Ist der Antisemitismusbeauftragte ein Antisemit?

Dr. Felix Klein hat ein Amt. Er ist der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung. Als solcher muss er sich in diesen Zeiten viel äußern, um vor Antisemitismus zu warnen. Man sollte meinen, dass er selbst kein Antisemit ist. 

Karl Groß sei hier eine fiktive Person. Er sitzt gern an Stammtischen und redet dort über „die Ausländer“ oder „die Juden“. Man kann annehmen, dass er ein Kleingeist ist. 

Gil Ofarim ist ein Kind unserer Zeit. Er hat viele Follower in sozialen Netzwerken und braucht die täglichen Likes wie andere ihr täglich Brot. Darum hat er etwas gepostet, was zwar nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber viele Likes brachte. Auch von Felix Klein, der damals sagte: „Ich möchte dem jüdischen Künstler Gil Ofarim, dem dies in Leipzig widerfahren ist, meine Anteilnahme und meine Solidarität aussprechen. Es ist gut und wichtig, dass er diesen inakzeptablen Vorgang öffentlich gemacht hat.“

Karl Groß hielt das damals schon für eine Lüge. Nachdem Gil Ofarim gestanden hat, freut er sich diebisch, denn nun weiß jeder, dass „die Juden“ alle Lügner sind. So denken sie eben, die Kleingeister. 

Felix Klein hingegen ist enttäuscht. Ihm ist nicht entgangen, dass Karl Groß am Stammtisch gerade triumphiert. Darum hat Felix Klein nun Gil Ofarim seine Solidarität entzogen und behauptet neuerdings, jener habe „mit seinem Verhalten Judenhass Vorschub geleistet.“ 

Mit anderen Worten: Wenn ein Jude lügt, schadet er damit allen Juden. Denn in der Welt des Felix Klein gibt es offenbar nur den edlen Juden, der nie etwas falsch macht und stets das Opfer ist. Dieses Narrativ hat Schaden erlitten, weil Gil Ofarim handelte wie unzählige nichtjüdische Menschen auch. Er hat einen Fehler gemacht und stand dafür vor Gericht. Kommt vor. Man muss daraus kein Drama machen. Wer nun schlussfolgert, Gil Ofarim habe gelogen, weil er Jude ist, bedient finsterste Vorurteile. 

Genau in dieser Situation ist Felix Klein auf die Seite von Karl Groß gewechselt. Statt zu erklären, dass Menschen unabhängig von ihrer Religion fehlbar sind, sieht er in Gil Ofarims Verhalten Anlass zum „Judenhass“. Denn offenbar denkt er, dass ein lügender Jude genau in das allgemeine Bild vom Juden passt. Ein Klischee, das er als Antisemitismusbeauftragter heftig bekämpfen sollte, wird statt dessen von ihm befeuert. 

Damit hat Felix Klein sich selbst als Antisemit entlarvt. Außerdem hat er im Amt versagt und sollte zurücktreten. 

Layla

Was ist eigentlich „Zivilcourage“?

Das Zigeunerschnitzel und der Mohrenkopf sind verboten„, höre ich immer wieder. Tatsächlich gibt es kein derartiges Verbot. Es wird nur seit Jahren darauf hingewiesen, dass diese Begriffe auf Menschen diskriminierend wirken können und man sie deshalb besser unterlassen sollte. Ergebnis: Die entsprechenden Speisen wurden umbenannt und mit den neuen Begriffen kann (fast) jeder leben. Das ist für mich Demokratie im guten Sinne, denn es hat sich eine Einsicht durchgesetzt und Vernunft walten lassen.

»Ich hab‘ ‚nen Puff und meine Puffmama heißt Layla – Sie ist schöner, jünger, geiler« ist nicht unbedingt die Krönung deutscher Dichtkunst, aber vom Diskriminierungsfaktor weit unter dem Zigeunerschnitzel oder dem Mohrenkopf. Ich wüsste noch nicht einmal, wer sich hier diskriminiert fühlen sollte. Und wenn besonders woke Mitbürger jetzt aufschreien, der Text sei sexistisch, so frage ich nochmals: Wer ist denn davon betroffen? Man weiß ja heutzutage nicht einmal mehr, ob Puffmutter Layla überhaupt eine Frau ist oder … Na, lassen wir das vorerst.

Die Stadt Würzburg hielt es dennoch für angebracht, das Lied auf einem Volksfest zu verbieten. Unabhängig von der durchaus interessanten Rechtsfrage, ob sie das überhaupt darf, ist das für mich schlechte Demokratie. Es ist eigentlich überhaupt keine Demokratie, sondern Obrigkeit.

Wenn Menschen sich an dem Text stören, müssen sie das eben äußern, notfalls demonstrativ das Fest verlassen. Und wenn andere Menschen sich mit den zuerst genannten Menschen solidarisieren möchten, sollten sie dies ebenfalls tun. Und wenn erstmal Gäste im niederen zweistelligen Prozentbereich einfach aufstehen und gehen, dann wird dieses Lied auch nicht mehr gespielt. Es braucht dazu noch nicht einmal eindeutige Mehrheiten.

Protest zeigen und danach handeln, wäre für mich wieder gute Demokratie, aber das hat die Stadt Würzburg leider verhindert.

Völlig unabhängig vom Gossenschlager Layla sehe ich solche Obrigkeitsentscheidungen auch deshalb kritisch, weil sie Zivilcourage verhindern. Wenn der Staat schon vorauseilend verbietet, was vielleicht zu Protesten Anlass geben könnte, dann muss das doch dazu führen, dass immer weniger ihren Protest artikulieren. Denn es genügt ja offenbar, einfach nach dem Staat zu rufen, der sich heutzutage nur zu gerne gegen Mehrheiten auf die Seiten von Minderheiten schlägt. Ist diese Verbotsgesellschaft das, was wir wollen?

Und nur mal ganz am Rande: Auch schlechte Kunst ist Kunst und genießt den Schutz der Verfassung. Wenn Gleichstellungsbeauftragte in Kommunalbehörden entscheiden dürfen, welche Kunst verboten wird, dann heiße ich dies Diktatur und warne vor der weiteren Entwicklung.

Symbolpolitik

Was ist eigentlich „Symbolpolitik“?

Als ich jung war und mich für Politik zu interessieren begann, wurde mein Grips auf eine harte Probe gestellt. Damals (wir reden von den ausgehenden 1970ern), gab es zwei Supermächte, die sich einen erbarmunglosen kalten Krieg lieferten. Begonnen hatte der wohl schon in den 1950ern, als Supermacht A zu Supermacht B sagte: „Schau her, wieviele Atombomben ich habe, damit kann ich dich platt machen.“ B kurbelte daraufhin seine Rüstung an und antwortete kurz später: „Ätsch ich habe genug Bomben, um dich zweimal platt zu machen“ – und so begann die Rüstungsspirale.

