschickt umgehen?

Und damit sind wir beim Thema dieses Beitrages, bei der Rechtstreue, der Frage, warum manche Menschen das Gesetz brechen.

Wenn Politiker davon reden, etwas zu verbieten, dann erhoffen sie sich davon ernsthaft, ein von ihnen als unerwünscht erkanntes Verhalten werde künftig nicht mehr stattfinden. Dass Mord verboten ist, soll in ihrer Idealwelt bewirken, dass keiner mehr andere tötet. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass Morde weiterhin geschehen und sich auch gar nicht verhindern lassen. Sie werden lediglich sanktioniert, mit einer Strafe bedroht, die im Extremfall auch lebenslang vollstreckt wird.
Ein Verbot bewirkt also nicht, dass das verbotene Tun unterlassen wird. Es regelt lediglich, welche Sanktion dafür zu erwarten ist. Wenn etwas verboten ist, bedeutet dies darum prinzipiell nicht, dass man es nicht tun darf, sondern nur dass man, wenn man es tut, mit Konsequenzen rechnen muss.
Hat man dies erst verstanden, liegt es nahe, Gesetzesübertretungen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Was bringt es mir, was schadet es mir? Der erste Schritt zum Rechtsbruch ist gegangen.

Als weitere Überlegung tritt dann hinzu die Magna Charta des Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. Bevor die Sanktion greift, muss der Staat erst einmal beweisen, dass sein Verbot missachtet wurde. Dabei unterliegt er Regeln, insbesondere Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Das Verbot ist also nur dann von Bedeutung, wenn der Verstoß dagegen mit rechtsstaatlichen Methoden nachweisbar ist. Gelingt dies nicht, läuft der Mörder weiter frei herum. Dieses Wissen ist der zweite Schritt zum Rechtsbruch.

Vergegenwärtigt man sich nun auch noch, dass vorgenannte Regeln zum Nachweis eines Verstoßes bisweilen sehr kompliziert sind und obendrein auch in Gerichtsverfahren überprüfbar, bekommt der Verstoß gegen Verbote etwas Sportliches. Das Risiko ist kalkulierbar, die Nachweispflicht liegt bei den Strafverfolgern, für die im gerichtlichen Verfahren nicht wenige Fußangeln lauern. Da könnte man es doch durchaus mal versuchen …
Dreier einfacher Überlegungen bedarf es also nur und schon verliert das Verbot seinen Schrecken.
Trotzdem ist es nicht mein Hobby, nach Feierabend am perfekten Verbrechen zu tüfteln, nur weil ich weiß, worauf man achten muss. Der tägliche Umgang mit dem Strafrecht führt eher dazu, dass man besonders penibel darauf achtet, wo die Grenze des Erlaubten überschritten wird. Strafverteidiger werden permanent bedroht von Strafvorschriften, die andere Anwälte zuletzt im Studium gehört haben: Strafvereitelung, Geldwäsche, Falschaussage, falsche Verdächtigung, das Ganze dann auch noch in der Form der Teilnahme, was im Klartext bedeutet, dass man vorgeworfen bekommt, anderen bei deren Taten geholfen, oder sie sogar dazu angestiftet zu haben. Es besteht also wahrlich kein Grund, die Rechtstreue insbesondere des Strafverteidigers zu bezweifeln. Schließlich kennt er das Risiko besser als jeder andere.

Und was war jetzt mit dem kalkulierbaren Risiko, dem Dreisprung zum erfolgreichen Rechtsbruch? Derjenige, der so denkt, bist Du, geneigter Leser, beispielsweise wenn Du wieder einmal am Steuer Deines Wagens mit dem Handy telefonierst oder Schlimmeres planst. Für Dich wirken die oben getätigten drei einfachen Überlegungen verführerisch. Ich rate dringend davon ab.

Fehlurteil

Fehlurteil

Das Fehlurteil ist die hässlichste Fratze, die ein Rechtsstaat seinen Untertanen zeigen kann. In meinem Roman „Rheingold! Reines Gold“ habe ich die Entstehung eines der schockierendsten Fehlurteile in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte – mit einem Schuss dichterischer Freiheit – kurz nacherzählt.

»Im Oktober des Jahres 2001 verschwand der Bauer Rudolf Rupp spurlos von einem bayerischen Bauernhof. Seine Familie – eine Frau und zwei Töchte -, bestand, so wird berichtet, nicht unbedingt aus Geistesgrößen. Es soll sich um eher einfach strukturierte Personen gehandelt haben. Ehefrau und Töchter, seiner täglichen Misshandlungen schon lange überdrüssig, waren über das Ausbleiben des Bauern nicht sonderlich traurig. Ganz anders die Polizei.

Ein Vermisstenfall ist eine Akte, plötzliches Verschwinden aber kein ausreichender Grund, die Akte zu schließen. Da Beamte es einfach nicht mögen, wenn eine Akte nicht ordentlich abgeschlossen wird, musste eine Erklärung her.

Nun sind Polizisten auch nicht schlauer als der Durchschnittsbürger. Wie sollten sie auch, sie sind ja Durchschnittsbürger. Folglich konnten sie das Rätsel um den Verbleib des Bauers Rupp ebenso wenig lösen wie jedermann. Allerdings beherrschen Kriminalisten eine Kunst, der Normalbürger schon deshalb nicht frönen, weil sie nicht wirklich weiterhilft. Wo immer unsere Ordnungshüter an die Grenze ihrer reduzierten Inspiration gelangen, bilden sie nämlich kriminalistische Hypothesen.

Die kriminalistische Hypothese ist die Basis vieler Strafverfahren, insbesondere der ungeklärten. Eine kriminalistische Hypothese ist nicht mehr als eine Theorie, wie etwas gewesen sein könnte. Ein während einer Kaffeerunde entworfenes Konstrukt, eine hoheitliche Märchenstunde, ein Pfeilwurf auf die Dartscheibe aller denkbaren Möglichkeiten. Kriminalistisch hypothetisch ist der Punkt unter Tausenden, den der Pfeil trifft.

Wenn der Kaffee dann erkaltet oder die Dartrunde beendet ist, geschehen auf deutschen Polizeistationen seltsame Dinge. Die vorher noch so drängende Frage nach der Wahrheit wird jetzt hektisch in den Müll gestampft. An ihre Stelle tritt die kriminalistische Hypothese als künftig alleingültige Wirklichkeit. Von Belang sind fortan ausschließlich solche Beweise, welche die Hypothese stützen. Zweifel oder kritische Fragen gelten als tabu.

Im Falle des Bauern Rupp war die kriminalistische Hypothese bald gestrickt und lautete folgendermaßen: Ehefrau und Tochter haben den Bauern ermordet, zerstückelt und dann an die Hunde auf dem Hof verfüttert.

Der Vorteil dieser Hypothese liegt auf der Hand. Nicht nur das Verschwinden des Bauern ließ sich so aufklären. Es gab obendrein auch gleich noch eine plausible Erklärung dafür, warum der Bauer keine Spuren hinterlassen hatte. Zusätzlich lieferte die Theorie sogar Täter, die für die Tat verurteilt werden konnten. Alle Probleme der lästigen Vermisstenakte schienen im Handumdrehen gelöst.

Die Kriminalbeamten dürften ordentlich gefeiert haben. Wieder und wieder diskutierten sie ihre kriminalistische Hypothese. Keiner fand einen Fehler. Bis einem auffiel, dass eine Tochter des Bauern Rupp bereits verlobt war. Schlagartig rutschte die Stimmung in den Keller. Das konnte gefährlich werden.

Verlobte müssen nicht aussagen. Man konnte den Mann also nicht vor dem Prozess durch die Mangel drehen. Sie können jedoch aussagen, wenn sie wollen. Was dies bedeutete, war den erfahrenen Kriminalisten umgehend klar. Verlobte sagen immer nur zugunsten der möglichen Täter aus, wobei sie sich meistens als Alibizeuge anbieten. Die Stimmung auf der Wache wurde immer deprimierter. Einen Alibizeugen konnte man nicht gebrauchen.

