EXISTENZVERNICHTUNG

Was ist eigentlich „Polizeiwillkür“?

Welche schockierenden Details erwartest du, geneigter Leser, jetzt von mir zu hören? Zertrümmertes Inventar nach Hausdurchsuchungen? Prügel in dunklen Ecken? Missbrauch bei nächtlichen Verhören? Folter in Kellerzellen?

Ein Anwalt erfährt viel, kann es aber nicht beweisen. Darum sage ich: Alles Quatsch! Wir leben hier nicht in Türkisch-Weißrussland. Derlei ist verboten, also gibt es das nicht.

Dennoch handelt unsere Polizei willkürlich, obwohl sie oft nichts dafür kann.

Es muss im Herbst des letzten Jahres gewesen sein, als die Sportsfreunde in Uniform darin geschult wurden, wie man gefälschte Führerscheine erkennt. Ob es die Schulung tatsächlich gab, weiß ich nicht, aber seither häufen sich die Fälle – und sie laufen immer gleich ab: Ein Ausländer am Steuer wird gebeten, seinen Führerschein vorzuzeigen. Dabei entsteht ein Verdacht.

Wusstest du, dass hierzulande Bulgaren mit spanischen Führerscheinen unterwegs sind, Rumänen mit italienischen, Tschechen mit französischen und Polen mit litauischen? Die Welt ist global geworden und manch ein Arbeitsmigrant arbeitet nicht nur im EU-Ausland, sondern erwirbt dort auch eine Fahrerlaubnis. Rechtlich kein Problem, denn EU-Bürger mit EU-Führerscheinen dürfen EU-weit fahren. Zumindest in der Theorie.

Praktisch kann der frisch geschulte oder gar nicht geschulte deutsche Polizist kaum wissen, ob der spanische, italienische, französische oder litauische Führerschein echt ist. Also mutmaßt er: Sieht das Wasserzeichen nicht etwas komisch aus? Warum ist da ein Knick im Dokument? So einen Stempel habe ich noch nie gesehen. Diese Ausstellerstadt kenne ich nicht. Und überhaupt ist der Lappen in einer Sprache verfasst, die ich nicht verstehe. Also ziehen wir das Ding mal ein.

Ach, der Herr Ausländer hat einen Job als Pizzafahrer, als Paketauslieferer, als LKW-Trucker gar? Tja, dann muss der Job nun eben ruhen bis der Amtsschimmel geäppelt hat. Tut mir leid für dich und deine Frau und deine Kinder, adieu, wir melden uns.

Bis ein amtlicher Gutachter die Echtheit bestätigt – und bisher waren die Führerscheine in allen Fällen tatsächlich echt – vergeht im Schnitt ein halbes Jahr. In der Zeit zwischen Weihnachten und Ostern hatte ich genau ein Dutzend solcher Fälle auf dem Tisch. Ein Dutzend Schicksale, ein Dutzend ruinierte Existenzen und fast ein Dutzend Menschen, die aus einer gesicherten Existenz heraus auf Sozialhilfeniveau katapultiert wurden. Fast ein Dutzend, weil einer leider kein EU-Ausländer und seine Aufenthaltserlaubnis daher an die Arbeitsstelle geknüpft war. Er lebte noch einen Monat auf Pump bei Freunden, ein bis zwei weitere Monate bettelnd auf der Straße, dann hat er das Land verlassen – wohin auch immer.

Heute erfuhr ich, dass sein Führerschein echt war und er ihn wieder abholen kann. Danke, liebe Polizei. Ich weiß nur gerade nicht, ob er überhaupt noch lebt. –

„Dennoch handelt unsere Polizei willkürlich, obwohl sie oft nichts dafür kann“, schrieb ich oben. Warum kann sie nichts dafür?