In meiner Jugend stand es etwa 250mal Plattmachen gegen 240mal Plattmachen, aber das änderte sich ständig. „Overkill“ nannten die Supermächte dieses Spiel, in das sie Milliarden und Abermilliarden investierten. Der Rest der Welt schaute gebannt zu.

Aber sonst waren die Zeiten ganz nett, die Miniröcke aufregend kurz und das Leben ziemlich locker. Auf Partys gab es mehr Auswahl an Rauchwaren als an Alkohol, bei dem man nur zwischen Bier und Wein unterschied. Dazu erzählten wir uns Witze über Biafrakinder. Und wer auf die Frage, wie ein solches Kind vom Baum fällt, mit der Hand ein wedelndes Blatt Papier nachahmte, landete einen Brüller. So war das mal.

Allerdings wussten wir damals nicht genau, was Biafrakinder sind und es herauszufinden wäre schwierig gewesen. Denn es gab noch kein Internet, Nachrichten wurden nur abends vor dem Hauptprogramm geliefert und sie berichteten nicht wie heute, was Menschen erregt, sondern ausschließlich, was wichtig war. Biafra war nicht wichtig. Jedenfalls nicht täglich, allenfalls zu Weihnachten, wenn die Kirchen sammelten, weil sie sich für Kinder einsetzten. Das haben wir denen geglaubt.

Irgendwann konnten die Supermächte sich den Overkill nicht mehr leisten, weshalb sie eine Abrüstung vereinbarten. Jeder gelobte, den anderen höchsten 150mal plattzumachen. Das nannte man dann Frieden. Ich war mittlerweile schon etwas älter, ein ganz klein wenig kritisch und geplagt von der Frage, wieviele Biafrakinder wohl nicht sterben müssten, wenn die Supermächte sich darauf verständigen würden, einander wechselseitig nur 50mal plattzumachen. Denn eins war immer schon klar: Einmal platt ist vollständig platt. Jedes weitere Plattmachen wäre ohnehin sinnlos. Logisch war der Overkill also nicht, viel eher eine Zumutung für den Verstand. Politik eben.

Wohin nun mit diesen Sorgen?

Aus dem Blickwinkel der Biafrakinder hätte ich den Pfarrer fragen müssen. Tat ich nicht – zum Glück. Statt dessen löcherte ich den Sozialkundelehrer so lange, bis ihm das Zauberwort entfuhr, welches den Overkill vollends ad absurdum führte: Symbolpolitik. Sie wollten sich gar nicht 50 oder 100 oder 200mal plattmachen, sie wollten nur so tun als ob. Du wirst, geneigter Leser, verstehen, dass ich Politiker seither nicht mehr ernst nehmen kann.

Immerhin betrachte ich die Weltpolitik seither so entspannt wie auf einer verrauchten Party in den 70ern, denn mir ist völlig klar: Die wollen nur spielen. Allerdings ist das Spiel etwas komisch geworden. 100.000 russischen Soldaten im Grenzgebiet setzen wie 2000 amerikanische Soldaten und 5000 deutsche Stahlhelme entgegen. Klingt mehr nach Harakiri als nach Overkill.

Dafür sind die Politikersprüche heute schöner. Sie sagen nicht mehr „Ich mach dich platt“, sondern „Wir verteidigen die Demokratie in der Ukraine.“ Die besteht zwar aus Oligarchie, Korruption, Clanwirtschaft statt Marktwirtschaft und Säureattentaten auf Oppositionelle, aber wir dürfen die Lehren des kalten Krieges nicht vergessen. Denn Politiker wollen etwas nicht wirklich tun, sondern nur so tun als ob.

Was die Frage aufwirft, wozu das Ganze?

Beim Overkill war es relativ einfach. Die Rüsting kostete viel viel Geld, das interessierte Kreise sich eben in die Taschen scheffelten. Und bei der Ukraine? Worum geht es dort wirklich?

Ich weiß es nicht, aber es gibt da eine komplett fertiggestellte Pipeline, genannt North Stream 2. Würde russisches Gas darüber direkt zu uns fließen, müsste es nicht durch die Ukraine gepumpt werden. Allerdings könnte die Ukraine dann auch nichts daran verdienen, unser deutscher Gaspreis würde schlimmstenfalls sogar sinken. Wie hinter jeder Symbolpolitik stecken also auch hinter dem Ukrainekonflikt handfeste wirtschaftliche Interessen.

Warum wir aber teures Gas über die Ukraine beziehen statt günstigeres Gas über North Stream 2 konnte mir noch niemand richtig erklären. Information täte not, aber die ist irgendwie nicht Teil der Symbolpolitik. Denn berichtet wird nicht, was interessiert, sondern was erregt. Fakten zur Ukrainepoliktik gehören wohl nicht dazu.

Schwarzfahrer

Was ist eigentlich ein »Schwarzfahrer«?

Ich!
So einfach lautet die Antwort auf die heutige Frage.
Denn ich kam von einem auswärtigen Gerichtstermin per Zug, genauer gesagt mit dem IC bis Köln und dann mit der Mittelrheinbahn bis Bingen am Rhein. Mein Ticket hatte ich am Startbahnhof gekauft, mit Karte – also nachweisbar – bezahlt und dann eine knapp dreistündige Zugfahrt mit Maske genossen. Zum Glück hatte ich ein gutes Buch dabei.
Als etwa eine halbe Stunde vor Köln der Schaffner nahte, legte ich mein Ticket auf dem Tisch bereit, vertiefte mich wieder in mein Buch, aus dem ich erst wieder auftauchte, als der Zug plötzlich anhielt. Vor dem Fenster sah ich den Dom, aus dem Lautsprecher ertönte etwas von »Anschlusszüge«. Ich sah auf die Uhr und folgerte blitzschnell, dass mir ca. 2 Minuten blieben, um vom Bahngleis hinab und an anderer Stelle wieder hinauf zur Mittelrheinbahn zu eilen. Jetzt aber hurtig!
Mit einem Koffer und einer Aktentasche hechtete ich los, raus aus dem IC, eine Treppe hinab und … verdammt … das Ticket. Wieso hatte der Schaffner mich eigentlich nicht kontrolliert?
Kurzes Abwägen: Ohne Ticket wird´s schwierig. Also Treppe wieder hoch, doch der IC rollte soeben aus dem Bahnhof. Was nun? Schalter? Automat? Nicht wenn die verbliebene Zeit im Sekundenbereich liegt. Also nochmal Treppe runter, Gang entlang, Treppe hoch und ab in die Mittelrheinbahn. Gerade noch so erreicht.