Wahrscheinlich war es der Älteste unter den Polizisten oder der Erfahrenste, auf jeden Fall einer, der sich schon in manchem ungeklärtem Fall bewährt hatte. Dem kam der rettende Gedanke.

»Wisst ihr was, Leute? Wir beschuldigen den Verlobten einfach mit. Wenn er an der Tat beteiligt war, dann kann er kein Zeuge sein, schon gar kein Alibizeuge.«

Gesagt, getan. Die kriminalistische Hypothese wurde leicht modifiziert, dann ging es an die Beweisführung.

Minderbemittelte Beschuldigte sind keine wirklichen Gegner für die Ermittler eines Morddezernats. Sie lassen sich durch entsprechenden psychischen Druck beliebig biegen. Es bedurfte nur eines ausgedehnten Dauerverhörs, geringfügigen Schlafentzugs, sanfter Brüllerei im Verhörzimmer. All die Methoden, von denen die Kriminalpolizei ständig behauptet, es gäbe sie gar nicht. Am Ende unterschrieben alle das Geständnis.

Ein Zeuge beschwerte sich hinterher, man habe ihn mit der Pistole an der Schläfe zur Aussage gezwungen. Sogar an den genauen Wortlaut konnte er sich erinnern: »Es geht schließlich um Mord, da dürfen wir alles.«

Wer nun denkt, die Staatsanwaltschaft habe nach Bekanntwerden dieser Vorwürfe gegen den Polizisten ermittelt, hat immer noch nicht verstanden, wie so etwas hierzulande läuft. Selbstverständlich wurde der Zeuge angeklagt, und zwar wegen einer angeblichen Falschaussage.

Aber zurück zum Fall des Bauern Rupp: Die Anklage wegen Totschlags war nach derartigen Geständnissen reine Routine. Verteidiger warteten zwar im Prozess noch mit dem Widerruf der Geständnisse auf, aber die zuständige Staatsanwaltschaft blieb unbeirrbar. Schließlich hatte die Polizei eine kriminalistische Hypothese gebildet. Diese war durch die Vernehmungen in allen Punkten bestätigt worden. Wer sollte da noch Zweifel hegen?

Gott sei Dank gibt es auch in Bayern noch unabhängige Richter, denen die These vom Zerstückeln des Bauern Rupp eher seltsam vorkam. Wieso hatten denn nirgendwo Spuren eines solchen Gemetzels gesichert werden können. Und wo war das Auto des Bauern, immerhin ein Mercedes? Den konnten doch nicht auch noch die Hunde gefressen haben.

Das Gericht war aufrichtig bemüht, die Lücke in der Beweiskette persönlich zu schließen. Schon nach kurzer Beratung gelang das ewige Werk: Bauer Rupp wurde eben nicht nur an Hunde verfüttert, die zumindest Knochen übrig gelassen hätten, sondern auch an die Schweine des Hofes. Dies erkläre das Fehlen jeglicher Spuren. Und was das verschwundene Auto betraf, so lässt sich ein bayerischer Richter dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Der Mercedes wurde in einer Schrottpresse beseitigt, befand die Strafkammer. Gerade so, als habe jeder eine Schrottpresse zu Hause. Einen ganzen Mercedes verdauen die locker.

Der Vorsitzende fand in seiner Urteilsbegründung dramatische Worte, faselte von einer »schrecklichen Tat«, die er glücklicherweise habe aufklären können. Für ihn ergab sich „ein deutliches und im Wesentlichen übereinstimmendes Bild, so  dass an der Wahrheit nicht zu zweifeln ist.“ Die widerrufenen Geständnisse der Angeklagten beirrten ihn mitnichten, denn »dass die grausigen Schilderungen nur ausgedacht worden seien, kann wohl niemand ernsthaft glauben“. Also sprach Justitia und nahm Ehefrau nebst Verlobtem der Tochter für lange Jahre barmherzig in ihre Haftanstalten auf. Die Töchter selbst wurden zu Jugendstrafen verurteilt. Die ganze Brut verschwand hinter Gittern.

Im März 2009 wurde in der Nähe des Bauernhofes Rupp ein Stausee abgelassen. Auf dem Grund des Sees fanden Ermittler den Mercedes des Bauern Rupp mitsamt seiner skelettierten Leiche. Die Mär vom Verfüttern an Hunde oder Schweine war widerlegt.

Die Todesursache konnte nach Jahren im Wasser nicht sicher bestimmt werden. Zumindest hatte aber niemand dem Bauern seinen Schädel eingeschlagen, was das Gericht im Prozess gegen die Angehörigen doch gerade zweifelsfrei festgestellt haben wollte. Nun hatte die Justiz ein Problem.

Ein Skelett, das im Wasser liegt, kann nicht von Schweinen auf dem Hof gefressen worden sein, würde Otto Normalverbraucher behaupten. Nicht anders dachte ein mutiger Strafverteidiger, der umgehend die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragte. Doch so einfach verzichtet der Staat nicht auf den Rechtsfrieden, den er mit seinen Urteilen angeblich herstellt.

»Es ziemt dem Untertanen nicht, an die Handlungen des Staatsoberhaupts den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen«, hatte der preußische Minister Gustav von Rochow im Jahre 1838 dem Volke diktiert. Staatsanwaltschaft und Landgericht in Landshut müssen diesen Erlass gekannt haben. Mit vereinten Kräften wiesen sie den Wiederaufnahmeantrag ab und gaben dem Verteidiger schriftlich, wie das seit langem rechtskräftige Urteil zu verstehen sei: Die Ehefrau und der Verlobte der Tochter wurden deshalb verurteilt, weil sie den Bauern Rupp umgebracht haben. Zweifel an dieser Erkenntnis seien nicht angebracht, denn das Skelett im See beweise doch eindeutig, dass Bauer Rupp nicht mehr unter den Lebenden weile. Ob er zusätzlich auch noch an Hunde oder gar Schweine verfüttert wurde, sei völlig egal. Denn auch ein ertrunkener Bauer sei ein toter Bauer. Dafür müssten die Verurteilten sitzen. Es gebe daher, so das Landgericht Landshut mit messerscharfer juristischer Logik, überhaupt keinen Grund, ein rechtskräftiges Urteil anzuzweifeln. Wiederaufnahme abgelehnt.

Letztlich verhalf die zweite Instanz dem so gescholtenen Verteidiger glücklicherweise dennoch zu einem Wiederaufnahmeverfahren. Bis Ehefrau und Verlobter der Tochter aber endlich freigesprochen waren, hatten sie ihre zu Unrecht verhängte Haftstrafe längst abgesessen. Die Töchter waren nach Verbüßung ihrer etwas kürzeren Jugendstrafen ohnehin schon wieder auf freiem Fuß.“

Befangenheit

Was bedeutet eigentlich „Befangenheit“?

Haben Sie schonmal einen Richter wegen Befangenheit abgelehnt?“, fragen Mandanten bisweilen vor einem Prozess. „Noch nie!“, antworte ich dann, was sie umgehend an der Qualifikation ihres Verteidigers zweifeln lässt. „Aber falls mein Richter befangen ist …“, haken sie dann hoffnungsfroh nach, nur um von mir zu erfahren: „Es interessiert mich nicht, ob Richter befangen sind.“ Danach herrscht betrübtes Schweigen. Das müssen Mandanten erst mal verdauen. Hat der Anwalt vielleicht keine Ahnung?

Doch, hat er, darum weiß er, dass es nie darauf ankommt, ob ein Richter befangen ist. Der Gesetzgeber hat darauf geachtet, dass bei derartigen Scharmützeln niemand sein Gesicht verlieren muss. Darum verlangt er nur die „Besorgnis der Befangenheit“, um Richter ablehnen zu können. Es genügt also das „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit“. Ob der Betreffende wirklich voreingenommen ist, wird nie entschieden.

