Selbstreflexion

Selbstreflexion

Selbstreflexion ist nicht die Stärke der Juristen. Wir haben das Gesetz auf unserer Seite, das gibt Rückhalt. In Romanen nehme ich mir aber hin und wieder doch die Zeit, über meinen Beruf nachzudenken. Anlass dazu hatte beispielsweise die Hauptfigur in „Rheingold! Reines Gold“ bei der Rückkehr von einem Mandantengespräch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Einrichtung.

„Erst als ich mich im Auto zurücklehnte, um nochmals die Gebäude der Klinik zu betrachten, begann ich, über die vielen Insassen dieser Einrichtung nachzudenken. Einige Augenblicke stellte ich mir vor, wie das für sie sein mochte, in der Psychiatrie eingesperrt zu sein, gegebenenfalls sogar in der geschlossenen Abteilung.
Dann startete ich den Motor, fuhr davon, besann mich wieder auf meinen Fall, der mir jetzt gerade viel wichtiger erschien. In meinem Kopf wurden die abgeschobenen, teilweise völlig hilflosen, ausgelieferten Patienten umgehend verdrängt von einem schnöden juristischen Problem.
Das ist der Fluch der Juristen, vielleicht sogar aller Menschen, die mit dem Kopf arbeiten. Das Gehirn mag ein phänomenales Werkzeug sein, aber es denkt grundsätzlich nur so, wie man es lenkt. So wie bei einem Buch stets die Seite die wichtigste ist, die man gerade liest, so dreht sich das Gehirn nur um das Thema, das man gerade aufruft. Je besser es trainiert ist, je konzentrierter es zu arbeiten gelernt hat, desto perfekter unterbindet es Gedanken, die dabei stören. Selbst das Nachdenken über ein menschliches Schicksal lässt sich einfach abschalten und durch ein anderes Thema ersetzen.
Mag sein, dass irgendwo im Unterbewusstsein noch das Mitgefühl sein Recht fordert, der aktive Teil des Gehirns weiß von ihm nichts. Deshalb sind Juristen fähig, so emotionslos zu handeln. Unsere Geistestätigkeit gilt schließlich durchweg bestimmten Lebenssachverhalten, die wir konsequent in die Schemata der  Gesetze pressen.
Andere Köpfe widmen sich Zahlen, Naturerscheinungen oder technischen Phänomenen. Der Jurist befasst sich mit dem Leben selbst, das er zur Theorie macht, zu einem gedanklichen Modell. Es ist geradezu seine Aufgabe, das Leben zu bewältigen, indem er es negiert. Immerzu zerlegt er es in Momentaufnahmen, die dem Gesetz unterworfen sind. Was Leben letztlich ausmacht, nämlich dass es stets weitergeht, ist dem juristischen Denken fremd.
So wie der Film aus unzähligen einzelnen Bildern besteht, zerhacken wir Leben in konkrete Fälle. Stets definieren wir präzise jede singuläre Situation so, als sei es unser ureigenstes Recht, den Film, der Leben heißt, jederzeit anzuhalten.
Kein anderer Beruf ist so nah dran am Leben und zugleich so weit weg. Daher auch die Gefühllosigkeit unseres Berufsstandes, unser sklavischer Drang nach Versachlichung, unsere Ignoranz gegenüber dem Konkreten.“