Du hast, geneigter Leser, jetzt wahrscheinlich Szenen vor Augen von Menschen, die im Zug ihr Ticket lösen. Aber das war vor langen Zeiten einmal so. Heutzutage wird so etwas über AGB geregelt und die lauten: Ohne Ticket ist das Mitfahren verboten.
Bis Bonn saß ich auf glühenden Kohlen, etwa bei Boppard sah ich sie nahen und kurz später musste ich öffentlich den entwürdigenden Satz sagen: »Ich habe kein Ticket.«
Als sei das nicht schon Strafe genug, gab´s umgehend 60 EUR obendrauf und den gut gemeinten Hinweis, meine Story dem Kundenservice zu schildern. »Das klingt ja jetzt wirklich nachvollziehbar«, meinte die Schaffnerin noch. Aber ich sah ihr bereits an, dass ich mit Kulanz nicht zu rechnen hatte.
Eine lange erklärende E-Mail meinerseits und einige Tage später dann die Antwort vom »Team Kundencenter« der Trans Regio Regionalbahn:

»Ihren Widerspruch gegen das erhöhte Beförderungsentgelt haben wir geprüft. Aufgrund der nicht vorhandenen persönlichen Fahrkarte, können wir Ihren Widerspruch nicht anerkennen.«

Ja wie schwachsinnig ist das denn??? Mit einer vorhandenen Fahrkarte wäre das Problem doch gar nicht entstanden!

Einmal noch habe ich geantwortet, darauf hingewiesen, dass ich zwei Wochen vorher statt wie zugesagt um kurz vor Mitternacht erst morgens um 6 Uhr meinen Zielbahnhof erreicht und die halbe Nacht auf einem Bahnhof verbracht hatte. Wegen Verspätungen der Bahn. Aber ich war wohl einer Antwort nicht mehr würdig. »Team Kundencenter« hatte mich bereits abgehakt.

Manchmal denke ich darüber nach, was ich anders machen würde, wenn ich nochmal in solch eine Situation geriete. Aber ich sehe nur einen Ausweg: Es wieder zu tun. Weil es keine andere Möglichkeit gibt, außer vielleicht ordnungsgemäß ein Ticket zu lösen und einen späteren Zug zu nehmen (der dann sechs Stunden später ankommt?). Dann lieber eine Schwarzfahrt für 60,- EUR. Wartezeit ist schließlich auch Geld.

Damit komme ich zu der Diskussion darüber, ob das Wort vielleicht diskriminierend sein könnte. Wie häufiger bei Auseinandersetzungen um »gerechte Sprache« fehlt mir mal wieder jedes Verständnis für das Problem. Woher das Schwarze im Schwarzfahrer kommt, ist meines Wissens noch ungeklärt. Vieles spricht jedoch dafür, dass es vom jiddischen Wort «shvarts» (Armut) kommt. Im Namen eines Toleranzhypes löschen wir also gerade wieder einmal Reste jüdischen Lebens in Deutschland aus.

Mag sein, dass ich in den Augen von »Team Kundencenter« deshalb doch kein Schwarzfahrer bin. Doch ich trage das Etikett durchaus mit etwas Stolz. Aus dem Gefühl heraus, alles richtig gemacht zu haben und doch abgestempelt worden zu sein, vielleicht sogar eine Straftat begangen zu haben, nur weil es nicht mehr möglich ist, im Zug zu zahlen. Es mahnt mich, wie schnell man an einer technisierten Welt scheitern kann.

Warum ich nicht gendere

Was ist eigentlich „gerechte Sprache“?

Cäsar hat Gallien erobert – lernten und lernen Kinder in der Schule. Aber war es tatsächlich so? Oder erledigten nicht etliche Legionen an Soldaten für ihn die Drecksarbeit? Bis auf wenige (Titus Pullo & Lucius Vorenus) sind sie alle vergessen. Einzig Cäsar kennt jedes Kind, nur Einer von Hunderttausenden blieb unvergessen. Schuld daran ist – die Sprache. Weil sie ganze Legionen einfach unterschlägt. Denn wer Cäsar sagt, meint alle anderen mit. Was zweifelsohne ungerecht ist gegenüber all den Namenlosen von damals. Doch wie sollte man vom Gallischen Krieg so berichten, dass es allen gerecht wird? Etwa: Cäsar und Titus Pullo und Lucius Vorenus und und und … haben Gallien erobert. Das wäre eine gegenüber jederman gerechte, aber keine sprechbare Sprache.

Denn Worte sind ohnehin nur Formeln für Sachverhalte. Der Baum könnte ebenso gut Haus oder Tisch heißen. Nur wurde er irgendwann eben als Baum benannt. Seither verbinden wir mit diesem Wort die ganze Bandbreite vom nachweihnachtlichen Fichtengerippe, das am Straßenrand seiner Entsorgung harrt bis zum gigantischen Mammutbaum, den selbst ein Dutzend Leute nicht gemeinsam umarmen können. Das Wort Baum weckt in uns binnen Sekunden wohl mehr Vorstellungen, als wir im Laufe eines Tages konkret in Worte fassen könnten. Gerade deshalb genügt dieses eine Wort.

Du wirst, geneigter Leser, nun erkennen, dass jeder Mensch sich unter einem Baum etwas völlig anderes vorstellt. Dennoch braucht es weder Binnen-I noch Gender-Sternchen, vor allem nicht hunderte Begriffe für die hundertfachen Erscheinungsformen der Bäume. Denn die Sprache lässt uns die Freiheit, dass jeder sich einen Baum so denken kann, wie er möchte.

Und nun schauen wir uns Artikel 62 des Grundgesetzes an: „Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern“, lesen wir dort und sogleich werden viele aufschreien: Es muss doch, wenn wir eine gerechte Sprache wollen, „BundeskanzlerIn“ heißen! Muss es das?

Die sogenannten „Väter des Grundgesetzes“ (es waren übrigens auch Mütter dabei) konnten sich wahrscheinlich als Bundeskanzler nur einen Mann vorstellen. Aber war dies die einzige Vorstellung, der sie verhaftet waren? Konnten sie sich den Bundeskanzler als 18jährigen Hippie vorstellen? Als bekennenden Muslim mit Vollbart und Gebetsmütze? Als Schwarzen? Wohl kaum! Ihr Bild vom Bundeskanzler war das vom alten, weißen, christlich geprägten Mann. Es dürfte Angela Merkels Verdienst sein, dass wir heutzutage einen Bundeskanzler wie selbstverständlich auch als Frau denken können – ohne Art. 62 GG je geändert zu haben. Frau Merkel ist als Bundeskanzler auch ohne Binnen-I längst in unseren Köpfen.
Aber: Eine jugendliche Bob-Marley-Kopie entspräche nach wie vor nicht dem mehrheitlichen Bild von einem Bundeskanzler, selbst wenn wir Art. 62 GG in „BundeskanzlerIn“ änderten. Um Chancengleichheit durch gerechte Sprache zu schaffen, müsste folglich das Wort Bundeskanzler so verändert werden, dass es den 18jährigen Hippie, den bekennenden Muslim mit Vollbart und Gebetsmütze, den Schwarzen und viele andere mehr wie selbstverständlich mit symbolisiert. Doch welches Wort könnte diese Möglichkeiten allumfassen? Oder gibt es dieses Wort vielleicht schon, weil „der Bundeskanzler“ jede mögliche Besetzung dieser Position bereits enthält? Wenn jeder sich den Baum denken kann, wie er will, hat auch der Bundeskanzler als nacktes Wort das Potential, in jeder möglichen Besetzung gedacht zu werden. Es muss nur einer kommen, der es vorlebt.