Was entschieden wird, ist die Frage, ob dieses Misstrauen des Mandanten zu Recht besteht. Es muss nämlich nach den Maßstäben eines »besonnenen Dritten« gegeben sein, nicht nur rein subjektiv. Mit anderen Worten: Nur wenn jeder Andere auch an der Unparteilichkeit des Richters zweifeln würde, werden die Bedenken des konkreten Mandanten vom Gericht ernst genommen. Ob nun tatsächlich jeder Andere diese Zweifel ebenfalls hätte, lässt sich eigentlich nur durch eine Meinungsumfrage feststellen. So weit kommt es aber nicht, denn das entscheiden einfach andere Richter, die selbstverständlich viel besser beurteilen können, ob der Angeklagte zu Recht an der Unparteilichkeit eines Richters zweifelt, der ihm kurz nach Prozessbeginn androht: »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«

Um den Hintergrund solcher Äußerungen besser verstehen zu können, holen die zur Entscheidung über den Ablehnungsantrag berufenen Richter von dem abgelehnten Richter eine »dienstliche Stellungnahme« ein. Nach einer Volksweisheit wird ja nirgendwo so viel gelogen wie bei Gericht. Der Gesetzgeber täte deshalb gut daran, für diese dienstlichen Stellungnahmen den Anwaltszwang einzuführen, denn es ist bisweilen lächerlich und absurd, wie manche Richter unter Verdrehung aller Tatsachen sich zu rechtfertigen versuchen. Zum Glück nur wenige.

Nach der dienstlichen Stellungnahme entscheiden die Kollegen des abgelehnten Richters. Die sind streng, sehr streng – allerdings nur, wenn der abgelehnte Richter ein Schöffe ist. Die armen Schöffen dürfen noch nicht einmal während stundenlanger Sitzungen schnell per SMS regeln, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Sie dürfen auch nicht in einer Verhandlung am 6.12. dem Staatsanwalt einen Schokoladennikolaus schenken. Alles Gründe, um den Prozess sofort abzubrechen und den Schöffen abzuschießen.

Ist der abgelehnte Richter hingegen ein Berufsrichter, kann er auf großzügigere Maßstäbe bei seinen Kollegen hoffen. Wenn eine Richterin mit dem Opfer einer Körperverletzung enge persönliche Beziehungen pflegt und sich regelmäßig mit ihm zum Mittagessen trifft, muss das für den Angeklagten, der den Mann brutal zusammengeschlagen haben soll, noch lange kein Grund sein, an der Unvoreingenommenheit dieser Richterin zu zweifeln. Richter können doch privat und dienstlich problemlos trennen. Wo kämen wir hin, wenn jeder daran zweifeln dürfte?

Allerdings gibt es ja noch die Revision. Das Revisionsgericht prüft auf entsprechenden Antrag nochmals nach, ob das Verhalten des abgelehnten Richters tatsächlich so unbefangen war. Seltsamerweise kommen die Revisionsgerichte oft zu ganz anderen Wertungen, als die Kollegen vom Gericht des abgelehnten Richters.

Konsequenz: Weil ein Richter, der schon am ersten Verhandlungstag wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, trotzdem weitermachen durfte, wird noch 20 Tage oder länger weiterverhandelt, der Angeklagte auch verurteilt und erst vom Revisionsgericht festgestellt, dass dieser Prozess so nie hätte stattfinden dürfen.

Und darum beginnt das ganze Verfahren dann von vorne, der Angeklagte steht wieder mit seinem Verteidiger vor der Türe, doch dieses Mal fragt er: »Würden Sie einen Richter auch ablehnen, wenn Sie besorgt sind, dass er befangen ist?« – »Nein«, antworte ich dann. »Es kommt nicht darauf an, ob der Verteidiger wegen der möglichen Befangenheit eines Richters besorgt ist.«

Strafprozess ist eben kompliziert.

Honorarvereinbarung

Warum schließen Verteidiger eigentlich „Honorarvereinbarungen“ ab?

Gestern habe ich eine Revisionsbegründung fertiggestellt. Das gesetzliche Honorar dafür beträgt mindestens 120,.- EUR und höchstens 1.110,- EUR. Für einen einzigen Brief! Nicht schlecht – könnte man denken. Schauen wir also mal genauer hin:

Mein Mandant hat von einem Landgericht 5 Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Für schweren Menschenhandel, dirigierende Zuhälterei, Vergewaltigung und diverse andere Ungezogenheiten. Die Hauptverhandlung dauerte 16 Tage. Um meine Arbeit (Begründung der Revision) zu erledigen, habe ich ein 133 Seiten starkes Urteil, 387 Seiten Sitzungsprotokoll und genau einen Monat Zeit. Diese Frist ist nicht verlängerbar.

Zunächst analysiere ich die 133 Seiten Urteil ganz exakt, mehrfach, zigfach, immer wieder.
Gleich am Anfang geht es los: Das Gericht hat sich über die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten – also seine Finanzen – anhand seiner Bankunterlagen ein Bild gemacht. Also blättere ich die 387 Seiten Protokoll durch, was dazu vermerkt ist. Wurden die Bankordner nur „zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht“ oder wurden sie „vom Gericht in Augenschein genommen“? Beides würde nicht ausreichen, aber laut Protokoll wurden die Kontoauszüge „verlesen“. Diese Spur führt mich also nicht weiter, darum beginne ich  wieder von vorne. Urteil lesen, Protokoll lesen, mehrfach, zigfach, immer wieder.

Dann die nächste Fährte: Am 8. Verhandlungstag war der Protokollführer erkrankt. Er wurde durch einen anderen Justizbeamten ersetzt. Ganz am Ende des Prozesses, wenn das Protokoll unterschrieben wird, war der Ersatzman aber nicht beteiligt. Das wird zu Problemen für die Justiz führen! Allerdings nur deshalb, weil ein Anwalt weiß, worauf er achten muss und wie er mit einem solchen Fehler umzugehen hat. Du, geneigter Leser, wirst Dir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können, dass eine fehlende Unterschrift überhaupt eine Rolle spielt. Denn Du verwendest nicht jeden Tag einen Teil Deiner Zeit zur Fortbildung – schon lange bevor die konkrete Revisionsbegründung beginnt.

Der Mandant liefert natürlich auch Hinweise: Er erinnert sich genau, dass alle Zeugen sein Auto als blaues Auto beschrieben haben, obwohl der Täter nachweislich ein rotes Auto fuhr. Im Urteil wird aber fälschlicherweise behauptet, das Auto des Mandanten sei rot gewesen. Außerdem hatte der Täter laut Urteil eine Glatze, mein Mandant aber lange Haare. „Interessant“, sage ich dazu, was die höfliche Variante von „Interessiert mich nicht, weil es keine Rolle spielt“ ist.

Adressat meiner Revisionsbegründung ist letztlich der Bundesgerichtshof (BGH), das höchste deutsche Strafgericht. Dort werden demnächst 5 Berufsrichter über die Revision entscheiden, und zwar auf der Basis dessen, was das Landgericht als Sachverhalt festgestellt hat. Ob diese Feststellungen richtig oder falsch sind, interessiert die Damen und Herren am BGH nicht. Es sei denn, das Landgericht hätte in sein Urteil geschrieben:  „Das Wasser floss den Berg hinauf, wo es bei hoch-sommerlichen Temperaturen zu Eis gefror.“ Das nennt man dann einen „Verstoß gegen die Denkgesetze“ und führt zur Aufhebung des Urteils. Solange das Landgericht nur Rot und Blau verwechselt und Langhaarigen eine Glatze attestiert, muss der Verurteilte eben damit leben. Im Knast kann er ja 5 Jahre darüber nachdenken.

Habe ich alle Fehler gefunden (hoffentlich nicht die entscheidenden übersehen), müssen diese in einer ganz bestimmten Form zu Papier gebracht werden. BGH-Richter gehen an eine Revisionsbegründung heran wie der Bömmel aus der Feuerzangenbowle an die Dampfmaschine: „Da stelle mehr uns janz dumm.

