Milchbubi in Haft

Wie funktioniert eigentlich eine „Beweisführung“?

Peter war ein bescheidener Rentner mit wenig Ansprüchen an das Leben. Gegen Abend suchte er regelmäßig seine Stammkneipe auf und trank am Tresen ein paar Bier. Damit war er zufrieden. Bis auf jenen Abend, an dem ein Fremder in Peters Stammkneipe feierte. Der war „nicht von hier“, sondern aus dem Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer flussaufwärts. Er wollte einen draufmachen und das tat er: Lautstark, grölend, großkotzig. Peter fühlte sich gestört. „Geht das auch ein bisschen leiser?“, fragte er. Sonst nichts. Aber für den Fremden war das ein Satz zu viel.

Wenig später wollte Peter nach Hause gehen. Er verließ die Stammkneipe, zündet sich eine Zigarette an und atmete tief durch in der kalten, klaren Nacht. Dann trafen ihn drei Messerstiche von hinten im Brustkorb. Der Täter flüchtete, aufmerksame Passanten riefen den Notarzt. Peter überlebte.

Mordversuch nennt Peter das noch heute. Aus Gründen, die sich hinter Begriffen wie „freiwilliger Rücktritt“ verbergen, nennen Juristen eine solche Tat nur gefährliche Körperverletzung. Es ist keine sonderliche Verteidigerkunst, solche Täter mit einer Bewährungsstrafe aus der Sache heraus zu holen. Mein Mandant war allerdings nicht der Täter, sondern Peter, für den ich das Maximum erstreiten wollte. Daher begab ich mich in das Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer Fluss aufwärts. Meine Vorstellung von Strafrecht war damals geprägt durch die Filmindustrie und ich dachte ernsthaft, ein guter Anwalt müsse ermitteln wie ein Privatdetektiv. Also fragte ich mich durch die Kneipen bis ich wusste, wo ich den Täter finden würde. Eines Abends saß er mir tatsächlich am Tresen gegenüber: Lautstark, grölend, großkotzig.

Von Beruf war er Kraftfahrer, weshalb er immer ein 0,4-Liter-Glas H-Milch neben seinen zahlreichen Drinks stehen hatte. Das würde „den Atem reinigen“, verkündete er permanent. Ich beobachtete und machte Notizen.

Im Prozess kam das zu erwartende Repertoire: Völlig alkoholungewohnt, immer nur am arbeiten, ein einziges Mal Party gemacht, ausnahmsweise über die Stränge geschlagen, nicht mehr Herr seiner Sinne … Der Psychogutachter nickte zustimmend, bis das Fragerecht an mich ging. Ich wusste, dass der Täter meine Fragen nicht einmal beantworten musste, weshalb ich uns jedes Taktieren ersparte und gleich auf den Punkt kam: „Weshalb trinken Sie bei ihren Sauftouren eigentlich immer ein Glas H-Milch?“

Der Angeklagte erbleichte, der Verteidiger reagierte falsch: „Was soll diese Frage?“ Ich berichtete von meinem Kneipenbesuch, der Gutachter zog einen langen Querstrich durch seine Notizen, das Gericht schaute den Angeklagten grimmig an. Am Ende bekam er keine Bewährung. Ein schöner Erfolg, aber wie wäre dieser Fall ohne das Glas Milch ausgegangen?

Strafverteidigung ohne eigene Ermittlungsergebnisse ist darauf beschränkt, die Beweisführung der Staatsanwaltschaft zu torpedieren. Dies geschieht durch Beweisanträge, deren Formulierung durchaus Kunstfertigkeit erfordert. Zusätzlich sollte man Beweisverwertungsverbote erkennen und effektiv rügen können. Und man muss wissen, worauf es bei Rechtsmitteln ankommt. Denn oft kann der Strafprozess in erster Instanz gar nicht gewonnen werden. Beim schuldigen Mandanten ist die Verurteilung schließlich per se kein falsches Urteil. Sie kann allerdings ein Fehlurteil sein. Darauf zielt Verteidigung dann ab.

Auf der Verteidigerbank im Gerichtssaal sitzt idealerweise eine gespaltene Persönlichkeit. Die eine stellt Fragen oder Anträge. Die andere beobachtet den Prozess wie ein Zuschauer, bewertet das Verfahren permanent aus der Sicht einer höheren Instanz und schafft die Grundlagen für erfolgreiche Rechtsmittel. Das kann richtig Spaß machen. Ich zerbreche mir vor einer Verhandlung oft stundenlang den Kopf darüber, wann und wie ich einen Bauern auf dem Schachbrett des Strafprozesses bewege. Reagiert die Gegenseite darauf mit einer geschickten Rochade, ringt mir dies sogar Anerkennung ab. Clevere Winkelzüge, facettenreiche Taktik und geistreiche Scharmützel faszinieren mich – selbst wenn der Mandant dafür in den Knast wandert.

Doch wie, so magst Du, geneigter Leser, Dich fragen, wie findet der Strafverteidiger das streitentscheidende Glas Milch?

Ich bin unentwegt davon überzeugt, dass die eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers (vergleiche dazu auch => hier) einer der wenigen Schlüssel zum Erfolg ist. Aber diese Arbeit können nur junge unterbeschäftigte Anwälte leisten. Irgendwann muss man sich als Strafverteidiger von Hollywood verabschieden, denn dafür braucht es Mandanten, die solche Arbeit angemessen vergüten. Tun sie leider nicht, weshalb hervorragende Verteidigungsansätze oftmals nicht genutzt werden.

Würde Peter heute nochmals niedergestochen, bekäme der Täter Bewährung.

Eine Frage der Ehre

Was darf der Anwalt eigentlich im „Verteidigerplädoyer“?

Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“ – So wirst Du, geneigter Leser, von manchen Richtern angebrüllt, wenn gerade ein Polizeizeuge ausgesagt hat und Du als Angeklagter dies mit einem „Stimmt so nicht.“ kommentierst. Wohlgemerkt: Du sitzt in dieser Situation auf einer Anklagebank und verteidigst Dich gegen Vorwürfe, die Dich Deine Freiheit, Deinen Job, Dein Hab und Gut kosten können. Man sollte meinen, dass man dann auch um sein Recht kämpfen darf. Aber nicht jedes Gericht mag es, wenn man die Glaubwürdigkeit seines Hauptbelastungszeugen anzweifelt.

Natürlich hat auch die Filmindustrie diesen Konflikt längst erkannt und bereits 1992 legendär inszeniert, mit einem (damals noch nicht abgedrehten) Tom Cruise als Verteidiger und einem die Arroganz und Blasiertheit des Militärs herausragend spielenden Jack Nicholson als Widerpart. Ganz großes Kino!

Nun ist der amerikanische Strafprozess etwas seltsam, weil dort beispielsweise Angeklagte auch Zeugen sind, was für mich unvorstellbar ist. Noch seltsamer scheint mir der dortige Militärstrafprozess, weil er es offenbar nicht zulässt, höherrangigen Offizieren Fragen zu stellen, die sie besser nicht beantworten sollten. Die Macht schützt eben überall zuerst sich selbst.

Aber wenn wir das Hollywood-Gedöns mal außen vor lassen, spiegelt diese Filmszene treffend wider, worum es auch in den Niederungen deutscher Strafprozesse geht: Es gibt Zeugen, denen wird bereits geglaubt, bevor sie überhaupt eine Aussage gemacht haben. Unterschiedlich ist nur die Begründung der Justiz.
Der Polizist ist ein erfahrener Zeuge, der noch nie falsch ausgesagt hat“, lautet das Credo der einen, „Ich glaube ihm nicht, weil er Polizist ist, sondern weil er die Wahrheit gesagt hat“, versuchen andere sich den Anschein von Objektivität zu geben. Im Endeffekt meinen beide dasselbe: Zweifle bloß nicht meinen Zeugen an!!!

Wer clever ist und sich nicht alleine auf die Anklagebank setzt, der bringt einen Verteidiger mit, dem er es überlässt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen kritisch zu würdigen. Das macht die Sache zumindest aus Sicht der Polizeizeugen nicht besser. Da sie meistens im Rudel vernommen werden, bleiben sie nach der Aussage darum gerne noch im Gerichtssaal, um durch ihre uniformierte Präsenz zu zeigen, dass Zweifel an ihren Aussagen nicht geduldet werden. Tut der Verteidiger es dennoch, dann muss er durchaus auch mal mit einer Anklage rechnen. In Frankfurt ist dies kürzlich einem Anwalt widerfahren, nur weil er es gewagt hat, den Wahrheitsgehalt von Polizeiaussagen anzuzweifeln.

Wie das Anwaltsleben so spielt, braucht man am Ende ein Quäntchen Glück, welches dem angeklagten Kollegen auch zuteil wurde, und zwar durch ein Gericht, das sich zunächst einmal auf Martin Luther stützte und dessen Konzilskritik abwandelte zu „Gerichte können bei ihrer Beweiswürdigung irren und haben geirrt.“ Danach erinnerte es sich eigener Erfahrungen mit Polizeibeamten, die gelogen hatten „mitunter, dass sich die Balken bogen“ und in einer Dreistheit, dass „das Wort ´Verschwörung´ keine Übertreibung war“.
Dem angeklagten Verteidiger half das Gericht mit einem im Geschwurbel üblicher Beweiswürdigungsfloskeln oft schmerzlich vermissten Instrument aus der Klemme: Logik! Denn wenn der Angeklagte A sagt, der Zeuge aber B, dann ist zwar völlig klar, dass einer lügt, doch kann es dem Verteidiger deshalb verwehrt sein, der Einlassung des eigenen Mandanten zu folgen? Wie sollte er denn das A verteidigen, ohne damit zugleich das B als Falschaussage zu werten?
Die Anklage in Frankfurt wurde noch nicht einmal zugelassen, was zwar nicht so schön klingt wie „Freispruch“, tatsächlich aber ein noch glanzvollerer Sieg ist. Sollte Dich also je ein Richter fragen: „Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“, dann bleibe höflich, lächele ihn an und frage zurück: „Wollen Sie etwa behaupten, dass ich lüge?

Tanja im Girlieland

Was sind eigentlich „anwaltliche Erhebungen“?

Der Zeuge erklärt …“, so steht es in polizeilichen Vernehmungsprotokollen. „Stimmt nicht“, sagt der Mandant, „es war genau andersrum. Der Zeuge versucht, seine eigene Tat zu verschleiern.
In dieser Situation hat der Strafverteidiger zwei Möglichkeiten: Entweder er wartet ab, bis er den Zeugen im Gerichtssaal vor sich hat oder er kontaktiert und befragt ihn vorher. Aber darf er das?
Vor 100 Jahren war dies tatsächlich einmal umstritten, weil man die Ermittlungstätigkeit für ein Privileg von Polizei und Justiz hielt. Heutzutage gibt es zwar immer noch Richter, die kurz zucken, wenn sich herausstellt, dass ein Anwalt Zeugen vor der Verhandlung kontaktiert hat. Aber es zweifelt niemand mehr die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ernsthaft an. Schließlich gehört es zum Berufsbild des Strafverteidigers, die Ermittlungsergebnisse der Polizei anzuzweifeln.
Man spricht dann von „anwaltlichen Erhebungen“, um diese Tätigkeit vom amtlichen Charakter der polizeilichen Ermittlungen abzugrenzen.