Die »BundeskanzlerIn« als angeblich gerechtere Sprache erfasst die Frauen. Mehr nicht. Alle anderen Facetten des Wortes blendet sie aus und entlarvt sich damit selbst als diskriminierend. Worauf es ankommt ist nämlich nicht die äußere Form, sondern der Inhalt. Eine Eiche ist ein Baum, eine Linde ist es auch; Adenauer war Bundeskanzler, Merkel ist es nicht minder. Worte lassen sich mit Inhalt füllen, aber diese Eigenschaft geht ihnen verloren, wenn man ihre Form verändert. Das Binnen-I schränkt die Bedeutung ein, es hat folglich nichts Gerechtes, sondern ist limitierend und ausgrenzend.

Ich lehne es daher ab, mich irgendeiner Gendersprache zu bedienen, deren Beitrag zur Gerechtigkeit sich mir nicht erschließt. Sinnvoller scheint mir, Sprache dort zu verändern, wo sie Taten oder Untaten hinter dem Namen einzelner Personen versteckt. Und damit wären wir wieder bei Cäsar und seinen Legionen der Niegenannten, der rhetorisch einfach Ausgeblendeten. Ihretwegen bedarf es weder Gender-Sternchen noch Binnen-I in unserer Sprache, es braucht Gerechtigkeit für Titus Pullo.

In memoriam FJS

Wie weit geht eigentlich die „Meinungsfreiheit“?

Eine der Merkwürdigkeiten unseres Strafrechtssystems ist, dass es dem Mörder nur 2 Instanzen gewährt, dem Ladendieb immerhin 3 und dem Pöbler sogar 4. Denn wer vom Amtsrichter wegen Beleidigung verurteilt wird, kann nach dem Land- und Oberlandes- noch das Bundesverfassungsgericht anrufen. Und dies sogar mit guten Erfolgsaussichten. Die Grenze zwischen einer strafbaren Beleidigung und einer zulässigen Meinungsäußerung ist schwammig. Du wirst, geneigter Leser, dich wahrscheinlich einfach nur wundern, wenn man dich freispricht, obwohl du Polizisten „dumm, unfähig, schikanös, machtversessen und niveaulos“ nanntest, aber oft nutzt man solche Formulierungen ja nur, weil man einem anderen mal so richtig die Meinung geigen will. Und wenn die Meinung betroffen ist, egal ob gegeigt oder gesungen, wackeln womöglich die Fundamente unserer Verfassung. Darum wird ein solches Urteil „ganz oben“ nochmal überprüft.
(Meine Auswertung der verfassungsgerichtlichen Judikatur hat ergeben, dass nur eine Gruppe wirklich sicher ist vor Pöbeleien: die Richter).

Früher, als angeblich alles noch besser, der Himmel weiß-blauer und die Politiker originaler waren, nannte einer von denen mal einen anderen:

„eine armenische Mischung aus marokkanischem Teppichhändler, türkischem Rosinenhändler, griechischem Schiffsmakler und jüdischem Geldverleiher und ein Sachse.“

Dieses Zitat hätte heutzutage hinreichend Potential, von der öffentlichen Empörung bis zum Staatsanwalt jeden auf den Plan zu rufen, der oder die gerade nichts zu tun hat, schon immer mal was sagen wollte und am liebsten alles verbieten möchte. Es würde mindestens als Ehrverletzung, wahrscheinlich sogar als Volksverhetzung gedeutet, locker ein Sommerloch füllen und schneller zum Rücktritt des Zitatverfassers führen, als ein Andreas Scheuer überhaupt Maut sagen kann.

Denn es gilt als Fortschritt, alle Klischees über andere Nationen, Religionen, Regionen, Professionen usw. zu unterdrücken. Je bildhafter, blumiger, bunter die Sprache, desto größer die Gefahr, dass sich irgendwer angeblich beleidigt fühlt. Vorausgesetzt, eine bestimmte Wortwahl wurde bereits von anderen als rassistisch oder sexistisch definiert. Selbst hätte der angeblich Beleidigte es oft gar nicht bemerkt.

Der jüdische Geldverleiher dürfte zwar damals bereits grenzwertig gewesen sein, dem türkischen Rosinenhändler wird man aber erst heute und nur zwecks Bauchbepinselung seines despotischen Staatspräsidenten eine Ehrverletzung zugestehen. Der marokkanische Teppichhändler wartet nach meiner Einschätzung gerade auf seine Entdeckung durch unsere Oberkorrektoren. Er könnte kurzfristig zum Unwort werden – oder auch nicht. Korrekte Sprache ist Glückssache. Der griechische Schiffsmakler schließlich kann sich grün und blau über diese Titulierung ärgern, hat aber kaum Chancen auf dem Index zu landen. So ungerecht ist die Welt.

Wer darüber entscheidet, was man bedenkenlos sagen darf und was nicht, wabert im Dunkeln. Eine offizielle Zensurstelle gibt es nicht. Mir scheint, die Aufseher über unsere Sprache sitzen noch nicht einmal in Regierungskreisen. Sie haben es lediglich geschafft, sich durch dauerndes öffentliches Empörtsein zur pseudomoralischen Instanz aufzuschwingen. Irgendeine Autorität ist damit nicht verbunden, die braucht es aber auch nicht, denn es zählt allein der einschaltquotenrelevante Heulsusenfaktor.

Wegen des obigen Zitats würden sie aktuell wahrscheinlich medienwirksam in Ohnmacht fallen. Doch als es seinerzeit ausgesprochen wurde, blieb es folgenlos für den Verfasser Franz-Josef Strauß und den so gescholtenen Hans-Dietrich Genscher. Denn zu jener Zeit durfte man so etwas sagen, was aus der Vergangenheit wirklich einmal die gute alte Zeit macht. Hauptstadt war damals noch nicht das glas- und stahlstrotzende Berlin, sondern das verschnarchte zementklotzige Bonn. Zumindest mir aber wird wehmütig ums Herz wenn ich zurückdenke, wie frei wir damals reden durften.