Hat das Landgericht den entscheidenen Alibi-Zeugen einfach nicht geladen, obwohl dies dutzendfach beantragt wurde, mag dem Laien dies fehlerhaft erscheinen. Dem BGH muss man aber zusätzlich noch erklären, was dieser Zeuge voraussichtlich ausgesagt hätte und warum das Urteil dann anders ausgefallen wäre. An diesen Formalien scheitern die meisten Revisionen. BGH-Richter erklären bei Fortbildungsveranstaltungen ungerührt, wie sie Fehler im Urteil zweifelsfrei erkannt haben. Es hat sie aber nicht interessiert, weil der Anwalt den Fehler nicht formvollendet gerügt hat.
Macht ja nix, geht ja nur um 5 Jahre Haft.

Wenn die Revisionsbegründung fertig ist, hat man Tage und Nächte mit dem Urteil und dem Protokoll verbracht. Für einen einzigen Brief? Ich habe es mir abgewöhnt, die Stunden zu zählen, denn sonst müsste ich wohl ernsthaft darüber nachdenken, ob mir der gesetzliche Mindestlohn gezahlt wird.

Das anwaltliche Honorar, welches heute mein Thema ist, wird zwar auch danach bemessen, welche Bedeutung eine Sache für den Mandanten hat. Aber was heißt das konkret? In dem einen Monat, der ihm für die Revisionsbegründung bleibt, trägt der Anwalt die volle Verantwortung dafür, ob sein Klient möglicherweise für 5 Jahre ins Gefängnis geschickt wird. Klingt schwer nach Höchstgebühr.
Es gibt aber nicht nur 5 Jahre, sondern auch noch 10 oder 15 oder lebenslang. Kommt es zum Streit über das Honorar, ist darum meistens schon fraglich, ob der Verteidiger mit seiner Revisionsbegründung überhaupt die Oberkante des Gebührenrahmens touchiert hat. Darüber hinaus gekommen ist er dann sicher nicht. Denn über die Latte segeln nur Stabhochspringer.

Genau darum ist es schlichtweg ein Gebot der Fairness gegenüber seinem Strafverteidiger, eine kostendeckende Vergütung mit ihm zu vereinbaren, bevor er mit der Arbeit beginnt. So erkläre ich das auch meinen Mananten.

Die verstanden haben, einigen sich dann mit mir auf ein angemessenes Honorar. Die nicht verstanden haben, denken über Maßnahmen zur Kostenreduzierung nach und bieten mir an, zunächst einmal einen eigenen Entwurf zu fertigen, damit ich es leichter habe.

Das sind dann die Fälle, wo ich leider das Mandat beenden muss.

Lebenslang

Wie lange ist eigentlich „lebenslang“?

James Eagan Holmes müsste eigentlich im Guiness-Buch der Rekorde stehen. Tut er zwar nicht, aber er hat noch viel Zeit, auf Neuauflagen zu warten. Sein Urteil lautet nämlich auf 12 Mal lebenslänglich plus zusätzlich 3.318 Jahre Haft. Ich habe zwar den Prozess nicht verfolgt, stelle mir aber gerade vor, wie der Staatsanwalt auf 13 Mal lebenslänglich plus 3.500 Jahre plädiert und der Verteidiger das Gericht um 1 Leben plus 182 Jahre runterschwätzt. Anschließend fragt er seinen Mandanten voller Stolz auf seine Leistung: »Na, wie war ich?«

Ein solcher Erfolg bliebe ihm bei der deutschen Justiz versagt, denn das Urteil gegen Holmes wurde in den USA gefällt. In Deutschland hätte das Gericht den Staatsanwalt verwundert angeschaut. Denn bei uns steht im Gesetz: »Das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe ist fünfzehn Jahre.« 20 Jahre oder 25 oder 100 und mehr könnten demnach also nicht verhängt werden.

Die ersten Kommentatoren greifen jetzt schon in die Tasten, um mich zu belehren, dass es auch »lebenslänglich« gibt. Dazu komme ich aber erst später, hier geht es zunächst um die »zeitige« Freiheitsstrafe.

Manche Straftäter werden bekanntlich mehrfach straffällig. Die naheliegende Frage ist dann, ob die 15-Jahres-Grenze pro Tat gilt oder eine Obergrenze für alle Taten zusammen bildet. Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Grundsätzlich kennt das Strafrecht den Mengenrabatt, der im Juristendeutsch »Gesamtstrafe« heißt. Stellen wir uns einen Täter vor, der jeweils zum Monatsersten seinen Hartz-4-Regelsatz durch einen schweren Raub aufbessert, für den er bis zu 5 Jahre pro Einzelfall bekommen müsste. Kurz vor Weihnachten wird er erstmals verurteilt, weil man ihm die Raubüberfälle im ersten Halbjahr zwischenzeitlich nachweisen konnte. Unser Räuber bekommt dann nicht 6 x 5 Jahre, sondern es wird eine Gesamtstrafe gebildet, die maximal 15 Jahre betragen darf.

Immerhin reicht es für eine Zelle in der nächsten JVA, wo unserer Räuber dann ganz entspannt abwarten darf, ob man ihm die Raubüberfälle im zweiten Halbjahr auch noch nachweisen kann. Im Ergebnis kann ihm das nämlich egal sein. Zwar wird man ihn ein zweites Mal vor Gericht stellen. Er bekommt aber nicht bis zu 6 x 5 Jahre dazu, auch nicht 1 x 15 Jahre obendrauf, sondern es gilt weiterhin die Obergrenze von 15 Jahren für alle Taten zusammen. Nach dem Urteil wird er dann wahrscheinlich sagen: »Verbrechen lohnt sich doch.«

Nun ist der Hartz-4-Regelsatz angeblich knapp bemessen. Stellen wir uns darum einmal vor, auch das Zusatzeinkommen unseres Räubers hätte nicht bis zum nächsten Monatsersten gereicht, weshalb er in der glühenden Julihitze seinen Durst löschen musste, indem er eine Dose Bier für 39 Cent aus einem Laden mitgehen ließ. Auch diese Akte landet irgendwann bei einem Staatsanwalt, allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Räuber schon wegen der Raubüberfälle im ersten Halbjahr inhaftiert ist. Weil unsere Staatsanwälte aber fleißig sind, klagen sie auch diesen Ladendiebstahl noch an.

Nun hat unser Räuber Grund zu zittern!

Der Diebstahl einer Bierdose lag nämlich genau zwischen dem ersten und dem zweiten Halbjahr. Der Trick mit der Gesamtstrafe von maximal 15 Jahren funktioniert nun nicht mehr. Das Gericht wird vielmehr aus den ersten 6 Raubüberfällen und dem Bierdosendiebstahl eine Gesamtstrafe bilden, die – mittlerweile dürfte es jeder kapiert haben – 15 Jahre nicht überschreiten darf. Die Raubüberfälle im zweiten Halbjahr können nun aber nicht mehr in die Gesamtstrafe einbezogen werden. Unser Räuber bekommt also für das zweite Halbjahr zwar nicht 6 x 5 Jahre, aber eine zusätzliche Strafe von maximal 15 Jahren.

Im Endeffekt könnte er sich also 30 Jahre einfangen. Er darf sich dann neben James Eagan Holmes für einen Eintrag im Guiness-Buch bewerben, und zwar in der Sparte »Teuerste Bierdose aller Zeiten.«

Von einer 30jährigen Haft ist es nun kein großer Sprung mehr zur lebenslangen Freiheitsstrafe. Die gibt es tatsächlich und der Volksmund glaubt zu wissen, dass es sie nur für Mord gibt. Stimmt leider nur fast, denn das Gesetz kennt auch einen besonders schweren Fall des Totschlags. Der wird ebenfalls mit lebenslang bestraft. Außerdem gibt es Taten »mit Todesfolge«. Wenn das Opfer einer Vergewaltigung oder eines Raubes zwar nicht bei der Tat getötet wird, aber durch die Folgen der Tat stirbt, droht dem Täter lebenslang.