Und es ist höchst aufschlussreich, was Zeugen in einem Privatgespräch berichten: „In Wirklichkeit war es anders, aber das werde ich nicht aussagen, weil ich dann Probleme bekomme“ ist beispielsweise ein Satz, den ich dann oft zu hören bekomme. Nicht ganz optimal für meine Zwecke, aber wenigstens eine Information, auf die man aufbauen kann. Denn der Strafprozess lebt vom Informationsvorsprung. Vor der Gerichtsverhandlung schon Bescheid zu wissen und die Taktik daran auszurichten – das ist gute Strafverteidigung.

Im Fernsehen wird die anwaltliche Ermittlungstätigkeit ausgelagert auf Privatdetektive. Aber welcher Mandant ist bereit, für Matula zu zahlen? Also kümmert der Verteidiger sich selbst darum. Etwa weil er gerade in einer Großstadt im Hotel sitzt, wo er die Zeit zwischen zwei Verhandlungstagen verbringt. Es geht um Zwangsprostitution, es geht um viel und beim wiederholten Aktenstudium fällt auf: Die Zeugin hat ausgesagt, man habe ihr zuerst die Haare blond gefärbt und sie dann gezwungen, im Bordell „Girlieland“ anzuschaffen. Na dann gehen wir der Sache doch mal nach.

Die Webseite des Girlieland zeigt jede Menge Frauen mit einfallslosen „Künstlernamen“. Beim Durchklicken der Bilder fällt mir die immergleiche Machart auf. Sollte es da einen professionellen Fotografen geben? Um dies herauszufinden, ist ein Ortsbesuch vonnöten. Aber der Tag ist ja noch lang und wirklich etwas zu tun habe ich ohnehin nicht.

Im Girlieland werde ich freundlich begrüßt. Eine als „Hausdame“ bezeichnete Mitsechzigerin erfragt meine Wünsche und bleibt ungerührt, als ich nur Informationen haben und keinesfalls Geld lassen möchte. Ja, es gebe einen Fotografen, der habe sein Studio aber in einer anderen Stadt, nicht weit entfernt, eigentlich nur auf der anderen Rheinseite. Das war doch mal eine Auskunft.

Wieder draußen auf der Straße googele ich den Fotografen und habe Glück. Er ist unter der angegebenen Nummer persönlich erreichbar. Mein Anliegen verwirrt ihn: Wie lange soll das her sein? Fast 3 Jahre? Und sie nannte sich Tanja? Da muss ich mein Archiv durchforsten. Was? Heute noch?

Zwei Stunden später stehe ich vor dem Studio, der Fotograf ist mittlerweile fündig geworden. Er besitzt ein Foto der Belastungszeugin aus dem Prozess, gefertigt an ihrem ersten Tag als Tanja im Girlieland, gekleidet wie es dort eben üblich ist – und ihre Haare sind dunkel. Wir einigen uns auf eine Lizenzgebühr, ich erwerbe die Rechte an dem Foto und fahre zurück in mein Hotel. Der nächste Tag wird eine Überraschung werden für die Zeugin.

Du fragst Dich, geneigter Leser, was mir diese Aktion gebracht hat? Nun, ein derartiges Strafverfahren lässt sich nicht völlig umdrehen, nur weil man das Kaninchen aus dem Hut zaubert. Aber solch ein Foto kann ein kleiner Baustein sein auf dem Weg zu dem Ziel, das man mit dem Mandanten anstrebt.

Übrigens: Meine beste Bürovorsteherin von allen hätte das gleiche Ergebnis wahrscheinlich auch durch hartnäckiges Telefonieren erzielt. Aber meine Methode macht mir eben mehr Spaß.

Narrative Verteidigung

Was ist eigentlich eine „narrative Verteidigung“?

Es ist drei Uhr nachts, als die Polizei ein offenbar von der Fahrbahn abgekommenes Auto im Straßengraben entdeckt. Bei der Kontrolle bemerkt sie zweierlei: Der Motor ist noch warm und auf dem Rücksitz schläft gerade Jemand seinen Rausch aus. Die Frage, wer das Auto in den Straßengraben gefahren hat, ist damit für die Polizei beantwortet, sie benötigt jetzt nur noch eine Blutprobe, dann scheint der Fall geklärt.

Etwa zehn Tage später meldet ein neuer Mandant sich telefonisch in der Kanzlei. Er hat eine Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung, weil er deutlich alkoholisiert ein Fahrzeug im Straßenverkehr geführt haben soll. Der Mandant will erzählen, wie das genau war an jenem Abend, doch der Anwalt reagiert kurz angebunden, wimmelt ihn ab, hat nur Interesse am Aktenzeichen der Vorladung. Nach dem Telefonat bleibt bei dem Mandanten das ungute Gefühl zurück, an einen besonders raffgierigen Verteidiger geraten zu sein, der sich gar nicht richtig Zeit nimmt für seine Klienten.

Tatsächlich hat er einen wirklichen Profi erwischt, denn der Anwalt tut das einzig Richtige: Er lässt sich die Akte schicken und überlegt sich eine Lösung. Dem Fall gilt sein ganzes Interesse, der Mandant ist nur überflüssiges – aber zahlendes – Beiwerk.

Wenn die Akte wieder zurückkehrt zur Justiz, befindet sich darin eine nette Geschichte. Zeitliche Abläufe sind geändert, bisher unbekannte Personen tauchen auf und doch nicht auf, denn sie könnten verwandt sein. Entlastendes wird sehr ausführlich geschildert, Nachprüfbares bemerkenswert knapp. Ein strafbares Verhalten des Schläfers auf der Rückbank ist plötzlich fragwürdig, weshalb der Staatsanwalt sich fragt, ob diese Akte noch für eine Verurteilung reicht.

