Cold case

Was ist eigentlich ein „Beweisantrag“?

Wenn der Profiler und die Kriminalpsychologin vor die Kamera treten, vergießen die noch unerkannten Verbrecher dieser Republik Ströme von Angstschweiß.

Wie fühltest du dich damals?“, fragt die Kriminalpsychologin den Bruder des Opfers und der Profiler, die Hände in den Taschen des Trenchcoats, schreitet bedächtig einen Feldweg entlang, wo seine Gedanken wie zufällig von einer Kamera aufgefangen werden. „Hier ist es passiert, vor 20 Jahren. Keine Spuren mehr zu sehen“, sagt er dann und wir ahnen: dieses Duo wird den ungelösten Mordfall noch innerhalb der verbliebenen halben Stunde Sendezeit lösen.

Es geht aber auch andersrum, wenn Profiler und Kriminalpsychologin Zweifel bekommen, ob die Justiz den richtigen Täter eingebuchtet hat. Dann studieren sie intensiv die alten Akten und fördern Sensationelles zu Tage: Der Ehemann der Toten war damals verdächtig, aber er hatte ein Alibi, das prüfen wir jetzt nach. Man besorgt sich – der TV-Sender zahlt es ja – ein Auto, gleicher Typ wie der Ehemann, fährt die Strecke vom Alibi-Ort zum Tatort ab und stoppt die Zeit. Anschließend, die Stoppuhr läuft mit, besteigt man ein Segelboot, lässt sich von der steifen Brise hinaus in die Förde treiben, umrundet eine Boje (stellvertretend für die Leiche) und steuert zurück in den Hafen. 300 Auto-Kilometer und einen Segeltörn später steht fest: Der Ehemann hätte Hin- und Rückweg in 4 Stunden schaffen, dazwischen seine Frau umbringen und im Meer versenken können. Sein Alibi ist wertlos.

Sitzt jetzt etwa der Falsche hinter Gittern?

Ich frage mich dann, wie der Verteidiger sich gerade fühlt, dessen Mandant seit 7 Jahren unschuldig einsitzt. Was hätte er anders machen müssen, damals im Prozess? Ja was?

Die schärfste Waffe der Verteidigung ist das Beweisantragsrecht, sagt man. Darum schränkt der Gesetzgeber dieses Recht ja auch permanent weiter ein. Aber ermöglicht es dieses Beweisantragsrecht auch, ein Alibi so zu überprüfen wie der Profiler es tut? Versuchen kann man es. Allerdings wird kein Gericht bereit sein, 300 KM Fahrt mit einem bestimmten Fahrzeugtyp nachzustellen. Das wird allenfalls per Navi berechnet. Und der Segeltörn? Der interessiert das Gericht nicht! Kein Zeuge hat den Ehemann im Hafen gesehen, die Bootsfahrt ist nirgendwo registriert. Also was soll das? Ja aber ist es nicht gerade typisch für einen Mord, dass Spuren verwischt, eine solche Bootsfahrt möglichst heimlich gemacht wird? Interessiert ebenfalls nicht, denn es gibt keine Anhaltspunkte für diese Tour, der Verteidiger spekuliert nur.

Daher läuft der Beweisantrag ins Leere und wird als billiger Trick abgetan, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. Du wirst, geneigter Leser, dir deshalb merken müssen: Der Aufwand, mit dem das Fernsehen einen „cold case“ aufklärt, lohnt sich nur für die Einschaltquote. Der Verteidiger im „hot case“, also im Prozess um Schuld oder Unschuld, kann davon nur träumen. Die Justiz hat weder die Zeit noch das Geld dafür. Sie will nur schnell zu einem Urteil kommen.

Und wenn das falsch ist? Dann macht eben das Fernsehen in 20 Jahren daraus einen cold case.

Tanja im Girlieland

Was sind eigentlich „anwaltliche Erhebungen“?