Ganz einfach: Was soll er denn tun, der Herr Polizeikommissaranwärter auf seiner ersten Dienstfahrt, wenn ein Slowake ohne Deutschkenntnisse ihm ein verwittertes, kaum noch lesbares Dokument aus dem hintersten Winkel Portugals vorlegt? Ihn trifft kaum eine Schuld, zumal binnen weniger Tage ein Gericht darüber entscheidet, ob die Sicherstellung des Führerscheins Bestand hat. Dort beruft man sich – hoch lebe der Richtervorbehalt – auf die Einschätzung der Polizei. Aber auch das ist nachvollziehbar. Ich könnte die Echtheit solcher Lappen (im wahrsten Sinne des Wortes) auch nicht beurteilen. Weil unsere europäische Bürokratie nicht in der Lage ist, einheitliche Führerscheine zu schaffen. Weil es zwar eine europäische Behörde gibt, die alle EU-Fahrerlaubnisse registrieren soll, dieser Moloch aber nicht funktioniert. (In einem Verfahren warten wir seit über einem Jahr auf die Beantwortung einer gerichtlichen Anfrage). Das macht diese Fälle so frustierend.

Innenpolitiker mit Rückgrat müssten jetzt eigentlich sagen: „Halt! Es werden keine Existenzen mehr vernichtet, so lange die EU nicht ihre Hausaufgaben gemacht hat!“

Aber wahrscheinlich diskutieren sie gerade darüber, ob der „Führer“ im Schein politisch korrekt und falls ja wie er zu gendern ist.

Pfui schämt Euch!

Eine Frage der Ehre

Was darf der Anwalt eigentlich im „Verteidigerplädoyer“?

Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“ – So wirst Du, geneigter Leser, von manchen Richtern angebrüllt, wenn gerade ein Polizeizeuge ausgesagt hat und Du als Angeklagter dies mit einem „Stimmt so nicht.“ kommentierst. Wohlgemerkt: Du sitzt in dieser Situation auf einer Anklagebank und verteidigst Dich gegen Vorwürfe, die Dich Deine Freiheit, Deinen Job, Dein Hab und Gut kosten können. Man sollte meinen, dass man dann auch um sein Recht kämpfen darf. Aber nicht jedes Gericht mag es, wenn man die Glaubwürdigkeit seines Hauptbelastungszeugen anzweifelt.

Natürlich hat auch die Filmindustrie diesen Konflikt längst erkannt und bereits 1992 legendär inszeniert, mit einem (damals noch nicht abgedrehten) Tom Cruise als Verteidiger und einem die Arroganz und Blasiertheit des Militärs herausragend spielenden Jack Nicholson als Widerpart. Ganz großes Kino!

Nun ist der amerikanische Strafprozess etwas seltsam, weil dort beispielsweise Angeklagte auch Zeugen sind, was für mich unvorstellbar ist. Noch seltsamer scheint mir der dortige Militärstrafprozess, weil er es offenbar nicht zulässt, höherrangigen Offizieren Fragen zu stellen, die sie besser nicht beantworten sollten. Die Macht schützt eben überall zuerst sich selbst.

Aber wenn wir das Hollywood-Gedöns mal außen vor lassen, spiegelt diese Filmszene treffend wider, worum es auch in den Niederungen deutscher Strafprozesse geht: Es gibt Zeugen, denen wird bereits geglaubt, bevor sie überhaupt eine Aussage gemacht haben. Unterschiedlich ist nur die Begründung der Justiz.
Der Polizist ist ein erfahrener Zeuge, der noch nie falsch ausgesagt hat“, lautet das Credo der einen, „Ich glaube ihm nicht, weil er Polizist ist, sondern weil er die Wahrheit gesagt hat“, versuchen andere sich den Anschein von Objektivität zu geben. Im Endeffekt meinen beide dasselbe: Zweifle bloß nicht meinen Zeugen an!!!

Wer clever ist und sich nicht alleine auf die Anklagebank setzt, der bringt einen Verteidiger mit, dem er es überlässt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen kritisch zu würdigen. Das macht die Sache zumindest aus Sicht der Polizeizeugen nicht besser. Da sie meistens im Rudel vernommen werden, bleiben sie nach der Aussage darum gerne noch im Gerichtssaal, um durch ihre uniformierte Präsenz zu zeigen, dass Zweifel an ihren Aussagen nicht geduldet werden. Tut der Verteidiger es dennoch, dann muss er durchaus auch mal mit einer Anklage rechnen. In Frankfurt ist dies kürzlich einem Anwalt widerfahren, nur weil er es gewagt hat, den Wahrheitsgehalt von Polizeiaussagen anzuzweifeln.