Diversity

Von falsch verstandener Toleranz

Dieser Tage schwadroniert das Anwaltsblatt über: „Diversity: Tipps für mehr Vielfalt in Kanzleien“. Dadurch durfte ich erfahren, dass das „Wording“ in Stellenanzeigen zu einem „Confidence Gap“ führen kann, weshalb man versuchen müsse, mögliche „Unconscious Bias“ aufzudecken. Soweit so normal, Inhaltsleere wird ja heutzutage gerne durch Fremdwörter kaschiert.
Informativ war dann aber der Nachtrag zu dem Artikelchen, wo als „Begriffserklärung“ erläutert wurde:

Die Bezeichnung weiß wird hier kursiv geschrieben, um zu betonen, dass es sich um keine reale (Haut-)Farbe, sondern um ein politisches/gesellschaftliches Konstrukt handelt.

Allein daran ist schon zu erkennen, dass wir es mit einer Ideologie zu haben, denn wenn Alltagssprache plötzlich nur in einem bestimmten Sinn verstanden werden soll, wird das freie Denken bereits eingeschränkt.

Weiter geht die „Begriffserklärung“ dann wie folgt:

Person of Color (sing.), People of Color (pl.), PoC (Abk.): selbstgewählte Bezeichnung vieler nicht-weißer Menschen, mit der die unterschiedlichsten sogenannten ethnischen Herkünfte zusammengefasst werden können.

Eine klassische Finte aus dem Arsenal der rhetorischen Taschenspielertricks. Denn während weiß zuvor definiert wurde als keine reale (Haut-)Farbe, wird über die Kehrseite des Wortes doch wieder dessen eigentlicher Sinn betont, wird dem Leser durch den Begriff nicht-weiß klammheimlich untergejubelt, das Gegenteil von Color sei eben nicht nur ein politisches/gesellschaftliches Konstrukt, sondern die konkrete (Haut-)Farbe.

Ich stehe nicht vor dem Problem größerer Personalanwerbungen, weshalb ich mir wenig Gedanken darüber machen muss, wie ich meine Mitarbeiterstruktur möglichst bunt gestalte. Aus dem gleichen Grund habe ich mir noch keine abschließende Meinung über Diversity gebildet. Aber ich verspüre Unbehagen, denn offensichtlich und entgegen der scheinheiligen „Begriffserklärung“ bin ich ja doch nur wegen meiner Hautfarbe bereits ein „politisches/gesellschaftliches Konstrukt“, das der Lebensplanung aller People of Color im Wege steht.

Mir scheint da eine neue Toleranzwelle auf uns zuzurollen, die den gleichen Fehler in sich trägt, wie so viele davor, denn sie transportiert nicht Vorurteilsfreiheit gegenüber dem Anderen, sondern Diskriminierung des Eigenen. Weil es andere Nationen gibt, sollen wir uns der eigenen schämen, weil es andere Religionen gibt, die eigene nicht mehr öffentlich praktizieren, weil es andere Geschlechter gibt, das eigene verleugnen. Das halte ich für einen Irrweg.

Von Toleranz als Chancengleichheit für Minderheiten bin ich ein großer Freund. Aber zugleich bin ich eben ein alter weißer Mann und noch so viele People of Color werden dies nicht ändern, weil man es nämlich gar nicht ändern kann.

Habecks Denkfehler

Gibt es eigentlich ein „Recht auf Rasen“?

Robert Habeck weiß das Sommerloch zu nutzen. Denn wer verkündet, im Falle einer Regierungsbeteiligung seiner Partei werde ein generelles Tempolimit auf Autobahnen kommen, dem ist in Deutschland Aufmerksamkeit gewiss, selbst wenn es derzeit überhaupt keinen Grund gibt, über eine derartige Regierungsbeteiligung nachzudenken.

Den Juristen interessiert an dieser Erklärung weniger das politische Tamtam, sondern eher die rechtlichen Ausführungen, die Habeck gleich mitgeliefert hat. Denn der Slogan „freie Fahrt für freie Bürger“ genießt hierzulande so etwas wie Verfassungsrang. Der deutsche Michel bleibt relativ gelassen, solange Polizeigesetze und Strafprozessreformen seine Rechte zunehmend einschränken, aber er wird zum Revolutionär, wenn er den Fuß vom Gas nehmen soll. Bürgerrechte seien durch das Tempolimit aber gar nicht in Gefahr, lässt Habeck dazu verlauten, denn es gebe kein Recht auf Rasen. Da zeigt sich der Unterschied zwischen Politik und Juristerei, denn Juristen definieren zuerst und formulieren dann Argumente. Bei Politikern ist es umgekehrt. Wer sich zum Recht auf Rasen qualifiziert äußern möchte, sollte zuerst begründen, was er unter Rasen versteht. Darum dreht sich nämlich die Diskussion: Weshalb sollte auf einer 4spurigen Autobahn das Überholen mit 150 Km/h Raserei sein?

Ein Habeck gibt sich mit solch gedanklicher Basisarbeit nicht ab, denn er ist nicht Denker, sondern Dogmatiker. Das Ergebnis steht für ihn fest: Über 130 Km/h ist Raserei. Daher begeht er einen Fehler, der in der Rhethorik zutiefst verpönt ist. Er begründet eine Behauptung mit der Behauptung selbst. Hätte Habeck gesagt: „Die Sonne scheint mit 30 Grad, also ist Sommer„, wäre er vielleicht als Logiker durchgegangen. Aber er sagt letztlich, dass die Sonne mit 30 Grad scheine und darum wohl eine Sonne sei.

Dies nennt man einen Zirkelschluss. Er disqualifiziert das Scheinargument ebenso wie den, der es vorbringt.

NSU

SS – NS – NSU

Am Landgericht Hamburg läuft derzeit – 75 Jahre nach Kriegsende – ein Strafverfahren gegen einen früheren KZ-Wächter. Es geht um Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. Frühere Prozesse dieser Art betrafen 28.060 Opfer (John Demjanjuk), 300.000 Opfer (Oskar Gröning) oder gleich all die Millionen Toten (Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse). In all diesen und vielen anderen Verfahren ging es um oftmals namenlose Tote, von denen vor Gericht wenig bis nichts bekannt wurde. Waren sie groß oder klein? Trugen sie Locken oder Glatze? Sprachen sie deutsch oder nicht? Niemand weiß es, die Justiz musste nur feststellen, dass sie tot sind. Denn in § 211 StGB steht etwas vom Töten eines Menschen. Weil alle Menschen rechtlich gleich viel Wert sind, weil das Strafrecht zumindest bei Mord nicht differenziert.

Juristen haben diese Grundsätze verinnerlicht. Sie interessiert nicht, ob ein Mordopfer arm oder reich, schön oder hässlich, alt oder jung war. Zumindest postmortal wird damit der Obersatz unserer Verfassung verwirklicht: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Aber wehe, wehe, wehe! Wenn Opferanwälte ins Spiel kommen, dann wird es plötzlich wichtig, dass die Opfer „Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen“, dann sollen Gerichte den Opfern plötzlich ein Gesicht geben, damit die Ermordeten nicht nur „austauschbare Statisten“ sind. Und geschieht dies nicht, dann hagelt es heftige Kritik so wie jetzt von den Nebenklagevertretern im Münchener NSU-Prozess. Und natürlich fehlt es auch nicht an der immergleichen Forderung, die Opfer wollten „Aufklärung“, was immer auch damit gemeint ist. Denn egal wie umfangreich das Gericht auch aufklärt, den Opfervertretern ist es ohnehin nie genug.