Lebenslang heißt – lebenslang! Wenn die Presse von einer lebenslänglichen Verurteilung berichtet, gibt es immer irgendwo einen, der sich damit auskennt und prophezeit, dass der Verurteilte »in 15 Jahren wieder draußen« sei. Ganz so einfach ist dies nicht. Es wird lediglich nach 15 Jahren erstmals geprüft, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dies ist aber kein Selbstläufer. Oftmals fehlt es an der Prognose, dass der Häftling sich bewähren werde. Dann muss er eben nachsitzen.

Obendrein – wir sind hier schließlich in Deutschland – hat der Häftling auch einen Anspruch darauf, dass seine lebenslange Freiheitsstrafe ordnungsgemäß vollstreckt wird. Wenn die Justiz ihn nach 15 Jahren einfach rausschmeißen will, darf er darauf bestehen, weiter drin zu bleiben. Ich hatte Anfang der 1990er Jahre mal mit einem Gefangenen zu tun, der Mitte der 1960er Jahre inhaftiert worden war. Er hatte also das Leben in Freiheit verloren zu einer Zeit, als der Schwarzweiß-Fernseher für seine Mitbürger die Krone des technischen Fortschritts war. Bereits die Mondlandung hatte er im Knast miterlebt, ebenso alles, was danach folgte. Das Leben »dort draußen« macht ihm Angst. Er wollte sein Gefängnis nicht verlassen und ist später dort auch gestorben. Lebenslang heißt – lebenslang!

Die Möglichkeit, trotz einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe irgendwann auf Bewährung entlassen zu werden, verdanken wir übrigens dem Bundesverfassungsgericht. Das musste sich im Juni 1977 mit der Frage befassen, ob die lebenslange Vollstreckung einer Freiheitsstrafe mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Das BVerfG hat damals viele Gutachten eingeholt und sich in seinem Urteil damit auseinandergesetzt.

Wer etwas über die Auswirkungen einer Langzeithaft erfahren möchte, dem empfehle ich die Lektüre => hier. Für die Eiligen zitiere ich, was dort über den Zustand eines Menschen nach 20 Jahren hinter Gittern gesagt wird:

»Dann beginnt … ein grausames Zerstörungswerk des inneren Lebens durch die abtötende Haft. Das Notwendigste und Beste im Menschen, sein Wille, zum Schlechten, aber auch zum Guten wird langsam, aber sicher gewürgt. Es fehlt die den Menschen »heiligende« Freude. Das Vegetieren beginnt und siegt. Die Gefangenen werden stumpf und gefühllos, Maschinen, endlich Ruinen. Das ist der Nährboden für entstehende geistige Störungen.«

Tatherrschaft

Was bedeutet eigentlich „Tatherrschaft“?

Es wird Blut fließen, viel Blut. Das verdanken wir allein einem einzigen Mann, der von seiner weit entfernten Hauptstadt aus eine andere Stadt zur Hauptstadt des Staates Israel ernannte. Jeder weiß, dass er damit ganze Länder ins Chaos treibt und heftigste Auseinandersetzungen gezielt provoziert. Er tritt bildlich gesprochen eine Lawine los, die über viele Menschen viel Leid bringt. Andere sprechen von einem Flächenbrand, der nun im Nahen Osten zu erwarten sei.

Würde unsereiner im Skiurlaub aus Spaß, aus Dummheit, aus Arroganz oder warum auch immer eine Piste nutzen, vor der jeder warnt und die wegen Lawinengefahr gesperrt ist, würden wir ihn wegen der Lawine, die er auslöst, um friedliche Winterurlauber zuzuschütten, vor Gericht stellen. Nicht anders verfahren wir mit einem, der Streichholz und Benzinkanister einsetzt, um seine Paranoia auszuleben.

Warum muss Donald Trump dann keine Anklage fürchten?

Abgesehen davon, dass für Trump kein deutsches Recht gilt, besteht ein entscheidender Unterschied zwischen seiner Lawine und den Schneemassen im Winter oder der Feuersbrunst des Brandstifters: Schnee denkt nicht. Feuer denkt auch nicht. Ob Trump das tut, wissen wir nicht, darauf kommt es aber nicht an, denn seine Lawine kann denken, sein Flächenbrand auch. Die er provoziert sind Menschen aus Fleisch und Blut. Es steht ihnen völlig frei, ob sie wegen der Hauptstadtfrage sich gegenseitig erschlagen oder unschuldige Dritte. Zumindest theoretisch könnten sie es auch ganz sein lassen – was voraussichtlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden wird. Solange jedoch für vernünftige Menschen noch Alternativen bestehen zum Ausbruch der Gewalt, kann Trump juristisch nicht schuld daran sein, dass es knallt.

Um das auch wirklich zu verstehen, muss man weit ausholen, mehr als eineinhalb tausend Jahre weit. Es waren die frühchristlichen Theologen, die sich bereits in der ausgehenden Antike den Kopf darüber zerbrachen, wieso Gott, der doch von ihnen als in allem perfekt erdacht war, eine derart schlechte Welt mit solch überaus bösen Menschen geschaffen hat. Aurelius Augustinus löste das Problem mit einem genialen Kniff: Er erfand den freien Willen. Der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, so habe es der Schöpfer gewollt, weshalb – in letzter Konsequenz – selbst Auschwitz kein Anlass sein sollte, an der göttlichen Perfektion unserer Welt zu zweifeln. Für solche Ideen wird man als Kirchenlehrer verehrt.

Das Strafrecht hat zwar Gott aus der Gleichung gestrichen, den Gedanken vom freien Willen aber übernommen und zum Fundament der Strafbarkeit ausgebaut. Eigenverantwortliches Handeln unterstellt es dem Menschen und erwartet es von ihm. Ein hehrer Anspruch angesichts manch triebgesteuerter Dumpfbacken. Und ein gutes Beispiel dafür, wie Ideale immer in ihr Gegenteil verdreht werden. Der Staat schätzt den freien Willen seiner Bürger nirgendwo so hoch wie dort, wo er sie bestrafen will. Und er achtet mit seinen Gesetzen immer sorgfältig darauf, dass manche sich ihnen geschickt entziehen können. Darum ist der Täter im Hintergrund fein raus, denn man kann ihn nicht dafür verantwortlich machen, dass andere den Stein werfen, den er zufällig im richtigen Moment aufgehoben hat.

Schlaumeier werden jetzt „Anstiftung“ rufen, aber es kann niemand ernsthaft behaupten, Trump habe irgendeinen Palästinenser direkt dazu aufgefordert, einen Molotow-Cocktail zu schleudern. Er hat es gewusst, erhofft, provoziert – aber eben nicht zu verantworten. Strafjuristen sprechen von fehlender Tatherrschaft und verneigen sich vor der Größe des menschlichen Geistes.

Damit rücken diejenigen in den Blick des Strafrechts, welche die Herrschaft über all die nun bevorstehenden Gewalttaten haben, also die Krawallmacher auf der Straße. Sie kommen in der öffentlichen Diskussion etwas knapp weg. Kommentatoren bejammern lautstark, dass der Mob nun wieder von der Leine gelassen wurde. Aber niemand stellt die Frage, weshalb er eigentlich angeleint sein müsste. Können diese wütenden Demonstranten etwa nicht anders? Haben sie einen Gendefekt, der sie zwingt, Pflastersteine herauszureißen und zu werfen? Oder folgen sie ihrem freien Willen, auch wenn sie „De libero arbitrio“ von Augustinus vermutlich nie gelesen haben?

Würde in der jetzt aufgeheizten Situation einmal nicht populistisch-journalistisch sondern kühl juristisch argumentiert, käme die öffentliche Meinung vielleicht zu einem völlig anderen Ergebnis: Nicht Trump wäre schuld, auch nicht andere politische oder religiöse Führer, die den Konflikt anheizen, sondern der einzelne Wüterich, der vermummt oder offen randaliert. Eine verwirrende Analyse der Situation. Und ein Grund dafür, warum juristischer Sachverstand so ziemlich das Letzte ist, was in einer politischen Diskussion gebraucht wird.