Wie das Anwaltsleben so spielt, braucht man am Ende ein Quäntchen Glück, welches dem angeklagten Kollegen auch zuteil wurde, und zwar durch ein Gericht, das sich zunächst einmal auf Martin Luther stützte und dessen Konzilskritik abwandelte zu „Gerichte können bei ihrer Beweiswürdigung irren und haben geirrt.“ Danach erinnerte es sich eigener Erfahrungen mit Polizeibeamten, die gelogen hatten „mitunter, dass sich die Balken bogen“ und in einer Dreistheit, dass „das Wort ´Verschwörung´ keine Übertreibung war“.
Dem angeklagten Verteidiger half das Gericht mit einem im Geschwurbel üblicher Beweiswürdigungsfloskeln oft schmerzlich vermissten Instrument aus der Klemme: Logik! Denn wenn der Angeklagte A sagt, der Zeuge aber B, dann ist zwar völlig klar, dass einer lügt, doch kann es dem Verteidiger deshalb verwehrt sein, der Einlassung des eigenen Mandanten zu folgen? Wie sollte er denn das A verteidigen, ohne damit zugleich das B als Falschaussage zu werten?
Die Anklage in Frankfurt wurde noch nicht einmal zugelassen, was zwar nicht so schön klingt wie „Freispruch“, tatsächlich aber ein noch glanzvollerer Sieg ist. Sollte Dich also je ein Richter fragen: „Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“, dann bleibe höflich, lächele ihn an und frage zurück: „Wollen Sie etwa behaupten, dass ich lüge?

Verkehrskontrolle

Wie kommt die Polizei eigentlich an eine „Urinprobe“?

Im Laufe der Jahre entwickelt der Strafverteidiger ein Repertoire an Standardempfehlungen, die sich als immergültige Wahrheiten erwiesen haben. Dies betrifft den Umgang mit Mandanten (nie ohne Vorschuss arbeiten), die Anforderungen an die eigene Arbeit (nie ohne Akteneinsicht Stellung nehmen) oder das Verhalten im Strafverfahren (nie eine Aussage bei der Polizei machen). Es hat sich gezeigt, dass Fälle generell erfolgreicher verlaufen, wenn diese Grundwahrheiten beachtet werden. Naturlich gibt es auch Ausnahmen von der Regel, aber die sind so selten, dass sie keiner Erwähnung bedürfen.

Erfahrene Mandanten, also solche, die ein Wirt als Stammkunden bezeichnen würde, wissen dies und halten sich daran. Sie kommen in die Kanzlei und sagen artig: „Guten Tag, hier ist ein Vorschuss und eine Vorladung der Polizei. Ich bin aber nicht hingegangen. Melden Sie sich doch freundlicherweise, wenn Sie Akteneinsicht hatten.“ So macht die Arbeit Freude.

Ebenso konsequent vernehme ich, obwohl seit einem Vierteljahrundert davor warnend, leider auch folgenden Satz: „Ich wurde von der Polizei angehalten und musste eine Urinprobe abgeben.“ Was mir zunehmend rätselhafter wird, denn es will mir nicht einleuchten, warum sich jemand zwingen lasst, in aller Offentlichkeit (allenfalls darf er sich in eine Mauernische zuruckziehen) ein Plastikbecherchen vollzupinkeln.

Und dies sogar obwohl es bereits öfter vorkam und wir das richtige Verhalten schon mehrfach besprachen. Was um allles in der Welt ist so schwer daran, einfach Nein zu sagen?
Ich hege mittlerweile echten Respekt für die Sportsfreunde in Uniform, weil es ihnen immer wieder gelingt, angehaltene Autofahrer diese Prozedur vollziehen zu lassen. Soweit ich es im Nachgang beim Beratungsgesprach rekonstruieren kann, wird dabei allerdings ein wenig geflunkert, weshalb wir diesen Vorgang etwas genauer beleuchten sollten.