Du fragst Dich, geneigter Leser unterdessen, ob Strafverteidiger das dürfen. Sie sind doch Rechtsanwälte, also dem Recht verpflichtet und keine Märchen erzählenden Scharlatane.

Doch wer hat denn hier ein Märchen erzählt?

Das Leben liefert immer wieder Geschichten, die man – je nach Sichtweise – ganz unterschiedlich schildern kann. Die Polizei hat sich entschieden, aus dem Auto im Straßengraben eine Geschichte zu machen, die ihr gefällt. Sie legt eine Akte an und protokolliert einen Sachverhalt, der so nicht unbedingt gewesen sein muss. Was die Justiz einen Strafprozess nennt, ist nur das Wiederkäuen dieser Akte. Viel mehr passiert da nicht.

Es ist darum selbstverständlich die Aufgabe des Verteidigers, den Sachverhalt der Polizei neu zu erzählen, ihn so zu schildern, wie er auch gewesen sein könnte. Das funktioniert nicht in jedem Fall, aber manche Akten schreien geradezu danach, dem polizeilichen Märchen ein eigenes entgegen zu setzen. Gute Strafverteidiger sollten darum gute Geschichtenerzähler sein. Sie müssen das juristische Handwerk mit Fantasie betreiben, denn freilich wird die Geschichte der Verteidigung argwöhnisch geprüft. Da muss man schon wissen, wie man dem Ermittlungseifer der Justiz Grenzen setzt.

Und vor allem: Lügen darf der Anwalt nicht! Etwas wider besseres Wissen zu behaupten ist ihm untersagt!

Irgendwann wird das Verfahren um das Auto im Straßengraben eingestellt, und der Mandant beginnt zu ahnen, warum sein Anwalt sich nie Zeit für ihn genommen hat: Er wollte die Wahrheit einfach nicht hören.

Geschichtslehren

Ziehen Strafverteidiger eigentlich „Lehren aus der Geschichte“?

Heute – am 22.2.2018 – ist es 75 Jahre her, dass die Geschwister Scholl unter dem Fallbeil des Naziregimes starben. Ich habe heute einen längeren Spaziergang über den Schloßberg gemacht, mich anschließend auf eine Bank am Ufer der langsam vereisenden Nahe gesetzt und mir die winterliche Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Dabei habe ich zurückgedacht an diese kleine studentische Widerstandsgruppe.

Du magst Dich, geneigter Leser, jetzt fragen, weshalb Strafverteidiger in ihren Mittagspausen über den deutschen Widerstand grübeln. Darum solltest Du wissen, dass unsere Strafprozessordnung bereits seit dem Jahre 1877 gilt und folglich sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Grundlage der Strafprozesse in diesem Lande war. Auch im Dritten Reich war sie formell in Geltung, tatsächlich aber zunehmend außer Kraft.

Berechtigt dies den Strafverteidiger, sich in der geistige Nachfolge der Geschwister Scholl zu sehen? Ganz klar: Nein! Ich bezweifle, dass auch nur ein Bruchteil meiner Kollegen diesen Mut aufbrächte. Die Freiheit oder gar das Leben würde ohnehin keiner von uns geben für die gerechte Sache.

Und dennoch weht ein Hauch, ein laues Lüftchen des Widerstandes auch durch unsere Reihen. Ich möchte behaupten, dass die Geschwister Scholl uns zumindest Vorbild sind – ein Vorbild, das wir freilich nie erreichen.

Strafverteidigung hat nichts zu tun mit dem Blutopfer des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Tyrannei. Schauen wir jedoch ein wenig weiter zurück, betrachten wir den Weg hinein in den Terror, dann sehen wir, dass es durchaus die Strafverteidigung war, die unter Berufung auf die oben bereits erwähnte Strafprozessordnung von 1877 dem immer weiter in die Diktatur abdriftenden Staat Paroli bot. Der Geist des Widerstandes wurde in den Jahren zwischen Kaiserreich und Hitlers Machtergreifung geschult. Und es waren die Strafverteidiger der Weimarer Republik, welche das Ethos unseres Berufsstandes formten. Einige möchte ich hier hervorheben:

1.) Martin Drucker

Drucker machte 1924 bereits auf sich aufmerksam, weil er eine Strafprozessrechtsreform heftig kritisierte. Dadurch werde dem Volk „im weiten Maße das Kulturgut eines ordentlichen Strafprozesses“ entzogen. Eine Kritik, die seither alle sogenannten Reformen begleitet, wahrscheinlich aber nie wieder so treffend formuliert wurde: Der ordentliche Strafprozess als Kulturgut.

Da verwundert nicht seine Auffassung, „dass ein Plädoyer für die Gewährung mildernder Umstände den Verdacht der Geistesfaulheit und juristischen Ignoranz des Verteidigers nahe legt.“ – Ein Aufruf, mit der Verteidigung bei den Grundlagen zu beginnen und nicht am Ende.

2.) Paul Reiwald

Reiwald war einer der Ersten Verteidiger, der sich mit der Psychologie im Strafprozess befasste. Grundlegende Schriften dazu wurden von ihm geschrieben. Seine praktische Tätigkeit vor Gericht machte ihn bei den Nazis schnell unbeliebt, weshalb er schon bald nach der Machtergreifung ins Exil floh und von den neuen Machthabern aus der Liste der Rechtsanwälte gelöscht wurde.

