Narrative Verteidigung

Was ist eigentlich eine „narrative Verteidigung“?

Es ist drei Uhr nachts, als die Polizei ein offenbar von der Fahrbahn abgekommenes Auto im Straßengraben entdeckt. Bei der Kontrolle bemerkt sie zweierlei: Der Motor ist noch warm und auf dem Rücksitz schläft gerade Jemand seinen Rausch aus. Die Frage, wer das Auto in den Straßengraben gefahren hat, ist damit für die Polizei beantwortet, sie benötigt jetzt nur noch eine Blutprobe, dann scheint der Fall geklärt.

Etwa zehn Tage später meldet ein neuer Mandant sich telefonisch in der Kanzlei. Er hat eine Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung, weil er deutlich alkoholisiert ein Fahrzeug im Straßenverkehr geführt haben soll. Der Mandant will erzählen, wie das genau war an jenem Abend, doch der Anwalt reagiert kurz angebunden, wimmelt ihn ab, hat nur Interesse am Aktenzeichen der Vorladung. Nach dem Telefonat bleibt bei dem Mandanten das ungute Gefühl zurück, an einen besonders raffgierigen Verteidiger geraten zu sein, der sich gar nicht richtig Zeit nimmt für seine Klienten.

Tatsächlich hat er einen wirklichen Profi erwischt, denn der Anwalt tut das einzig Richtige: Er lässt sich die Akte schicken und überlegt sich eine Lösung. Dem Fall gilt sein ganzes Interesse, der Mandant ist nur überflüssiges – aber zahlendes – Beiwerk.

Wenn die Akte wieder zurückkehrt zur Justiz, befindet sich darin eine nette Geschichte. Zeitliche Abläufe sind geändert, bisher unbekannte Personen tauchen auf und doch nicht auf, denn sie könnten verwandt sein. Entlastendes wird sehr ausführlich geschildert, Nachprüfbares bemerkenswert knapp. Ein strafbares Verhalten des Schläfers auf der Rückbank ist plötzlich fragwürdig, weshalb der Staatsanwalt sich fragt, ob diese Akte noch für eine Verurteilung reicht.

Du fragst Dich, geneigter Leser unterdessen, ob Strafverteidiger das dürfen. Sie sind doch Rechtsanwälte, also dem Recht verpflichtet und keine Märchen erzählenden Scharlatane.

Doch wer hat denn hier ein Märchen erzählt?

Das Leben liefert immer wieder Geschichten, die man – je nach Sichtweise – ganz unterschiedlich schildern kann. Die Polizei hat sich entschieden, aus dem Auto im Straßengraben eine Geschichte zu machen, die ihr gefällt. Sie legt eine Akte an und protokolliert einen Sachverhalt, der so nicht unbedingt gewesen sein muss. Was die Justiz einen Strafprozess nennt, ist nur das Wiederkäuen dieser Akte. Viel mehr passiert da nicht.

Es ist darum selbstverständlich die Aufgabe des Verteidigers, den Sachverhalt der Polizei neu zu erzählen, ihn so zu schildern, wie er auch gewesen sein könnte. Das funktioniert nicht in jedem Fall, aber manche Akten schreien geradezu danach, dem polizeilichen Märchen ein eigenes entgegen zu setzen. Gute Strafverteidiger sollten darum gute Geschichtenerzähler sein. Sie müssen das juristische Handwerk mit Fantasie betreiben, denn freilich wird die Geschichte der Verteidigung argwöhnisch geprüft. Da muss man schon wissen, wie man dem Ermittlungseifer der Justiz Grenzen setzt.

Und vor allem: Lügen darf der Anwalt nicht! Etwas wider besseres Wissen zu behaupten ist ihm untersagt!

Irgendwann wird das Verfahren um das Auto im Straßengraben eingestellt, und der Mandant beginnt zu ahnen, warum sein Anwalt sich nie Zeit für ihn genommen hat: Er wollte die Wahrheit einfach nicht hören.