1.) Bisweilen, so wird mir berichtet, verlangt die Polizei eine Urinprobe unter dem Vorwand, dies sei Pflicht und müsse eben gemacht werden. Tatsachlich gibt es keine Vorschrift, die dem Bürger Derartiges abverlangt. Jeder kann sich weigern.

2.) Nicht anders verhält es sich bei dem offenbar ebenfalls in Umlauf befindlichen Sprüchlein, man werde im Falle einer Weigerung mit zur Wache genommen, um dort abzupinkeln. Stimmt naturlich auch nicht. Niemand wird irgendwohin gebracht, um zwangsweise zu Urinieren.

3.) In der überwiegenden Zahl der Falle wird wohl damit gedroht, ansonsten auf der Wache eine Blutprobe nehmen zu lassen. Dies ist zumindest eine nicht vollig abwegige Drohung, die Du, geneigter Leser, aber nicht stets für bare Münze nehmen solltest. Denn wie immer, wenn die Polizei eine Zwangsmaßnahme durchführen will, benotigt sie dafür einen Verdacht, der nicht schon deshalb begründet ist, weil Du gerade aus der Disko kommst, weil es schon spätnachts ist oder weil die PS-Stärke Deines Autos Neid erregt.

Ein polizeilicher Verdacht ist nicht wirklich viel, aber er muss eben ein wenig mehr sein als nichts. Genau deshalb wollen sie ja Deine Urinprobe, weil gewisse Schnelltests dann den Verdacht begründen könnten.
Dem gleichen Zweck dient auch das sonstige Repertoire solcher Kontrollen vom angebotenen Röhrchenpusten bis zu seltsamen Tests (Hauchen Sie mich mal an! Gehen Sie mal über diese Linie! Führen Sie mal den Finger zur Nase). All dies musst Du nicht tun, denn die niedrige Schwelle zum Verdacht muss die Polizei schon selbst überspringen. Es kann niemand von Dir verlangen, daran mitzuwirken.

4.) Aus dem gleichen Grund ist es auch nicht notwendig, die Spielchen mitzuspielen „um sich zu entlasten„. Du giltst als unschuldig und unverdächtig. Das ist gewissermassen der Naturzustand. Durch irgendeine Mitwirkung am Programm der Kontrolle kannst du nicht noch unschuldiger oder unverdächtiger werden. Es kann allenfalls das Gegenteil eintreten. Die angebotene Entlastung ist nur ein Bockshorn, in das man Dich jagen will. Sage höflich aber bestimmt: Nein.

5.) Einige Spassvögel unter den Kontrolleuren versuchen es offenbar auch noch mit der Kostenkeule indem sie behaupten, wer die Urinkontrolle verweigere, müsse die Blutprobe selbst bezahlen. Welch‘ netter Versuch ;-). Deine Blutprobe bezahlst Du dann und nur dann, wenn darin etwas gefunden wird, das zu Deiner Verurteilung fuhrt. Ob dies der Fall ist, weißt Du doch selbst am besten. Und falls es der Fall ist, wirst Du einer Blutprobe keinesfalls entgehen, indem Du vorher „zur Entlastung“ an irgendetwas mitwirkst. Sätze wie: „Sie stinken wie eine ganze Kneipe, aber weil Sie so brav die Finger-Nase-Probe gemacht haben, dürfen Sie weiterfahren“ oder „Der Mahsan-Test deutet auf Drogenkonsum hin, aber wir haben ja Ihre Urinprobe, das genügt uns“ wirst Du nicht zu hören bekommen.

Was geschehen muss, wird ohnehin geschehen. Darum mach Dich wenigstens nicht zum Narren, der öffentlich und unter Zwang ein Becherchen befüllt. Und falls Du wirklich nicht Nein sagen kannst, nimm es eben und pinkele daneben.

Aloha-Tattoo

Das Aloha-Tattoo

Aloha steht für Liebe oder für Sympathie oder für Freundlichkeit. Man kennt die Bilder aus der Südsee, die Kränze, Palmen, Meer, Marlon Brando und die Bounty. Für was steht Polizei?