Er konnte jedoch sein wichtiges Werk „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher“ dennoch vollenden und darin die geniale Erkenntnis platzieren: Die Scheidewand zwischen Gesellschaft und Verbrecher ist dünn, am dünnsten vielleicht dort, wo sie zur Abwehr gegen ihn gerüstet steht. Richter und Staatsanwalt, sie, die den Verbrecher verfolgen und verurteilen, die sich von dem Mann auf der Anklagebank duch eine Welt geschieden fühlen, stehen ihm näher als sie denken.

3.) Erich Frey

Frey verteidigte 1928 im Prozess um die sogenannte Steglitzer Schülertragödie. Sein Credo war die Gleichberechtigung der am Prozess beteiligten Juristen. Darum ließ er es sich nicht nehmen, das Verfahren durch Erklärungen und Anträge zu steuern. Dem Gerichtsvorsitzenden hielt er entgegen, er verbitte sich, von diesem ständig unterbrochen zu werden. Als daraufhin das Gericht den Vorsitzenden ermächtigte, den Verteidiger für sein Verhalten zu rügen, erwiderte Frey, diese Rüge „konnte nur den Zweck haben, den Verteidiger vor den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie musste aber auch die Würde des Anwaltsstandes verletzen. Der Verteidiger sieht sich nicht in der Lage, unter diesen Umständen die Verteidigung weiterzuführen.“

Wohlgemerkt: Dies geschah in einer Gerichtskultur, die noch von der Kaiserzeit geprägt war. Wenn es heute eine Selbstverständlich ist, als Verteidiger dem Gericht auf Augenhöhe gegenüber zu treten, haben wir dies auch Erich Frey zu verdanken. 

4.) Dr. Max Alsberg

Alsberg kann man als den erfolgreichsten Strafverteidiger der Weimarer Republik bezeichnen. Was mich an ihm fasziniert ist die Tatsache, dass er in politisch schwierigen Zeiten agierte, ohne sich politisch in eine Schublade stecken zu lassen.

Er verteidigte u.a. Kaiser Wilhelm II (nach dessen Abdankung), den Großindustriellen Hugo Stinnes, den rechtsgerichteten Politiker Karl Helfferich und den pazifistischen Journalisten Carl von Ossietzky – stets an der Sache orientiert und ohne Vorbehalte gegen eine Person.

Daneben war er in großem Umfang wissenschaftlich tätig, hatte eine Professur an der Berliner Universität inne und schrieb auch zwei (erfolgreich aufgeführte und heute noch lesenswerte) Theaterstücke über den Berufsalltag des Strafverteidigers (Voruntersuchung und Konflikt).

Schon bald nach der Machtergreifung sah er sich zur Emigration veranlasst. Seiner materiellen Existenz beraubt wählte er am 1. September 1933 im Exil in der Schweiz den Weg in den Freitod.

5.) Schließlich und endlich, hervorragend selbst unter derart bedeutenden Kollegen noch: Hans Litten.

Am 1. Mai 1929 befahl der Polizeipräsident von Berlin die gewaltsame Auflösung der Maikundgebungen in Berlin und erteilte Schießbefehl. 33 Demonstranten wurden getötet, zahlreiche andere wegen Landesverrat angeklagt. In dieser Situation betrat Hans Litten die Bühne der Justiz und stellte Strafantrag gegen den Berliner Polizeipräsidenten wegen Anstiftung zum 33fachen Mord.

Nachdem  die SA im November 1930 das Arbeiterlokal „Edenpalast“ überfallen hatte, übernahm er die Nebenklage und schaffte es, Adolf Hitler persönlich in der Zeugenstand zu zwingen, um zu beweisen, dass der rechte Terror von ganz oben angeordnet war.

Hitler wurde in diesem Prozess derart blamiert, dass er es Hans Litten nie verzeihen konnte. Schon in der Nacht des Reichstagsbrandes ließ der den Anwalt in „Schutzhaft“ nehmen. Es folgte eine jahrelange Odysee durch die Folterknäste und Konzentrationslager des Dritten Reiches. Zuletzt in Dachau angekommen, fürchtete der schwer misshandelte Hans Litten, unter der Folter zu gestehen, was seiner anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterlag. Er nahm sich darum das Leben, um nicht gegen seine Schweigepflicht zu verstoßen.

Es sind große Namen, die vor 100 Jahren einen Kampf aufgenommen haben, der bis heute nicht geendet hat. Positiv ausgedrückt ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Aber es war und bleibt auch immer ein Kampf gegen den Staat, gegen seine Übergriffigkeit, seine Rechtsverstöße, seinen Machtmissbrauch.

Darüber reflektiere ich an solchen Tagen und wenn ich dann alsbald wieder einen Gerichtssaal betrete, denke ich vielleicht kurz an die Geschwister Scholl. Widerstand ist ein zu großes Wort für das, was Strafverteidiger antreibt. Aber zumindest Entschlossenheit lernen wir schon von den historischen Vorbildern.

Rechtstreue

Sind Strafverteidiger eigentlich weniger „rechtstreu“?

Als junger Anwalt war ich gerne Seminarbetreuer bei der Deutschen Anwaltsakademie. Wenn man sich dort bereit erklärte, die Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung anfangs zu begrüßen und aufzupassen, dass sie sich ordentlich in die Teilnehmerlisten eintragen, musste man das Seminar nämlich nicht bezahlen. Eine Wohltat für die stets leere Schatulle eines Junganwaltes.

