Knallzeuge

Was ist eigentlich ein „Knallzeuge“?

Unser Gehirn ist ein seltsames Ding. Es bemüht sich geradezu fanatisch um Ordnung. Das tut es nicht, indem es benutze Kaffeetassen in die Spülmaschine räumt, sondern indem es diesen ein Sinn gibt.

Wenn Du, geneigter Leser, eine benutzte Kaffeetasse siehst, denkst Du sofort, dass irgendjemand Kaffee getrunken haben muss, auch wenn Du den Vorgang an sich nie gesehen hast. Das passiert deshalb, weil Dein Gehirn automatisch eine Erklärung für die benutzte Tasse strickt. Kommt jetzt noch Beate Mustermann hinzu, um die Tasse in besagte Spülmaschine zu räumen, steht für Dich umgehend fest, dass Beate den Kaffee getrunken haben muss. Und wenn Dich dann drei Monate später ein Richter befragt, wirst Du nach bestem Wissen und Gewissen antworten: „Beate hat zuerst Kaffee getrunken und dann ihre Tasse weggeräumt.“ Wahrscheinlich würdest Du auch bedenkenlos einen Eid darauf schwören und damit eiskalt ein Verbrechen begehen. Denn Beate hat den Kaffee nicht getrunken und es war auch nicht ihre Tasse.

Viele denken ja, ihr Gehirn sei der Hort aller Logik und über jede Täuschung erhaben. Dabei kann es trotz seiner vermeintlichen Rationalität noch nicht einmal unterscheiden, ob zwei Fotos identisch sind oder nicht, wie sich hier nachlesen lässt.

Beates Verteidiger ist in dieser Situation nicht zu beneiden. Du zeigst als Zeuge keinen Belastungseifer, hast keinen Grund, Beate etwas anzuhängen und machst für alle Beteiligten den Eindruck, als hättest Du Beates Kaffeetrinken tatsächlich beobachtet. Klassische Signale der Glaubwürdigkeit, die Du deshalb ausstrahlst, weil Du sicher bist, gesehen zu haben wovon Du berichtest. Tatsächlich spielt Dir nur Dein Gehirn einen Streich. So hältst Du allen Fragen stand. Also muss Beate wohl schuldig gesprochen werden – vorausgesetzt ihr Kaffeetrinken wäre der entscheidende Beweis.

Beate kann jetzt nur noch hoffen, dass ihr Verteidiger sich intensiv mit Aussagepsychologie befasst und irgendwann einmal etwas von einem Knallzeugen gehört hat. Das ist genau so ein Zeuge wie Du, nämlich einer, der nur kombiniert hat und trotzdem mit Gewissheit behauptet, etwas Entscheidendes gesehen zu haben. Der Knallzeuge heißt so, weil er im Straßenverkehr den Knall eines Unfalls hört. Sofort schaut er dorthin, woher der Knall kam und zieht nun blitzschnell Rückschlüsse aus dem, was er sieht. Danach denkt er für alle Ewigkeit, er hätte den Unfall beobachtet und beschreibt diesen Unfall auch in allen Vernehmungen immer auf die gleiche Art und Weise. Kein gemeiner Lügner, sondern ein Opfer des Gehirns, das nach Ordnung strebt.

Beates Verteidiger kann dieses Problem nur knacken, wenn er in der Vorbereitung sich die Situation genau erklären lässt. Anschließend muss er durch eine geschickte Frage dem Zeugen den Knall entlocken. Nur dann hat Beate noch eine Chance. Fragen nach der Farbe der Kaffeetasse oder danach, welche Kleidung Beate trug, sind Effekthascherei. Sie führen hier nicht weiter, denn das hat der Knallzeuge ja tatsächlich gesehen. Er gilt nur als noch glaubwürdiger, wenn er darauf sicher antwortet. Auch dies muss der Verteidiger bedenken. Besser keine Frage als ein falsche.

Richtig ist hier nur eine Frage, auf die der Zeuge antwortet: „Ich hörte einen lauten Knall, daraufhin drehte ich mich um.“ – Natürlich übertragen auf die Kaffeetasse.

Also, hochgeschätzte Leser: Wer kann Beates Kopf retten?