Was ist eigentlich eine „Diversion“

Verteidigerfeindlichkeit im Jugendstrafrecht

Einer Diversion wird nicht zugestimmt, denn der Beschuldigte ist nicht geständig. Er hat einen Verteidiger beauftragt.“ – so etwas lese ich regelmäßig, wenn ich in Jugendstrafsachen Akteneinsicht nehme. Es ist ein Grund dafür, warum ich nur selten Hüte trage: Meine Hüte hängen alle an der Decke.

Kann es in einem Rechtsstaat von Nachteil sein, einen Verteidiger zu beauftragen? Natürlich nicht! – sagen regelmäßige Leser dieses Blogs, alle Strafverteidiger dieser Welt und außerdem noch jeder, der alle Tassen im Schrank hat. Denn sich verteidigen zu lassen ist ein Grundrecht aller – auch der unschuldigen – Beschuldigten. Jemanden für schuldig zu halten, nur weil er einen Verteidiger beauftragt hat, ist eines Rechtsstaates unwürdig.

Dennoch existiert dieser Textbaustein. Warum?

Zunächst einmal gibt es in Jugendstrafsachen eine Regelung, die es für Erwachsene so nicht gibt. Straffällige Jugendliche kann man nämlich „umleiten“, also zur Jugendgerichtshilfe schicken. Dort sollen Sozialarbeiter erzieherische oder fürsorgerische Defizite des Jugendlichen klären und die Tat mit ihm aufarbeiten, indem sie ihn zur Schadenswiedergutmachung anleiten oder ihm Sozialstunden auferlegen. Insgesamt eine gute Sache, denn sie vermeidet Anklage und Verurteilung. Voraussetzung für diese Vergünstigung ist allerdings ein Geständnis. Der jugendliche Delinquent soll zugeben, dass er Mist gebaut hat, nur dann reicht der Staat ihm die Hand zur Versöhnung.

Nehmen wir nun einmal an, Du, geneigter Leser hast mit Deiner Clique in jugendlichem Leichtsinn ein Auto geknackt, um eine Spritztour damit zu machen. Anlässlich einer polizeilichen Vorladung stellst Du Dir jetzt allerlei Fragen: Wem gehörte das Auto? Habe ich einen Schaden verursacht? Wer hat mich gesehen und angezeigt? Gibt es Hinweise darauf, dass ich etwas beschwingt war? Und (bei Jugendlichen immer besonders wichtig): Sind die anderen, die dabei waren, namentlich bekannt? Natürlich willst Du für Deine Tat gerade stehen, aber Kumpels verpfeifen geht gar nicht!

Jetzt bei der Polizei auszusagen ist wie Surfen zwischen Skylla und Charybdis. Verschweigst Du die Kumpels obwohl die ebenfalls verpfiffen wurden, bekommst Du den Stempel „nicht geständig“. Fragst Du erstmal naiv nach, ob die Polizei schon weiß, wer alles zur Clique gehört, schaut der Polizist Dich mõglicherweise ùberrascht an und sagt dann lauernd: „Ach, da waren noch welche dabei?“ Genau hier kommt der Verteidiger ins Spiel. Er kann für Dich klären, wie Du den sicheren Hafen erreichst und trotzdem ein guter Kumpel bleibst. Denn zum Glück entscheidet der Staatsanwalt über die Diversion. Der hat kein Problem damit, wenn Du Dich  zuerst vom Anwalt beraten lässt und dann zur Sache Angaben machst.

Ärgerlich bleibt der eingangs zitierte Satz trotzdem, denn er gibt Einblicke in die Denkweise der Polizei. Soll er doch letztlich bedeuten: Wen wir als Beschuldigten vorladen, der ist schuldig und wer sich einen Anwalt nimmt, der ist es erst recht. Irrtum ausgeschlossen! Konsequenterweise müsste der Satz daher lauten: „Der Jugendliche hat sich einen Anwalt genommen, dadurch gibt er zu, dass er schuldig ist. Diversion wird daher befürwortet.“ – So etwas lese ich aber seltsamerweise nie.

Instanzenzug

Was ist eigentlich der „Instanzenzug“?

Ich wage einmal zu behaupten, dass selbst Juristen mit Erstem Staatsexamen den Unterschied zwischen einer Berufung und einer Revision nicht verstehen. Erst im Referendariat, dem halbwegs praktischen Teil der Juristenausbildung, beginnen sie vielleicht zu begreifen, weshalb man ab dem zweiten Staatsexamen voraussetzt, dass sie es verstanden haben. Was noch nicht heißt, dass sie deshalb eine Revision begründen könnten.