Vor Gericht kannst Du, geneigter Leser, Dich jedoch darauf verlassen, dass politische Erwägungen es Dir nicht ersparen, wegen Deines freien Willens verurteilt zu werden. Die Massenschlägerei vor dem Fußballstadion erscheint nicht in einem milderen Licht, weil Bayern München schon wieder gewonnen hat. Und das Auto, das Du beim G-20-Gipel abgefackelt hast, verzeiht man Dir nicht deshalb, weil der um seine Ersparnisse fürchtende griechische Rentner Deinen heiligen Zorn entfachte.

Strafgerichte sind emotionslos. Dein Kampf für eine gerechtere Welt ist ihnen schon deshalb suspekt, weil Du nicht berufen bist, für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Inquisition

Was ist eigentlich die „Inquisitionsmaxime“?

Hollywood hat uns den Inquisitionsprozess als düsterstes Kapitel des finsteren Mittelalters verkauft. Dabei war er strafprozessual ein echter Fortschritt. Ich hätte keine Lust, die Richtigkeit einer Aussage jedes Mal durch „sechs ehrbarer Männer Eid, denen zu glauben sey“ oder durch Gottesurteile beweisen zu müssen. Mir liegt eher die rationale Beweisführung mit protokolliertem Prozessablauf. Nichts anderes war der Inquisitionsprozess, der in Deutschland vom Spätmittelalter bis etwa zu Goethes Zeiten praktiziert wurde. Danach hat man das Verfahren etwas humanisiert (Abschaffung der Folter), erweitert (Zulassung anderer Beweismittel als Zeugen) und personell aufgepeppt (Erfindung der Staatsanwaltschaft). Schon war unsere heutige Strafprozessordnung geboren, die sich lange Zeit eines gesunden Wuchses erfreute. In letzter Zeit bekommt sie einige hässliche Wucherungen, weil zu viel an ihr herumgedoktert wird. Könnte sein, dass sie allmählich dem Siechtum anheimfällt.

Jedenfalls ist es historisch nicht ganz verkehrt, ihre Wurzeln im alten Inquisitionsprozess zu suchen, weshalb man die Vorgehensweise eines Strafrichters auch heute noch als Inquisitionsmaxime bezeichnet. Darunter versteht man das Prinzip, dass der Richter von Amts wegen alles Erforderliche unternimmt, um die Wahrheit zu erforschen. Das Ergebnis seiner Ermittlungen nennt man dann „materielle Wahrheit“.

Allerdings kann es Dir, geneigter Leser, auch passieren, dass ein Richter einfach sagt: „Interessiert mich doch nicht, was hier wahr ist.“ Dann bist Du in einem Zivilprozess gelandet, wo statt der Inquisitionsmaxime die Verhandlungsmaxime gilt. Wenn dort zwei Streithähne übereinstimmend behaupten, der Schornsteinfeger habe eine weiße Uniform getragen, dann unterstellt der Richter dies eben als wahr und legt es seinem Urteil zugrunde. Man spricht dann von der „formellen Wahrheit“. Die würde mir in manchen Strafprozessen besser gefallen, ist aber bei Staatsanwälten extrem unbeliebt.

Lustig wird es, wenn beide Maximen aufeinandertreffen, also zwei unterschiedliche Gerichte denselben Sachverhalt nach ihren jeweiligen Vorschriften untersuchen. Schlägt der Willi Wüterich dem Hans Halbblind ein Auge aus, landet er wegen der schweren Körperverletzung vor dem Strafgericht und wegen einer Schmerzensgeldforderung vor dem Zivilgericht. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass ein Richter ihn für schuldig befindet, der andere aber für unschuldig und umgekehrt. So ist das mit der Wahrheit im Prozess: Mal ist sie formell, mal materiell, meistens aber falsch.

Darum hat Hollywood noch etwas ganz Besonderes aus dem Hut gezaubert. Dort kennt man nämlich auch „die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.“ Klingt bombastisch, ist aber nur großes Kino. Vor Gericht ist mir die noch nie begegnet.

Denunziantentum

Wie macht man eigentlich eine „anonyme Anzeige“?

„Herr XY und sein Sohn vertreiben Kinderpornographie der übelsten Art. Der Computer ist im Keller versteckt“. So schrieb kürzlich ein Unbekannter an eine bayerische Staatsanwaltschaft. Ein Brief, der die Strafverfolger elektrisierte.

Die zuständige Kriminalpolizei stellte umgehend fest, dass die namentlich benannten Personen tatsächlich existierten. Ein sehr starkes Verdachtsmoment! Wenn einer behauptet, dass Elvis lebt und die Kripo bei ihren Ermittlungen feststellt, dass es einen Elvis zumindest einmal gab, dann spricht viel dafür, dass diese anonyme Anzeige auf wahren Tatsache beruht. Also auf nach Memphis zur Durchsuchung.

Allerdings barg der bayerische Fall ein Problem: Die Wohnadresse war falsch angegeben. Was nun? Die Staatsanwaltschaft entschied sich trotzdem dafür, Durchsuchungsbeschlüsse zu beantragen, was der zuständige Ermittlussgrichter aber ablehnte. Hiergegen richtet sich eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die der Meinung war, das „ihre“ anonyme Anzeige weit über eine gewöhnliche anonyme Anzeige hinausgehe. Schließlich sei ja auch der Standort eines Computers – nämlich „im Keller“ – angegeben worden. Aber auch die Beschwerdekammer des Landgerichts wollte keinen Durchsuchungsbeschluss erlassen. Argument: „Anonyme Anzeigen rechtfertigen in der Regel keinen Anfangsverdacht. Jegliche andere Sichtweise würde dem Denunziantentum Tür und Tor öffnen.“

Wenn Du, geneigter Leser, Deinen Feind mit Erfolg denunzieren willst, dann sollte Dir dieser Fall eine Lehre sein. Was der Anzeigeerstatter nämlich hier versäumte, waren Fakten, die keine Fakten sind, sich aber so anhören als ob. Postfaktische Fakten gewissermaßen.

Willst Du es besser machen, so schreibe beispielsweise: „Der Computer wurde vor zwei Jahren im Media-Markt gekauft.“ oder „Die Eingangstür zum Keller ist knallrot lackiert.“ oder „Der Rechner ist durch ein Passwort gesichert.“ Solche Sätze wirken magisch auf die Ermittler, denn die fragen sich dann: „Woher sollte der anonyme Anzeiger so etwas wissen, wenn es nicht tatsächlich wahr ist?“ Sie können sich der Magie dieser Fakten nicht entziehen. Am besten Du zeigst Dich einmal anonym selbst an und verteidigst Dich dann mit dem Satz: „Meine Kellertür ist aber weiß.“ Dann wirst Du verstehen, was ich meine. Die Polizei wird alle Lackschichten auf der Kellertür abkratzen, nur um etwas Knallrotes zu finden.

Aber Vorsicht: Die postfaktischen Fakten sollten nicht zu präzise sein. Wenn Du in Deine Anzeige den Satz schreibst: „Neulich beim Stromausfall ging der Rechner aus.“ oder „Der Keller hat einen Seitenausgang in den Garten.“, dann verdirbst Du der Strafverfolgung den Spaß. Stromausfälle und Seiteneingänge lassen sich nämlich nachprüfen. So etwas sollte man nur behaupten, wenn es auch stimmt. Besser ist es allemal, möglichst schwurbelig zu bleiben, also nur so zu tun, als könne man Fakten liefern. Dann geht das Ding glatt durch.

Auf keinen Fall solltest Du Fakten erfinden, die Dich enttarnen. „Ich kann immer von gegenüber zuschauen“, wäre prinzipiell eine gute Idee, führt aber möglicherweise zu einer Durchsuchung nicht nur bei Deinem Nachbarn, sondern gleich auch noch bei Dir. Falsche Verdächtigung und üble Nachrede sind nämlich ebenfalls Straftaten und gegenüber von jemandem zu wohnen, der zu Unrecht denunziert wurde, erscheint Ermittlungsrichtern als ziemlich gutes Argument für den Erlass eines entsprechenden Beschlusses.