Ich betreute so eine ganztägige Fortbildung zum Versicherungsrecht, eine 2tägige zum Baurecht und eine 3tägige zum Familienrecht. Das war im Ablauf irgendwie immer gleich. Dann buchte ich mich in eine Fortbildung für Strafverteidiger und erwarb mir meine ersten grauen Haare. Die Typen kamen nicht pünktlich, füllten die Fragebögen nicht oder nur schlampig aus und standen nach den Kaffeepausen rauchend oder schwätzend draußen herum, obwohl der Referent längst schon wieder am Vortragen war. Schon ab dem Mittagessen fragten sie nach der Teilnehmerbescheinigung, gegen deren Ausgabe ich mich spätestens am frühen Nachmittag kaum noch wehren konnte. Bereits Stunden vor dem Ende machten sich die Ersten klammheimlich davon – mit einer fadenscheinigen Ausrede, aber immerhin mit Bescheinigung, dass sie angeblich acht Stunden brav zugehört hatten.
Seither interessierte ich mich nicht länger für Seminarbetreuung, sondern für Strafrecht.

Abseits aller Klischees zeigt diese Anekdote etwas Wesentliches auf: Strafverteidiger sind anders. Anders als andere Menschen, aber auch anders als andere Anwälte. Und das liegt nicht an den Fällen, mit denen sie zu tun haben. Auch in anderen Rechtsgebieten stehen Menschen am Abgrund: Der Familienvater, der zum Krüppel gefahren wird, der Häuslebauer, dessen Bauträger mit der Kohle durchbrennt, die Eheleute, die sich eine bittere Scheidungsschlacht liefern – es gäbe noch reichlich Beispiele.
Was den Beruf des Strafverteidigers von anderen unterscheidet, scheint mir nicht das Schicksal des Mandanten zu sein. Viel eher ist es der Gegner, dem man ständig gegenübertritt, nämlich der Staatsmacht, die im Bereich der Strafverfolgung sich für keinen miesen Trick zu schade ist. Sie kommt nicht nur mit einer immensen personellen und technischen Ausstattung daher, auch ihre Rechte gehen weit über das hinaus, was der Laie sich vorstellen kann. Heimlichkeit ist ihr Wesen, verdeckt sind ihre Methoden, rücksichtslos ihr Vorgehen. So muss das wohl sein, denn es geht um Verbrechensaufklärung. Da sind andere Kaliber tätig, als in der deutschen Durchschnittsbehörde, über die der Bürger so gerne Beamtenwitze erzählt.

Ich bin davon überzeugt, dass diese ständige Befassung mit Verhör und Festnahme, Überwachung, Durchsuchung und Haft die berufsmäßig daran Beteiligten verändert, sich gewissermaßen in die Gene einprägt. Und daraus entsteht dann eine Denkweise, die Außenstehenden vielleicht übertrieben erscheinen mag, eben ein professioneller Umgang mit dem Strafverfahren. »Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend«, sagt der Verteidiger, wenn die Polizei auf ihre kriminalistische Erfahrung verweist. »Wer sagt das?«, fragt er. »Wo steht das? Warum sollte es gerade so sein und nicht anders?« Immerfort ist er der lästige Quälgeist, der einfach nicht akzeptieren will, was doch unangefochten einhellige Meinung ist. Der Zweifel ist seine Waffe, das genaue Hinschauen und Hinterfragen sein täglich Brot.
Tatsachenverdrehung, Verharmlosung und zwielichtige Nähe zu ihrer Klientel wirft man den Anwälten gerne vor, die aus der Untersuchungshaft wieder herausboxen, wen die Polizei so mühevoll hineingebracht hat. Liegt es da nicht nahe, dass solche Leute auch die Geltung von Gesetzen eher kritisch sehen, auch Verbote nicht akzeptieren oder sie geschickt umgehen?

Und damit sind wir beim Thema dieses Beitrages, bei der Rechtstreue, der Frage, warum manche Menschen das Gesetz brechen.

Wenn Politiker davon reden, etwas zu verbieten, dann erhoffen sie sich davon ernsthaft, ein von ihnen als unerwünscht erkanntes Verhalten werde künftig nicht mehr stattfinden. Dass Mord verboten ist, soll in ihrer Idealwelt bewirken, dass keiner mehr andere tötet. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass Morde weiterhin geschehen und sich auch gar nicht verhindern lassen. Sie werden lediglich sanktioniert, mit einer Strafe bedroht, die im Extremfall auch lebenslang vollstreckt wird.
Ein Verbot bewirkt also nicht, dass das verbotene Tun unterlassen wird. Es regelt lediglich, welche Sanktion dafür zu erwarten ist. Wenn etwas verboten ist, bedeutet dies darum prinzipiell nicht, dass man es nicht tun darf, sondern nur dass man, wenn man es tut, mit Konsequenzen rechnen muss.
Hat man dies erst verstanden, liegt es nahe, Gesetzesübertretungen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Was bringt es mir, was schadet es mir? Der erste Schritt zum Rechtsbruch ist gegangen.

Als weitere Überlegung tritt dann hinzu die Magna Charta des Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. Bevor die Sanktion greift, muss der Staat erst einmal beweisen, dass sein Verbot missachtet wurde. Dabei unterliegt er Regeln, insbesondere Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Das Verbot ist also nur dann von Bedeutung, wenn der Verstoß dagegen mit rechtsstaatlichen Methoden nachweisbar ist. Gelingt dies nicht, läuft der Mörder weiter frei herum. Dieses Wissen ist der zweite Schritt zum Rechtsbruch.