Ich hoffe, die vehementen Kritiker hatten wenigstens real existierende und nicht bloße Phantom-Mandanten.

Man kann es jedenfalls nicht oft genug sagen: Der Strafprozess ist keine Trauerbewältigung für Opfer! Das Gericht muss in einem Mordprozess lediglich feststellen, dass ein Mensch – und zwar irgendein Mensch – tot ist. Dann braucht es noch ein Mordmerkmal und einen Vorsatz. Dagegen tritt eine Verteidigung an, die naturgemäß mauert, die verhindern will und muss, dass die Strafkammer (im NSU-Verfahren sogar ein Senat) die notwendigen Feststellungen trifft.
Basta!

Es liegt in der Natur der Sache, dass hinter dem Ermordeten tragische Schicksale stehen, insbesondere der Angehörigen und Hinterbliebenen. Die müssen gewiss auch bedacht werden. Aber sie können weder ungeschehen gemacht, noch auch nur gemildert werden, wenn ein Gericht seinem 3025-Seiten-Urteil noch ein paar Zeilen Empathie für die Opfer hinzufügt.
Aus meiner Sicht ist derartige Urteilsschelte grober Unfug. Denn alle Menschen sind gleich und die Millionen Opfer der NS-Verbrecher nicht weniger wert als die des NSU.

Demokratische Zumutung

Die demokratische Zumutung

Derzeit sind die Verwaltungsgerichte nicht zu beneiden.
Ebensoschnell wie die Landesregierungen Corona-Schutzverordnungen erlassen, wird auch von Bürgern oder Unternehmen dagegen geklagt. Das Mittel der Wahl ist dabei regelmäßig das sogenannte Eilverfahren. Denn es scheint ziemlich sinnfrei, den normalen Klageweg zu beschreiten, um dann in einigen Jahren letztinstanzlich zu erfahren, ob im Mai 2020 ein bestimmtes Geschäft öffnen, ein bestimmter Schüler zur Schule gehen, ein bestimmter Demonstrant sein Plakat spazierentragen durfte. Daher müssen die Gerichte Rechtsfragen schnell klären, am besten schon gestern.

Das Eilverfahren läuft so ab, dass man einen Antrag bei Gericht einreicht, die Gegenseite bekommt ein oder zwei Tage Gelegenheit zur Stellungnahme und dann wird entschieden. Meist läuft das innerhalb einer Woche. Der elektronische Rechtsverkehr führt zusätzlich zu einer Beschleunigung.

Man kann in dieser Situation ruhig einmal stolz sein auf unser Rechtssystem! Ich weiß nicht, ob in anderen Ländern so zügig Rechtsschutz gewährt wird.

Was da unter Hochdruck so herauskommt, wirkt allerdings bisweilen erstaunlich.

Nehmen wir nur mal die 800 m²-Regel, also die seltsame Vorschrift, dass Geschäfte mit einer Fläche von 799 m² öffnen dürfen, solche mit einer Fläche von 801 m² nicht. Ähnlich willkürlich wie die Vorschrift selbst erscheinen auch die dazu ergehenden Gerichtsbeschlüsse. In Sachsen-Anhalt, Hamburg und Niedersachsen halten die Oberverwaltungsgerichte die Regelung für wirksam; in Bayern und im Saarland nicht. Behauptet zumindest die Presse. In Wirklichkeit stimmt das in dieser Allgemeinheit nicht, denn die Gerichte entscheiden nur den konkreten Fall. Sie kippen also nicht gleich eine ganze Verordnung, weshalb theoretisch jeder einzelne Händler sein Glück selbst versuchen muss.

Manchmal reagiert aber auch das jeweilige Bundesland auf eine Gerichtsentscheidung und passt die Rechtsgrundlagen an. Dies kann zugunsten aller anderen sein, denen dann die gleichen Rechte gewährt werden. Es kann aber auch zu Lasten des siegreichen Klägers sein, denn wenn ein Verbot beispielsweise nur wegen eines Formmangels vom Gericht aufgehoben wurde, kann das Bundesland einfach diesen Formfehler beheben und das Verbot erneut – diesmal formwirksam – erlassen.

Der Flickenteppich des Rechts in unserer Republik wird dadurch immer bunter. Und er kann sich täglich ändern. War es das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vom 23.4.20 als „demokratische Zumutung“ bezeichnete? Oder war es die Tatsache, dass die Gewaltenteilung in diesem Land etwas – euphemistisch formuliert – verschlankt wurde?

Denn was die Justiz im Eilverfahren leistet, ist die Kontrolle der Exekutive, also des Regierungshandelns. Die Legislative, deren Aufgabe es eigentlich wäre, das Handeln der Regierung zu regeln und zu kontrollieren, ist de facto ausgeschaltet. Regiert wird mit Verordnungen, zwar nicht zum Schutz von Volk und Staat, sondern zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, aber dennoch in einer Art und Weise, wie es sie zuletzt nach dem Reichstagsbrand gab.

Wenn alles vorüber ist, wenn die Aufarbeitung beginnt, wird man sich fragen, wie es dazu kommen konnte, zu einer Entmachtung der Parlamente und Ermächtigung der Regierungen. Dann wird man vielleicht auch die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin unter die Lupe nehmen: „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung; denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind – die der Erwachsenen genauso wie die der Kinder. Eine solche Situation ist nur akzeptabel und erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar sind, wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört werden – wechselseitig. Dabei hilft die freie Presse. Dabei hilft unsere föderale Ordnung.“ Das hat sie gesagt und damit klassisch um den heißen Brei herumgeredet.

Denn nicht die Pandemie schränkt unsere Rechte ein, sondern Sie, Frau Bundeskanzlerin. Und nicht die freie Presse hat Ihnen auf die Finger zu schauen, sondern der freie Abgeordnete.

Die Dienste als Verfassungsfeinde

Operation Rubikon

49 v. Chr. – Cäsar überschreitet den Rubikon. So lernen Schüler (hoffentlich immer noch) in Geschichte. Haben sie dazu noch Latein, müssen sie zusätzlich das berühmte „Alea iacta est“ mit diesem Ereignis verbinden und fleißig diskutieren, ob dies nun mit „Der Würfel ist gefallen“ oder „Die Würfel sind geworfen“ zu übersetzen sei, bevor sie erfahren, dass der Bildungsbürger Julius Cäsar den Spruch wahrscheinlich auf Griechisch rezitierte: ἀνερρίφθω κύβος.