Freundlichkeit will ich ihr nicht absprechen. Sympathie ist schon Geschmackssache. Und Liebe ist nun gar nicht das, was man mit der personifizierten Staatsgewalt in Verbindung gebracht haben will. Der Staat verlangt seinen Bürgern Gehorsam, Respekt und Steuern ab, aber er will sie darum auf keinen Fall liebhaben.

Dumm nur, wenn ein einzelner Polizist – wahrscheinlich sogar viele – anders denkt und den Südseegruß „Aloha“ am Körper tragen will. Als Tattoo. Im sichtbaren Bereich, wobei dieser Bereich durch die Sommeruniform definiert wird, also mit kurzen Ärmeln. Darf der Polizist dem Bürger dann sympathisch oder gar geprägt von Nächstenliebe gegenüber treten?

NEIN! DARF ER NICHT!

Wo kämen wir denn hin, wenn der Mann ein Verbot durchsetzen soll und auf seinem Unterarm Aloha steht? Kein Falschparker würde mehr sein Auto aus dem Parkverbot entfernen, kein Gaffer mehr hinter ein Absperrband zurücktreten.

Und dann erst der Straßenverkehr. Mal ganz ehrlich: Wenn ein Auto auf der Straße liegen geblieben ist und davor steht ein Polizist, der mit der Kelle den Verkehr vorbei leitet, dann funktioniert das doch nur, so lange er nicht tätowiert ist. Blitzt da plötzlich ein Aloha auf, dann fahren die Leute doch einfach geradeaus weiter. Mitten in die Unfallstelle hinein. Vor lauter Liebe.

Allerdings gibt es auch Situationen im Leben eines deutschen Polizisten, die sind blutiger Ernst. Finaler Rettungsschuss, heißt das im Beamtendeutsch. Da stellt sich schon die Frage, ob ein Tattoo der Situation noch angemessen ist. Denn der Geiselnehmer, auf den da gezielt wird, verdient ja auch Respekt. Es kann doch nicht angehen, dass der (250 Meter vom Täter entfernte) Unterarm an der Hand mit dem Finger, der den Abzug zieht mit einem Aloha verziert ist. Jedenfalls im Sommer. Im Winter ist das Hemd ja lang, da stirbt´s sich dann würdevoll.

Und darum hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 13.5.2020 (2 C 13.19) dem Spuk ein Ende bereitet. Die Polizeigewalt verlangt ein einheitliches Aussehen, was zwar nicht groß, blond und blauäugig bedeutet, aber zumindest „auf Dauer angelegte Körpermodifikationen“ verbietet. Nur dann ist die Sicherheit im Land gewährleistet, der Staat ordnungsgemäß repräsentiert.

Polizeigewerkschafter sehen schon Nachwuchsprobleme, weil bei den unter 30jährigen mittlerweile jeder Vierte tätowiert ist. Aber das betrifft ja nur die Sicherheit in der Zukunft. Die ist nicht das Problem der pensionsreifen roten Roben im Elfenbeinturm.

Interessant auch: Die Polizei ist ja nicht gerade der Motor des Fortschritts, denn sie denkt ja eher etwas … nun ja … sehr konservativ. Aber offenbar immer noch moderner als hohe Richter! Was mich mich an einen Strafprozess in Köln erinnert. Dort hatte der Zuhälter eine Prostituierte „gebrandet“, also mit seinem Namen tätowiert. Die Freier waren daher verdächtig, sich sehenden Auges mit einer Zwangsprostituierten eingelassen zu haben, was zu folgendem Dialog führte (nicht mit mir, sondern mit einem Zeugen):

Richterin: Was dachten Sie, als Sie das Tattoo sahen?
Zeuge: Ich dachte mir, die hätte eher etwas Neutrales nehmen sollen.
Richterin: Aber dass die Frau überhaupt tätowiert war, gab Ihnen nicht zu denken?
Zeuge: Nö, warum?
Richterin: Weil ein Tattoo doch generell etwas Ungewöhnliches ist – zumindest in meiner Welt.

„Meine Welt“, die machen sich Richter wohl bisweilen wie sie ihnen gefällt. Realistisch ist das nicht, aber nun höchstrichterlich entschieden.

Legendierte Polizeikontrolle

Was ist eigentlich eine „legendierte Polizeikontrolle“?