Vergegenwärtigt man sich nun auch noch, dass vorgenannte Regeln zum Nachweis eines Verstoßes bisweilen sehr kompliziert sind und obendrein auch in Gerichtsverfahren überprüfbar, bekommt der Verstoß gegen Verbote etwas Sportliches. Das Risiko ist kalkulierbar, die Nachweispflicht liegt bei den Strafverfolgern, für die im gerichtlichen Verfahren nicht wenige Fußangeln lauern. Da könnte man es doch durchaus mal versuchen …
Dreier einfacher Überlegungen bedarf es also nur und schon verliert das Verbot seinen Schrecken.
Trotzdem ist es nicht mein Hobby, nach Feierabend am perfekten Verbrechen zu tüfteln, nur weil ich weiß, worauf man achten muss. Der tägliche Umgang mit dem Strafrecht führt eher dazu, dass man besonders penibel darauf achtet, wo die Grenze des Erlaubten überschritten wird. Strafverteidiger werden permanent bedroht von Strafvorschriften, die andere Anwälte zuletzt im Studium gehört haben: Strafvereitelung, Geldwäsche, Falschaussage, falsche Verdächtigung, das Ganze dann auch noch in der Form der Teilnahme, was im Klartext bedeutet, dass man vorgeworfen bekommt, anderen bei deren Taten geholfen, oder sie sogar dazu angestiftet zu haben. Es besteht also wahrlich kein Grund, die Rechtstreue insbesondere des Strafverteidigers zu bezweifeln. Schließlich kennt er das Risiko besser als jeder andere.

Und was war jetzt mit dem kalkulierbaren Risiko, dem Dreisprung zum erfolgreichen Rechtsbruch? Derjenige, der so denkt, bist Du, geneigter Leser, beispielsweise wenn Du wieder einmal am Steuer Deines Wagens mit dem Handy telefonierst oder Schlimmeres planst. Für Dich wirken die oben getätigten drei einfachen Überlegungen verführerisch. Ich rate dringend davon ab.

Honorarvereinbarung

Warum schließen Verteidiger eigentlich „Honorarvereinbarungen“ ab?

Gestern habe ich eine Revisionsbegründung fertiggestellt. Das gesetzliche Honorar dafür beträgt mindestens 120,.- EUR und höchstens 1.110,- EUR. Für einen einzigen Brief! Nicht schlecht – könnte man denken. Schauen wir also mal genauer hin:

Mein Mandant hat von einem Landgericht 5 Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Für schweren Menschenhandel, dirigierende Zuhälterei, Vergewaltigung und diverse andere Ungezogenheiten. Die Hauptverhandlung dauerte 16 Tage. Um meine Arbeit (Begründung der Revision) zu erledigen, habe ich ein 133 Seiten starkes Urteil, 387 Seiten Sitzungsprotokoll und genau einen Monat Zeit. Diese Frist ist nicht verlängerbar.

Zunächst analysiere ich die 133 Seiten Urteil ganz exakt, mehrfach, zigfach, immer wieder.
Gleich am Anfang geht es los: Das Gericht hat sich über die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten – also seine Finanzen – anhand seiner Bankunterlagen ein Bild gemacht. Also blättere ich die 387 Seiten Protokoll durch, was dazu vermerkt ist. Wurden die Bankordner nur „zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht“ oder wurden sie „vom Gericht in Augenschein genommen“? Beides würde nicht ausreichen, aber laut Protokoll wurden die Kontoauszüge „verlesen“. Diese Spur führt mich also nicht weiter, darum beginne ich  wieder von vorne. Urteil lesen, Protokoll lesen, mehrfach, zigfach, immer wieder.

Dann die nächste Fährte: Am 8. Verhandlungstag war der Protokollführer erkrankt. Er wurde durch einen anderen Justizbeamten ersetzt. Ganz am Ende des Prozesses, wenn das Protokoll unterschrieben wird, war der Ersatzman aber nicht beteiligt. Das wird zu Problemen für die Justiz führen! Allerdings nur deshalb, weil ein Anwalt weiß, worauf er achten muss und wie er mit einem solchen Fehler umzugehen hat. Du, geneigter Leser, wirst Dir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können, dass eine fehlende Unterschrift überhaupt eine Rolle spielt. Denn Du verwendest nicht jeden Tag einen Teil Deiner Zeit zur Fortbildung – schon lange bevor die konkrete Revisionsbegründung beginnt.

Der Mandant liefert natürlich auch Hinweise: Er erinnert sich genau, dass alle Zeugen sein Auto als blaues Auto beschrieben haben, obwohl der Täter nachweislich ein rotes Auto fuhr. Im Urteil wird aber fälschlicherweise behauptet, das Auto des Mandanten sei rot gewesen. Außerdem hatte der Täter laut Urteil eine Glatze, mein Mandant aber lange Haare. „Interessant“, sage ich dazu, was die höfliche Variante von „Interessiert mich nicht, weil es keine Rolle spielt“ ist.

Adressat meiner Revisionsbegründung ist letztlich der Bundesgerichtshof (BGH), das höchste deutsche Strafgericht. Dort werden demnächst 5 Berufsrichter über die Revision entscheiden, und zwar auf der Basis dessen, was das Landgericht als Sachverhalt festgestellt hat. Ob diese Feststellungen richtig oder falsch sind, interessiert die Damen und Herren am BGH nicht. Es sei denn, das Landgericht hätte in sein Urteil geschrieben:  „Das Wasser floss den Berg hinauf, wo es bei hoch-sommerlichen Temperaturen zu Eis gefror.“ Das nennt man dann einen „Verstoß gegen die Denkgesetze“ und führt zur Aufhebung des Urteils. Solange das Landgericht nur Rot und Blau verwechselt und Langhaarigen eine Glatze attestiert, muss der Verurteilte eben damit leben. Im Knast kann er ja 5 Jahre darüber nachdenken.

Habe ich alle Fehler gefunden (hoffentlich nicht die entscheidenden übersehen), müssen diese in einer ganz bestimmten Form zu Papier gebracht werden. BGH-Richter gehen an eine Revisionsbegründung heran wie der Bömmel aus der Feuerzangenbowle an die Dampfmaschine: „Da stelle mehr uns janz dumm.