Aus juristischem Blickwinkel war der Schritt über den Rubikon nicht weniger als ein Staatsstreich. Denn Cäsar war damals Prokonsul und genoss als solcher juristische Immunität. Wegen der zahllosen Straftaten, die ihm den Aufstieg zum mächtigsten Mann der Welt erst ermöglicht hatten, konnte er nicht angeklagt werden. Doch seine Amtszeit als Prokonsul lief ab, die begehrte Wahl zum Konsul, die ihm erneut Immunität gesichert hätte, hatten sein Gegner verhindert. Und darum stand der mächtige Cäsar am 10. Januar des besagten Jahres am Rubikon, dem Grenzfluss zwischen römischem Kerngebiet und der Provinz gallia cisalpina.

Drüben in der Provinz war er unantastbar – noch. Doch mit Überschreiten des Flusses würde er unweigerlich die Immunität verlieren, wäre nur ein gemeiner Verbrecher am Ende seiner Karriere. Darum entschied er sich, den Rubikon unter Waffen und mit seiner Legion zu überschreiten. Denn er wollte sich dem Recht nicht beugen. Der Rest ist bekannt: Die Republik starb (heldenhaft mit Cato in Utica), ein gallisches Dorf leistete Widerstand, Antonius und Kleopatra lieferten sich eine filmreife Liebesgeschichte und ein blasses, pickeliges Jüngelchen namens Octavian heimste 18 Jahre später als Kaiser Augustus die Lorbeeren ein.

Dieser Tage ist es hilfreich, sich solche Zusammenhänge nochmals zu verdeutlichen. Denn wir wissen nun sicher, dass BND und CIA jahrzehntelang rechtswidrig die Regierungskommunikation anderer Länder abgehört haben. Der deutsche Geheimdienst hat deutsches Recht gebrochen – ständig und massiv.

Dies alles wäre noch erträglich, denn der BND bricht ständig das Gesetz, er kümmert sich einen Dreck um den Rechtsstaat, ist wie alle Geheimdienste ein Staat im Staat, nichts anderes als eine kriminelle Vereinigung. Unerträglich wird der Vorgang erst durch den Namen: Operation Rubikon.

Wer sein Projekt so nennt, der will damit zum Ausdruck bringen, dass er sich als über dem Recht stehend betrachtet, sich an kein Gesetz gebunden fühlt, die Rechtsordnung zutiefst verachtet. Wer diesen Namen wählt, der überschreitet bewusst eine Grenze, streift die Fesseln der Gesetze endlich ab und – begeht Verfassungsbruch.

Vielleicht glaubt der BND ja tatsächlich, im Interesse der Bundesrepublik gehandelt zu haben. Aber es steht ihm nicht zu, dieses Interesse selbst zu definieren, denn dafür gibt es ein Parlament, dessen Wille ignoriert wurde.

Die Operation Rubikon ist darum auch heute noch das, was sie schon zu Cäsars Zeiten war: ein Staatsstreich.

Selbstreflexion

Selbstreflexion

Selbstreflexion ist nicht die Stärke der Juristen. Wir haben das Gesetz auf unserer Seite, das gibt Rückhalt. In Romanen nehme ich mir aber hin und wieder doch die Zeit, über meinen Beruf nachzudenken. Anlass dazu hatte beispielsweise die Hauptfigur in „Rheingold! Reines Gold“ bei der Rückkehr von einem Mandantengespräch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Einrichtung.

„Erst als ich mich im Auto zurücklehnte, um nochmals die Gebäude der Klinik zu betrachten, begann ich, über die vielen Insassen dieser Einrichtung nachzudenken. Einige Augenblicke stellte ich mir vor, wie das für sie sein mochte, in der Psychiatrie eingesperrt zu sein, gegebenenfalls sogar in der geschlossenen Abteilung.
Dann startete ich den Motor, fuhr davon, besann mich wieder auf meinen Fall, der mir jetzt gerade viel wichtiger erschien. In meinem Kopf wurden die abgeschobenen, teilweise völlig hilflosen, ausgelieferten Patienten umgehend verdrängt von einem schnöden juristischen Problem.
Das ist der Fluch der Juristen, vielleicht sogar aller Menschen, die mit dem Kopf arbeiten. Das Gehirn mag ein phänomenales Werkzeug sein, aber es denkt grundsätzlich nur so, wie man es lenkt. So wie bei einem Buch stets die Seite die wichtigste ist, die man gerade liest, so dreht sich das Gehirn nur um das Thema, das man gerade aufruft. Je besser es trainiert ist, je konzentrierter es zu arbeiten gelernt hat, desto perfekter unterbindet es Gedanken, die dabei stören. Selbst das Nachdenken über ein menschliches Schicksal lässt sich einfach abschalten und durch ein anderes Thema ersetzen.
Mag sein, dass irgendwo im Unterbewusstsein noch das Mitgefühl sein Recht fordert, der aktive Teil des Gehirns weiß von ihm nichts. Deshalb sind Juristen fähig, so emotionslos zu handeln. Unsere Geistestätigkeit gilt schließlich durchweg bestimmten Lebenssachverhalten, die wir konsequent in die Schemata der  Gesetze pressen.
Andere Köpfe widmen sich Zahlen, Naturerscheinungen oder technischen Phänomenen. Der Jurist befasst sich mit dem Leben selbst, das er zur Theorie macht, zu einem gedanklichen Modell. Es ist geradezu seine Aufgabe, das Leben zu bewältigen, indem er es negiert. Immerzu zerlegt er es in Momentaufnahmen, die dem Gesetz unterworfen sind. Was Leben letztlich ausmacht, nämlich dass es stets weitergeht, ist dem juristischen Denken fremd.
So wie der Film aus unzähligen einzelnen Bildern besteht, zerhacken wir Leben in konkrete Fälle. Stets definieren wir präzise jede singuläre Situation so, als sei es unser ureigenstes Recht, den Film, der Leben heißt, jederzeit anzuhalten.
Kein anderer Beruf ist so nah dran am Leben und zugleich so weit weg. Daher auch die Gefühllosigkeit unseres Berufsstandes, unser sklavischer Drang nach Versachlichung, unsere Ignoranz gegenüber dem Konkreten.“

Wahlrecht

Bundestagswahl 2017

In Berlin ist die Aufregung groß wegen der nicht zustande gekommenen Jamaika-Koalition. Dabei ist noch immer nicht geklärt, ob die letzte Bundestagswahl gültig war. Ernstzunehmende Stimmen halten die Wahl für verfassungswidrig wegen der zu hohen Zahl an Überhangmandaten. Denn das BVerfG hat bereits am 25.7.2012 geurteilt, dass mehr als 15 Überhangmandate unzulässig sind (BVerfGE 131,316).