Du bekommst jetzt langsam ein flaues Gefühl im Magen, nicht wahr? Fragst Dich, ob Du in Deinem my home is my castle auch tatsächlich sicher bist vor unangenehmem Durchsuchungen. Nun, dann habe ich mit diesem Beitrag mein heutiges Ziel erreicht. Ich mag auch keine Denunzianten, wollte aber wenigstens mal gesagt haben, wie dünn das Eis ist, das Dich als Richtervorbehalt vorm Sturz ins eiskalte Wasser schützt.

Beweiswürdigung

Was passiert eigentlich bei der „Beweiswürdigung“?

Von Beweisaufnahmen vor Gericht wissen viele nur Folgendes: Max Mustermann wird als Zeuge aufgerufen, macht eine Aussage und geht. Dann wird Michaela Musterfrau als Zeugin vernommen, behauptet das Gegenteil und geht ebenfalls. Am Ende gibt es ein Urteil, das darüber entscheidet, ob jemand schuldig ist oder nicht. Woher die Gerichte wissen, ob der Mustermann oder die Musterfrau gelogen haben, bleibt im Dunkeln.

Die Kunst, dies zu entscheiden, nennt man Beweiswürdigung. Es ist der geheimnisvollste Teil eines Strafprozesses. Im Fernsehen sieht man nie etwas davon und auch in der Realität findet die Beweiswürdigung hinter verschlossenen Türen statt. Ebenso mysteriös wie der Ablauf der Beweiswürdigung ist die Tatsache, dass es gleich zwei verschiedene Arten davon gibt.

Manchmal steht nämlich Aussage gegen Aussage, es gibt also nur einen vermeintlichen Täter und ein angebliches Opfer. Dies ist häufig aber nicht nur bei Sexualdelikten der Fall, weil diese ja gerne unter vier Augen stattfinden. In solchen Fällen sind die Richter aufgefordert, die belastende Zeugenaussage einer »besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung« zu unterziehen. Erforderlich ist dann eine »sehr sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.« (ständige Rechtsprechung des BGH).

In allen anderen Fällen, wenn es also mehrere Zeugen gibt oder darüber hinaus noch sonstige Beweismittel (Urkunden, Sachverständige usw…), dann gelten diese hohen Anforderungen seltsamerweise nicht. Ob die Gerichte dann nur eine „Beweiswürdigung light“ durchführen, weiß ich nicht. Es bleibt ja geheim.

Für den Normalfall gilt also der Grundsatz: Ob die Musterfrau oder der Mustermann gelogen hat, entscheidet allein das Gericht im stillen Kämmerlein. Und was die Strafkammer eines Landgerichts für die Wahrheit hält, ist und bleibt die Wahrheit. Daran lässt sich nicht mehr rütteln, es gibt keine weitere Instanz, die diese Tatsachenfeststellungen ändern könnte. Zweifelsohne eine der ganz großen Schwachpunkte des Strafprozesses. Versuche, dies zu ändern (etwa durch Tonbandmitschnitte der Hauptverhandlung) werden von interessierter Seite konsequent abgeblockt. Infolgedessen steht über die dreitägige Aussage des Hauptbelastungszeugen (und aller anderen auch) nur ein einziger Satz im Protokoll: Der Zeuge bekundete zur Sache.

Wie kann es aber sein, dass um die Wahrheit so gestritten wird? Gibt es denn mehrere Wahrheiten?

Wenn Du, geneigter Leser, eine Weinstube verlässt, ohne Deinen Riesling zu bezahlen, sieht ein Staatsanwalt darin umgehend eine Zechprellerei. Vielleicht hat aber auch der Wirt zuvor gesagt: »Der geht auf´s Haus.« Oder Du erhieltest einen Anruf, der so dringend war, dass Du in der Hektik das Bezahlen glatt vergaßest. Oder der Wein war so hundsmiserabel und korkschmeckend, dass Du es schlichtweg abgelehnt hast, ihn zu bezahlen, oder … Es gibt vielleicht nicht verschiedene Wahrheiten, aber jede Geschichte hat mehrere Seiten. Die richtige Seite herauszuarbeiten ist, worum es geht und von welcher Seite ein Geschehen zu betrachten ist, lohnt allemal den Streit darum.

Wenn es aber so schwierig ist, die Wahrheit aus lauter unterschiedlichen Schilderungen zu extrahieren, ist dann das Fachpersonal wenigstens besonders darin geschult? Leider muss ich Dich enttäuschen, denn wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema liefern triste Ergebnisse.

Am gefährlichsten ist die Maxime aller Kriminalpolizisten: das Bauchgefühl. Sein Wert entspricht der Wahrscheinlichkeit beim Würfeln. Die Chance, einen Lügner dadurch zu erkennen, ist genauso hoch wie die, einer wahrheitsgemäß aussagenden Person nicht zu glauben.

Richter gelten im Vergleich mit Polizisten als eher objektiv und argumentieren nicht mit dem Bauchgefühl, sondern mit ihrem persönlichen Eindruck von dem Zeugen. Der unterliegt aber nicht minder irrationalen Einflüssen. Vor der Mittagspause neigen sie eher zu Schuldsprüchen als danach. Die Glaubwürdigkeit wird rein intuitiv beurteilt, nach Alltagstheorien oder – so formulierte jüngst ein Richter in einem Fachaufsatz – »nach Begründungsmustern, die wissenschaftlich meist wertlos sind“. So jedenfalls will es die Forschung festgestellt haben und liefert auch gleich eine Statistik dazu. Um 50% liege die Trefferquote bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung. Das entspricht ziemlich genau den Möglichkeiten, die man bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen überhaupt hat: Ja oder Nein.

Der Grund, warum die Strafgerichte ihre Urteile trotzdem nicht auslosen, liegt in einem Umstand begründet, welcher der Vollständigkeit halber zumindest erwähnt werden soll. Die umfassende Beweiswürdigung beinhaltet nämlich zwei Aspekte, zum einen die Glaubhaftigkeit einer Aussage und zum anderen die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Zumindest der erste dieser Aspekte ist einer rationalen Überprüfung durchaus zugänglich. Wer mir erzählt, ohne technische Tricks eine Stunde tauchen zu können, ist genauso unglaubwürdig wie der, der es gesehen haben will. Da ist die Aussage inhaltlich schon falsch, weshalb die Glaubwürdigkeit des Zeugen irrelevant erscheint.

Aber was ist mit den echten Zweifelsfällen, die wirklich als reine Glaubensfrage zu entscheiden sind?

Auch hierzu gibt es Untersuchungen. Sie geben Grund zur Beunruhigung. Professoren haben für so etwas immer beeindruckende Begriffe, sprechen vom Perseveranz-Effekt und der kognitiven Dissonanztheorie, vom Pappenheimer-Syndrom und dem Inertia-Effekt. Gemeint ist etwas ziemlich Einfaches: Legt man dem Gericht eine Akte vor, die zu Beginn immer nur belastendes Material enthält, werden die entlastenden Gesichtspunkte im hinteren Aktenteil kaum noch zur Kenntnis genommen. Wer je eine Strafakte durchgeblättert hat, wird nun wissen, warum sie genau so aufgebaut ist.

Was Presse und Justiz oft beleidigt als »Konfliktverteidigung« diffamieren, ist vor diesem Hintergrund nichts anderes, als der Versuch der Strafverteidigung, auf die Wahrheitsfindung eines sich sakrosankt wähnenden Gerichts irgendwie Einfluss nehmen. Vielleicht führt ja noch ein anderer Zeuge weiter, eventuell bringt der nächste Beweisantrag ans Licht, dass es anders gewesen sein könnte. Es ist ein einsamer Kampf gegen immer höhere Hürden. Aber es ist Deine einzige Chance.

Richterliche Unabhängigkeit

Wie weit geht eigentlich die „richterliche Unabhängigkeit“?