Hat das Landgericht den entscheidenen Alibi-Zeugen einfach nicht geladen, obwohl dies dutzendfach beantragt wurde, mag dem Laien dies fehlerhaft erscheinen. Dem BGH muss man aber zusätzlich noch erklären, was dieser Zeuge voraussichtlich ausgesagt hätte und warum das Urteil dann anders ausgefallen wäre. An diesen Formalien scheitern die meisten Revisionen. BGH-Richter erklären bei Fortbildungsveranstaltungen ungerührt, wie sie Fehler im Urteil zweifelsfrei erkannt haben. Es hat sie aber nicht interessiert, weil der Anwalt den Fehler nicht formvollendet gerügt hat.
Macht ja nix, geht ja nur um 5 Jahre Haft.

Wenn die Revisionsbegründung fertig ist, hat man Tage und Nächte mit dem Urteil und dem Protokoll verbracht. Für einen einzigen Brief? Ich habe es mir abgewöhnt, die Stunden zu zählen, denn sonst müsste ich wohl ernsthaft darüber nachdenken, ob mir der gesetzliche Mindestlohn gezahlt wird.

Das anwaltliche Honorar, welches heute mein Thema ist, wird zwar auch danach bemessen, welche Bedeutung eine Sache für den Mandanten hat. Aber was heißt das konkret? In dem einen Monat, der ihm für die Revisionsbegründung bleibt, trägt der Anwalt die volle Verantwortung dafür, ob sein Klient möglicherweise für 5 Jahre ins Gefängnis geschickt wird. Klingt schwer nach Höchstgebühr.
Es gibt aber nicht nur 5 Jahre, sondern auch noch 10 oder 15 oder lebenslang. Kommt es zum Streit über das Honorar, ist darum meistens schon fraglich, ob der Verteidiger mit seiner Revisionsbegründung überhaupt die Oberkante des Gebührenrahmens touchiert hat. Darüber hinaus gekommen ist er dann sicher nicht. Denn über die Latte segeln nur Stabhochspringer.

Genau darum ist es schlichtweg ein Gebot der Fairness gegenüber seinem Strafverteidiger, eine kostendeckende Vergütung mit ihm zu vereinbaren, bevor er mit der Arbeit beginnt. So erkläre ich das auch meinen Mananten.

Die verstanden haben, einigen sich dann mit mir auf ein angemessenes Honorar. Die nicht verstanden haben, denken über Maßnahmen zur Kostenreduzierung nach und bieten mir an, zunächst einmal einen eigenen Entwurf zu fertigen, damit ich es leichter habe.

Das sind dann die Fälle, wo ich leider das Mandat beenden muss.

Pflichtverteidigung

Was bedeutet eigentlich „Pflichtverteidigung“?

„Ich habe kein Geld, also muss der Staat mir einen Verteidiger bezahlen“, hört man hier. „Pflichtverteidiger taugen nichts, nimm Dir lieber einen richtigen Anwalt“, tönt es aus der anderen Ecke. Beide Aussagen sind falsch, egal wie oft sie wiederholt werden.
Zunächst einmal vorweg: Den Pflichtverteidiger gibt es nicht „umsonst“ oder „auf Staatskosten“. Wirst Du wegen einer Straftat verurteilt, musst Du auch die Kosten des Pflichtverteidigers zahlen. Allerdings dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, mit einem Verteidiger an Deiner Seite etwas geringer sein.
Ob der Staat Dir einen solchen beiordnet, hängt von der vorgeworfenen Straftat ab, nicht von Deinen Finanzen. Als Faustregel gilt: Ab einer Straferwartung von einem Jahr musst Du mit einem Verteidiger vor Gericht erscheinen. Kommst Du ohne, sucht das Gericht einen für Dich aus. Du darfst allerdings frei wählen, also „Deinen“ Verteidiger beiordnen lassen.

Daraus folgt zweierlei:

Mörder, Räuber, Vergewaltiger usw. können einen Pflichtverteidiger beantragen, selbst wenn sie Millionäre sind.
Ladendiebe, ebay-Betrüger, Schwarzfahrer usw. bekommen nicht schon deshalb einen Pflichtverteidiger, weil sie keine Kohle haben. Аusnahmen gibt es – wie immer bei Juristen – viele. Stehst Du bereits unter Bewährung, beschert Dir auch der halb abgenagte Muster-Lippenstift, der in der Drogerie zufällig und unbemerkt in Deine Tasche gefallen ist, einen Pflichtverteidiger.

Was leistet er nun, dieses Wunderwesen von dem irgendwann im Strafverfahren alle reden?

Nun, er macht das, was Dein Bäcker um die Ecke auch tut. Hat er Freude am Beruf und das nötige Fachwissen, dann kreiert er die absolut geniale siebenstöckige Sacher-Käse-Sahne-Schwarzwälder-Hochzeits-Kirschtorte mit Amaretto-Limettengeschmack und einem Hauch von Lebkuchen und Ingwer von der Du Dein Leben lang schwärmen wirst. Ist er hingegen völlig bocklos und wäre zudem lieber Autoschlosser geworden, backt er eben das Brötchen von vorgestern auf. Dann wird aus der Pflichtverteidigung die gefürchtete Palliativverteidigung, die bloße Urteilsbegleitung.

Freispruch oder Knast liegen gefährlich nahe beieinander. Mit dem falschen Verteidiger an Deiner Seite eliminierst Du also problemlos alle Risiken, die ein Strafprozess sonst noch so bietet und landest ebenso problemlos hinter Gittern.
Darum: Augen auf bei der Verteidigerwahl! Als Pflichtverteidiger bekommst Du sicher nicht den Besten, aber mit dem Schlechtesten musst Du Dich auch nicht zufrieden geben.