Das Wahlrecht steht im Brennpunkt machtpolitischer Interessen. Darum wurde es immer nur halbherzig reformiert. In dem Büchlein „Dexheimers Gedanken“ habe ich mir vor längerem bereits Gedanken darüber gemacht, was man am Wahlrecht noch so ändern könnte:

Heute vor 60 Jahren trat das Bundeswahlgesetz in Kraft, dessen wesentliche Neuerung die 5%-Sperrklausel war. Umfragen aus jener Zeit belegen, dass die Mehrheit der Deutschen statt dessen lieber einen Einparteienstaat gehabt hätte. Da war wohl die jüngere Geschichte noch nicht ganz verarbeitet.
Heutzutage wird am Wahlrecht nur noch wegen der Überhangmandate herumgedoktert. Ansonsten gilt es als bewährt. Als ob es nicht immer noch etwas zu verbessern gäbe.

Anlässlich der Präsidentschaftswahl im Iran ist mir eine nette Regelung dort – ja, bei den bösen Mullahs – aufgefallen: Wenn nämlich am Ende des Wahltages noch großer Andrang herrscht, kann jeder lokale Wahlleiter die Wahlzeit notfalls bis Mitternacht verlängern. Das ist doch mal echt bürgerfreundlich.
Bei uns muss unabänderlich um 18 Uhr feierlich das Ende der Wahl verkündet werden, damit zwei Stunden später die Berliner Runde zusammentreten kann. Dort schwadronieren sie dann über den Wählerwillen.

Ein zeitlich offener Wahlausgang würde dieses Ritual vereiteln, weshalb Parteien und Medien in trauter Eintracht verhindern werden, dass die Wähler auch nur eine Minute mehr zur Stimmabgabe erhalten.
Alle Macht geht vom Volke aus? Ich fürchte eher, alle Macht geht dem Volke aus.

Austausch

Kollegialer Austausch

Juristen, die sich als „teamfähig“ oder „Teamplayer“ bezeichnen, sind mir suspekt. Das juristische Arbeiten findet im Kopf statt und ist von taktischen Erwägungen geprägt. Schlechte Voraussetzungen für Teamarbeit. Man spielt ja auch nicht Schach als Team. Insbesondere Strafverteidiger sind Einzelgänger.
Ein kollegialer Austausch hin und wieder schadet aber nicht. Man kann ja ruhig mal über den Tellerrand hinausschauen oder sich dafür interessieren, was Kollegen so machen.
Bei einem solchen Austausch ist vor Jahren einmal ein Bild von mir entstanden, das ziemlich treffend zeigt, wie ich mich am liebsten austausche.

Kollegialer Austausch

Mee too

Mee too schon wieder verpufft?

Eine Juristin wird in der Referendarzeit ausfällig gegenüber ihrem Ausbilder. Die Anwaltskammer verweigert ihr deshalb die Zulassung zum Anwaltsberuf, weshalb sie sich durchklagt und letztlich vor dem Bundesverfassungsgericht gewinnt.

So weit, so gut – oder so schlecht. Mir ist das egal.

Juristische online-Medien berichten dann von dem Fall und zwar so:

Und so:

Ich stehe ja nicht in dem Verdacht, ein Vorkämpfer des Feminismus zu sein. Die Bebilderung der Berichte finde ich aber irgendwie schräg. Die Frau hat sich durch ihr freches Mundwerk in Probleme hinein und mit Köpfchen wieder herausmanöveriert.

Beides kann ich auf den Fotos gerade nicht erkennen.

Racial profiling

Racial profiling

Im Zug Mailand-München, kurz hinter dem Brenner, sind sie plötzlich da: zwei österreichische Polizisten mit dem Kennerblick, dem Instinkt für die Nicht-Schengenraum-Angehörigen.
Höflich aber bestimmt durchstreifen sie den Zug, um in Ermangelung echter Nafris die so genannten „südländischen Typen“ zu kontrollieren, also Männer, halbwegs jung, weder blond noch blauäugig.
Ich erfahre so etwas wie die „Gnade der arischen Geburt“, bin also uninteressant für sie. Das geht nicht allen so im Großraumwagon.
Einer, den man landläufig arabischer Herkunft einschätzen würde, zieht seinen Pass schon bevor er dazu aufgefordert wird. Man ahnt, wie oft ihm dies mittlerweile passiert.
Ein anderer, ich habe ihn vorher reden hören, ist Italiener. Er wirkt sichtlich überrascht, zumal er im sensationslüsternen Fokus der Mitreisenden auch noch einige Fragen beantworten muss. Das wurde von den Anderen nicht verlangt.
Stimmt vielleicht etwas nicht mit seinem Pass? Bedarf es heutzutage besonderer Gründe, um nach München zu reisen? Oder gilt Mailand schon als Quell der Gefährder?
Als es vorbei ist, sitzt er da, der Italiener, öffentlich beäugt, und guckt ein wenig so, als habe man ihn beschuldigt, gerade in die Hose gemacht zu haben.
Er weiß nicht, was ich weiß, dass nämlich die Profiler ihre Kontrollen bewusst etwas weiter streuen, damit es nicht zu racial wirkt.
Als die Polizisten in den nächsten Wagon wechseln, bleibt ein Gefühl der Beklommenheit. Die neue Sicherheit, die man uns allenthalben androht, will sich nicht einstellen.
Ein halbes Jahrhundert bin ich ohne solche Maßnahmen Zug gefahren. Ich bräuchte sie auch künftig nicht.

Smartphones

Smartphonekommunikation

Das Handy ist gerade dabei, zum dritten mal die Regeln menschlichen Zusammenlebens radikal zu verändern: Der erste Schritt war das hemmungslose Telefonieren auch in Restaurants oder an Orten, wo es rücksichtslos und belästigend ist. Das wurde zumindest mehrheitlich noch als unanständig empfunden.
Mit der Weiterentwicklung vom Handy zum Smartphon kam dann das ständige Surfen hinzu, selbst wenn man sich gerade im Gespräch befindet. Man hat auch dies toleriert oder praktiziert es sogar selbst. Zu abhängig sind wir schon von den kleinen Dingern geworden.
Neuerdings macht sich aber ein weiterer Trend breit, der nun wirklich an Lästigkeit nicht mehr zu überbieten ist: Kaum ein Tag vergeht noch, ohne dass ich genötigt werde, Fotos oder Filmchen auf fremden Handys anschauen zu müssen. „Kennst du das schon?“, heißt es kurz und schon soll man sich zugucken wie zwei Komiker Tiere beim Essen imitieren oder ein bekiffter Feuerwehrmann von „too much smoke“ faselt. Anschließend wird höfliches Lachen erwartet, was meist ein „Und das hier ist noch besser“ sowie den nächsten Bespaßungsversuch nach sich zieht.

„Die Freiheit nehm ich mir“, heißt es in der Werbung für Abnehmprodukte. Ich nehm mir jetzt die, mir vor die Nase gehaltene Handys kommentarlos zurückzuweisen.
Dann nimmt zwar mein Bekanntenkreis ab, aber mein Überdruss wenigstens nicht mehr zu.