Das Netz ist voll von skurrilen Urteilen. Ich erwähne hier nur mal zwei herausragende Beispiele (mit Quellenangabe, falls es jemand nicht glauben will):

1.) Das Landgericht Stuttgart hat einst verlauten lassen, was es von der Urteilsfindung in oberen und höchsten Gerichten hält:

»Die entsprechende Rechtsprechung des BGH ist für das Gericht obsolet. Beim BGH handelt es sich um ein von Parteibuch-Richtern der gegenwärtigen Bonner Koalition dominierten Tendenzbetrieb, der als verlängerter Arm der Reichen und Mächtigen allzu oft deren Interessen zielfördernd in seine Erwägungen einstellt und dabei nicht davor zurückschreckt, Grundrechte zu mißachten, wie kassierende Rechtsprechung des BVerfG belegt.
Die Rechtsprechung des 9. Senats des OLG Stuttgart ist der des BGH konform, ja noch »bankenfreundlicher«, sie ist von der (wohl CDU-) Vorsitzenden des Senats bestimmt, die der gesellschaftlichen Schicht der Optimaten angehört (Ehemann Arzt) und deren Rechtsansichten evident dem Muster »das gesellschaftliche Sein bestimmt das Rechtsbewußtsein« folgen. Solche Richterinnen haben für »kleine Leute« und deren, auch psychologische, Lebenswirklichkeiten kein Verständnis, sie sind abgehoben, akademisch sozialblind, in ihrem rechtlichen Denken tendieren sie von vornherein darwinistisch. »Banken« gehören für sie zur Nomenklatura, ehrenwerte Institutionen, denen man nicht sittenwidriges Handeln zuordnen kann, ohne das bestehende Ordnungsgefüge zu tangieren. Und immer noch spukt in den Köpfen der Oberrichter das ursprüngliche BGH-Schema herum, daß nämlich die sog. Privatautonomie als Rechtsinstitut von Verfassungsrang die Anwendung des § 138 BGB auf Fälle vorliegender Art verbiete, obwohl doch § 138 BGB die Vertragsfreiheit verfassungskonform limitiert.« (LG Stuttgart · Urteil vom 12. Juni 1996 · Az. 21 O 519/95, abgedruckt hier)

2.) Noch drastischer urteilte das Landgericht Mannheim, welches gleich alle Vorderpfälzer in einen Topf warf:

»Es handelt sich hier um eine Erscheinung, die speziell für den vorderpfälzischen Raum typisch und häufig ist, allerdings bedarf es spezieller landes– und volkskundlicher Erfahrung, um das zu erkennen – Stammesfremde vermögen das zumeist nur, wenn sie seit längerem in unserer Region heimisch sind. Es sind Menschen von, wie man meinen könnte, heiterer Gemütsart und jovialen Umgangsformen, dabei jedoch mit einer geradezu extremen Antriebsarmut, deren chronischer Unfleiß sich naturgemäß erschwerend auf ihr berufliches Fortkommen auswirkt. Da sie jedoch auf ein gewisses träges Wohlleben nicht verzichten können – sie müßten ja dann hart arbeiten –, versuchen sie sich “durchzuwursteln” und bei jeder Gelegenheit durch irgendwelche Tricks Pekuniäres für sich herauszuschlagen. Wehe jedoch, wenn man ihnen dann etwas streitig machen will! Dann tun sie alles, um das einmal Erlangte nicht wieder herausgeben zu müssen, und scheuen auch nicht davor zurück, notfalls jemanden “in die Pfanne zu hauen”, und dies mit dem freundlichsten Gesicht.« (LG Mannheim, Urteil vom 23.01.1997 – (12) 4 Ns 48/96, abgedruckt in NJW 1997, 1995f)

Da fragt sich mancher, ob die sowas dürfen. Die Antwort ist klar: Natürlich dürfen die das, denn Richter sind nur und ausschließlich dem Gesetz unterworfen. Das hat Konsequenzen in einem Land, das nach dem Verbotsprinzip lebt, wo also gilt, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten wurde. Grenzen setzt den Richtern folglich nur das Strafrecht. Beleidigen oder übel nachreden sollte man auch in einem Urteil nicht und irgendwo droht auch noch die Rechtsbeugung. Da urteilen dann Richter über Rechtsverstöße von Richtern – wahrscheinlich der am wenigsten zur Verurteilung führende Tatbestand des ganzen Rechts.

Da wir uns mittlerweile in der Weihnachtszeit befinden, könnte man sich da mal fragen, ob Richter auch über eine jungfräuliche Geburt entscheiden können. Du magst Dich, geneigter Leser, fragen, weshalb dies denn in unserer modernen Welt eine Rolle spielen sollte. Doch in der Juristerei gibt es nichts, das es nicht gibt. Es geschah nämlich tatsächlich in Hessen vor gut zwei Jahrzehnten, dass eine verheiratete Frau ein Kind gebar und selbstverständlich (= als Zeugin vor Gericht) behauptete, der Kindsvater sei ihr Ehemann. Nachdem dies durch Gutachten widerlegt worden war, fiel ihr ein, dass ein „Herr aus Hamburg“ sie mal geküsst hatte, weshalb sie wohl vom Küssen schwanger geworden sein müsse.

Der zuständigen Staatsanwaltschaft reichte dies für eine Anklage wegen uneidlicher Falschaussage, weshalb letztlich ein Strafrichter darüber zu entscheiden hatte, ob Frauen vom Küssen schwanger werden können. Und tatsächlich erinnerte sich der Amtsrichter an die in der Bibel erwähnte unbefleckte Empfängnis, auf der so wörtlich „immerhin die Kulturgeschichte des christlichen Abendlandes zu einem nicht unerheblichen Teil beruht.“ Er entschied folglich, dass der Frau eine Falschaussage nicht nachgewiesen werden könne und ließ die Anklage nicht zu.

Wer das jetzt verrückt findet, möge darüber nachdenken, was die Alternative wäre. Strafrecht ist eine Waffe und es gibt genügend Länder, in denen Strafrichter Instrument der Politik sind. Eine mit dem Segen der Justiz vorgeflunkerte Jungfrauengeburt ist eine Bagatelle gegen die ungezählten Menschen weltweit, die im Namen einer korrumpierten Gerechtigkeit hinter Gittern verrotten.

Rechtssprichwörter

Wozu nutzen eigentlich „Rechtssprichwörter“?

Wenn Juristen vom nemo-tenetur-Grundsatz oder vom venire contra factum proprium reden, tun sie das meistens, weil ihnen die Argumente ausgehen. So richtig im Volk verwurzelt sind diese Grundsätze schon deshalb nicht, weil dort die Lateinkenntnisse bedenklich nachlassen.
Eherne Rechtsprinzipien auf Deutsch sind selten und meistens schon so alt, dass sie fast genauso unverständlich wirken wie eine lateinische Sentenz. „Der Eid macht mündig“ ist so ein schwurbeliger Merksatz, den keiner mehr recht erklären kann. Unbekannt ist auch, warum dem Anderen billig sein soll, was dem Einen recht war. Der Verbraucherschutz hat uns das Prinzip „Augen auf, Kauf ist Kauf“ durchlöchert, darum gilt längst nicht mehr der Handschlag als Ausdruck des „Ein Mann ein Wort“.

Richtig kunterbunt wird es jedoch, wenn den Kindern im Lausbubenalter Strafrecht vermittelt werden soll. „Mitgegangen mitgefangen“ heißt es dann oder auch „mitgegangen mitgehangen“. Beides ist zweifelsohne falsch. Denn wer mitgeht ohne gefangen zu werden, hat Glück. Und wen der Staat nicht fängt, den hängt er auch nicht. Richtig wäre allein: Mitgefangen mitgehangen. Alles andere sind keine Rechtsgrundsätze, sondern lediglich Appelle an den Anstand. „Wenn du dabei warst, dann steh auch dazu“, wollen vorbildliche Eltern damit wohl ausdrücken. Das mag moralisch berechtigt sein, aus der Sicht des Strafverteidigers wäre es eher eine Dummheit.

Wer die Juristerei mit dem Pathos von Sitte und Anstand betreibt, rechtfertigt lediglich mein Lieblingszitat aus der Welt der Gesetze: Das Recht ist nicht für die Dummen da.