Denn die Revision im Strafprozess ist eine äußerst schwierige Spezialmaterie, schwieriger als Vieles, was gemeinhin als schwierig gilt, oder – wie ein bekannter Kommentator zu sagen pflegt: Jura am Hochreck.

Wenn ein Zeuge das Blaue vom Himmel herunterlügt und der Angeklagte deshalb verurteilt wird, dann hat er mit einer Revision keine Chance. Wird im selben Prozess ein Foto vom Tatort betrachtet, von allen Beteiligten interpretiert und eine Stunde lang aus allen Richtungen gedeutet, dann kann das Urteil in der Revision scheitern, nur weil der Protokollführer diesen Vorgang nicht mit einer ganz bestimmten Floskel im Protokoll ausdrücklich erwähnt hat.

Fügt der Anwalt eine bestimmte Urkunde seiner Revisionsbegründung als Anlage (also nach der Unterschrift) bei, dann schaut sich das Revisionsgericht diese nicht einmal an. Nutzt er hingegen die moderne Technik und kopiert die Urkunde in den laufenden Text des Schriftsatzes hinein, kann das dem verurteilten Mörder einen Freispruch bescheren.

So seltsam ist Gerechtigkeit, so formal der Unterschied zwischen Freiheit oder Knast. Und weil das Ganze so kompliziert ist, liegt die Erfolgsaussicht einer Revision im niederen einstelligen Prozentbereich. Die Revision ist also so etwas wie eine juristische Lotterie, ein Schachspiel ohne Dame, ein Formel-1-Rennen auf dem Tretroller.

Einziger Lichtblick ist die Erstreckung: Wenn nämlich mehrere gemeinsam Verurteilte in Revision gehen und nur einer hat einen Verteidiger, der die hohen Hürden nimmt, dann wird das Urteil der anderen gleich mit aufgehoben, selbst wenn deren Verteidiger Mist gebaut haben.

Ganz anders dagegen die Berufung. Da genügt schon der Satz, dass man Berufung einlegen wolle, und schon wird das gesamte Verfahren neu aufgerollt, nebst allen Zeugen, Sachverständigen usw. Der Angeklagte muss noch nicht einmal zum Termin erscheinen, es genügt, wenn sein Anwalt anwesend ist (und hoffentlich eine Vollmacht mitbringt). Gefällt das Ergebnis dann immer noch nicht, kann man problemlos auch nach verlorener Berufungsinstanz die Revision wenigstens noch versuchen. Das nennt man dann den Instanzenzug, weil das Verfahren sich durch drei Instanzen zieht.

Du wirst, geneigter Leser, Dich nun fragen, weshalb ein Verurteilter dann überhaupt den dornigen Weg einer Revision beschreiten sollte, anstatt auf den scheinbar bequemeren Instanzenzug aufzuspringen. Damit sprichst Du eines der großen Rätsel des Strafprozesses an. Der Gesetzgeber hat den Instanzenzug nämlich nur für eher unbedeutende Straftaten aufs Gleis gesetzt. Schwarzfahrer, Ladendiebe, ebay-Betrüger und unfallflüchtige Autofahrer dürfen dreimal würfeln. Für Menschenhändler, Mörder oder Terroristen gibt es nur die Revision – mit den oben beschriebenen Schwierigkeiten. Dort wo es also um ein Leben hinter Gittern geht, da fährt der Instanzenzug nach nirgendwo, hat der Gesetzgeber den Strafprozess de facto auf eine einzige Instanz beschränkt.

Bei jugendlichen Straftätern im Bagatellbereich – in welchem der Instanzenzug bekanntlich über drei Stationen fährt – gibt es nur ein Entweder-Oder. Aber nicht, weil der Gesetzgeber Kierkegaard gelesen hätte, sondern weil er pädagogische Erwägungen meinte tätigen zu müssen. Und wie immer, wenn es pädagogisch wird, kommt am Ende Unfug heraus. Es gibt nämlich Verfahren, in denen Jugendliche und Erwachsene gemeinsam angeklagt sind. Werden die nun in erster Instanz verurteilt, gehen sie in Berufung. Werden sie erneut verurteilt, kann nur noch der Erwachsene in Revision gehen. Wird dessen Urteil dann aufgehoben, findet keine Erstreckung auf den Jugendlichen statt. Der darf dann folglich im Jugendknast darüber nachdenken, wie es ist, wegen eines falschen Urteils zu sitzen.

Pädagogisch sehr wertvoll!