Die römische Mythologie kannte den doppelgesichtigen Janus. Der war dafür zuständig die Gegensätze zu vereinen. Anfang und Ende, Leben und Tod, Eingang und Ausgang waren Janus unterstellt, denn mit seinen zwei Gesichtern schaute er gleichzeitig nach vorne und nach hinten, hatte also den Überblick über das Ganze. Was für Kinderaugen vielleicht nach einem Monster aussieht, wurde von den Römern als Gott verehrt. Man baute ihm den legendären Tempel, dessen Tore während eines Krieges offen standen. Das Internet behauptet, die genaue Lage des Tempels sei ungeklärt – ich weiß wo seine Reste stehen, denn ich war schon dort. 

Szenenwechsel: Ein Schuss, ein Knall, ein Toter. Tatütata, die Polizei ist da und der Strafverteidiger fragt sich, welche Rechte die nun hat. Die Juristen antworten wie sie immer antworten: Das kommt drauf an.

Vor dem Schuss galt noch Gefahrenabwehrecht, mithin in jedem Bundesland etwas anderes, denn vor dem Schuss gab es noch keine Straftat, da handelte die Polizei nur zur Vermeidung künftiger Straftaten, also präventiv. Nach dem Schuss gilt die Strafprozessordnung, da ermittelt der Staatsanwalt und die Polizisten sind seine Hilfsbeamten. Heute sagt man „Vernehmungsbeamten“, weil die Polizisten keine Gehilfen mehr sein wollten. In der Sache hat sich nichts geändert.

Wenn sie repressiv handeln, also nach begangener Straftat, laufen die Polizisten an der Leine des Staatsanwaltes. Und der wiederum muss sich bestimmte Aktionen – beispielsweise eine Durchsuchung – vom Richter genehmigen lassen. So will es das Gesetz und so will es auch der Strafverteidiger, damit er klar abgrenzen kann, was erlaubt ist und was nicht. 

Die Geschichte mit dem Schuss ist eigentlich auch für Laien einfach zu verstehen. Vorher präventiv und darum Polizeirecht, hinterher repressiv und darum Strafprozessrecht.

Übertragen wir das mal auf einen Drogenkurier, gilt nichts anderes. Die Hinfahrt nach Holland geschieht im Vorfeld einer Straftat, da überwacht die Polizei nur präventiv. Die Drogenübergabe ist der Schuss und für die Rückfahrt gilt dann Strafprozessrecht.

„Dumm gelaufen“, schimpft da der Polizist. „Jetzt muss ich ja den Staatsanwalt fragen, bevor ich den Kurier anhalte. Und der muss den Richter fragen, bevor das Auto durchsucht werden darf. Das ist doch irgendwie ziemlich nervig mit dem Rechtsstaat.“

An dieser Stelle kommt der Doppelgesichte ins Spiel, der bekanntlich Gegensätze vereint. Janus flüstert den Hilfsbeamten (wir befinden uns ja im repressiven Bereich) ins Ohr: „Versuch’s doch einfach präventiv.“ Und siehe da: Das präventive Polizeirecht kennt ein Schlupfloch, nämlich die allgemeine Verkehrskontrolle. Also flugs die Kelle raus und den Drogenkurier rechts ran gewunken. „Darf ich mal ihr Warndreieck sehen? Huch, was ist denn das? Sieht ja aus wie Heroin. Na so ein Zufall aber auch.“

Und während der Staatsanwalt noch darauf wartet, dass er vor der Durchsuchung gefälligst gefragt wird, ob er mal den Richter fragen darf, hat die Polizei die Arbeit längst erledigt.

„Legendierte Polizeikontrolle“ nennt man dies, weil die Kontrolle nur eine Legende ist, eine Erfindung, um den Richtervorbehalt zu umgehen. Strafverteidiger sehen dieses Vorgehen der Polizei naturgemäß kritisch, aber der Bundesgerichtshof meint: „Kein Problem“. Präventiv und repressiv ist doch irgendwie alles eins, Hauptsache die Polizei kann zugreifen.