Der Zeuge erklärt …“, so steht es in polizeilichen Vernehmungsprotokollen. „Stimmt nicht“, sagt der Mandant, „es war genau andersrum. Der Zeuge versucht, seine eigene Tat zu verschleiern.
In dieser Situation hat der Strafverteidiger zwei Möglichkeiten: Entweder er wartet ab, bis er den Zeugen im Gerichtssaal vor sich hat oder er kontaktiert und befragt ihn vorher. Aber darf er das?
Vor 100 Jahren war dies tatsächlich einmal umstritten, weil man die Ermittlungstätigkeit für ein Privileg von Polizei und Justiz hielt. Heutzutage gibt es zwar immer noch Richter, die kurz zucken, wenn sich herausstellt, dass ein Anwalt Zeugen vor der Verhandlung kontaktiert hat. Aber es zweifelt niemand mehr die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ernsthaft an. Schließlich gehört es zum Berufsbild des Strafverteidigers, die Ermittlungsergebnisse der Polizei anzuzweifeln.
Man spricht dann von „anwaltlichen Erhebungen“, um diese Tätigkeit vom amtlichen Charakter der polizeilichen Ermittlungen abzugrenzen.

Und es ist höchst aufschlussreich, was Zeugen in einem Privatgespräch berichten: „In Wirklichkeit war es anders, aber das werde ich nicht aussagen, weil ich dann Probleme bekomme“ ist beispielsweise ein Satz, den ich dann oft zu hören bekomme. Nicht ganz optimal für meine Zwecke, aber wenigstens eine Information, auf die man aufbauen kann. Denn der Strafprozess lebt vom Informationsvorsprung. Vor der Gerichtsverhandlung schon Bescheid zu wissen und die Taktik daran auszurichten – das ist gute Strafverteidigung.

Im Fernsehen wird die anwaltliche Ermittlungstätigkeit ausgelagert auf Privatdetektive. Aber welcher Mandant ist bereit, für Matula zu zahlen? Also kümmert der Verteidiger sich selbst darum. Etwa weil er gerade in einer Großstadt im Hotel sitzt, wo er die Zeit zwischen zwei Verhandlungstagen verbringt. Es geht um Zwangsprostitution, es geht um viel und beim wiederholten Aktenstudium fällt auf: Die Zeugin hat ausgesagt, man habe ihr zuerst die Haare blond gefärbt und sie dann gezwungen, im Bordell „Girlieland“ anzuschaffen. Na dann gehen wir der Sache doch mal nach.

Die Webseite des Girlieland zeigt jede Menge Frauen mit einfallslosen „Künstlernamen“. Beim Durchklicken der Bilder fällt mir die immergleiche Machart auf. Sollte es da einen professionellen Fotografen geben? Um dies herauszufinden, ist ein Ortsbesuch vonnöten. Aber der Tag ist ja noch lang und wirklich etwas zu tun habe ich ohnehin nicht.

Im Girlieland werde ich freundlich begrüßt. Eine als „Hausdame“ bezeichnete Mitsechzigerin erfragt meine Wünsche und bleibt ungerührt, als ich nur Informationen haben und keinesfalls Geld lassen möchte. Ja, es gebe einen Fotografen, der habe sein Studio aber in einer anderen Stadt, nicht weit entfernt, eigentlich nur auf der anderen Rheinseite. Das war doch mal eine Auskunft.

Wieder draußen auf der Straße googele ich den Fotografen und habe Glück. Er ist unter der angegebenen Nummer persönlich erreichbar. Mein Anliegen verwirrt ihn: Wie lange soll das her sein? Fast 3 Jahre? Und sie nannte sich Tanja? Da muss ich mein Archiv durchforsten. Was? Heute noch?

Zwei Stunden später stehe ich vor dem Studio, der Fotograf ist mittlerweile fündig geworden. Er besitzt ein Foto der Belastungszeugin aus dem Prozess, gefertigt an ihrem ersten Tag als Tanja im Girlieland, gekleidet wie es dort eben üblich ist – und ihre Haare sind dunkel. Wir einigen uns auf eine Lizenzgebühr, ich erwerbe die Rechte an dem Foto und fahre zurück in mein Hotel. Der nächste Tag wird eine Überraschung werden für die Zeugin.

Du fragst Dich, geneigter Leser, was mir diese Aktion gebracht hat? Nun, ein derartiges Strafverfahren lässt sich nicht völlig umdrehen, nur weil man das Kaninchen aus dem Hut zaubert. Aber solch ein Foto kann ein kleiner Baustein sein auf dem Weg zu dem Ziel, das man mit dem Mandanten anstrebt.

Übrigens: Meine beste Bürovorsteherin von allen hätte das gleiche Ergebnis wahrscheinlich auch durch hartnäckiges Telefonieren erzielt. Aber meine Methode macht mir eben mehr Spaß.