Du wirst, geneigter Leser, Dich nun fragen, wozu die Förmelei denn gut sein soll. Schließlich kann es nicht falsch sein, einen Drogenkurier aus dem Verkehr zu ziehen. Also wenden wir uns dem zu, was Dir heilig ist: Dein home und castle. Dort fühlst Du Dich sicher, weil die Polizei ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss nicht hineindarf – denkst Du. Aber vielleicht bist Du ja Versicherungsvertreter mit Heimbüro und empfängst dort auch Kunden. Dann hat der Zoll ein Betretensrecht, um dort nach Schwarzarbeitern zu suchen. Schon mal darüber nachgedacht, ob diese Kontrolle „legendiert“ ist, also einem ganz anderen Zweck dient?

Oder Du bist Jäger, dann darf die Waffenbehörde nachschauen, ob Du Deine Waffen anständig verwahrst. Warum aber sollte es keine legendierte Waffenkontrolle geben? Will das Bauamt wirklich nur prüfen, ob Du vorschriftsmäßig Rauchmelder montiert hast? Und vor dem Schornsteinfeger warnt man schon die Kinder im Lied vom schwarzen Mann.

Vielleicht solltest Du künftig etwas argwöhnischer betrachten, wer zu welchen Zwecken Dein Haus betritt. 

Denn der Janustempel ist geöffnet – was das bedeutet, sollte klar sein!

Strafakte

Wie entsteht eigentlich eine „Strafakte“?

Akten, Akten, Akten! Die ganze Justiz besteht nur aus Akten.
In Strafprozessen sind sie blassrot, daher „Rotakten“ genannt. Wenn ein Fall „durch die Instanzen geht“, also durch Rechtsmittel immer eine Instanz höher, bisweilen auch wieder zurück an den Anfang wandert, wird tatsächlich eine papierne Akte auf dem Postweg hin und her geschickt, bis sie irgendwann ausgeurteilt, zerfleddert und kaum noch lesbar im Archiv irgendeines Gerichtskellers landet. Nichts geht ohne die Akte. Niemand wird verurteilt aber auch niemand wieder freigelassen, so lange nicht die zuständigen Organe der Rechtspflege die Akte gelesen und um einige Seiten eigener Ergüsse ergänzt haben.
Die Fixiertheit der Juristen auf eine Akte ist so manisch, dass schon vor einem halben Jahrtausend der Rechtsgrundsatz „Quod non est in actis non est in mundo“ entstand – was nicht in den Akten steht, ist überhaupt nicht auf der Welt.
Wie entsteht aber eine solche Akte? Wo verschmelzen einzelne Seiten derart, dass daraus nach zwei oder mehr Instanzen wie bei der Zellteilung ein gewaltiger Organismus wird?
Nun, soweit es um Strafakten geht, ist der Demiurg die Polizei. Die notiert und speichert grundsätzlich alles, was ihr über den Weg läuft. Anschließend entscheidet sie, was an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wird. Das Gesetz schreibt zwar vor, dass die Polizei ihre gesammelten Aufzeichnungen zu einem Fall als Strafakte den Staatsanwälten zu übergeben hat. Das tut sie aber bewusst nicht. Denn Wissen ist Macht! Und der Staatsanwalt muss sein Wissen mit Richtern und Anwälten teilen. Deshalb bekommt er nur, was für eine Verurteilung benötigt wird. Jedes Strafverfahren beginnt also streng genommen mit einem Rechtsbruch, weil die Polizei Aktenbestandteile einfach zurückhält.

Schauen wir uns das nun einmal in der Praxis an: Dazu stellen wir uns vor, Du wärest, geneigter Leser, mit Deiner Freundin im Auto unterwegs. Es ist schon spät, Alkohol war auch im Spiel und plötzlich knallt es, weil irgendwer sein Auto auf der Straße geparkt hat. Fahrerflucht ist unfair, denkt Ihr, aber die Polizei wollt Ihr jetzt auch nicht unbedingt hinzuziehen. Also schreibt Ihr einen Zettel mit Kennzeichen und Handynummer, steckt ihn an das beschädigte Auto und macht Euch schleunigst aus dem Staub, zwar mit schlechtem Gewissen, aber in der festen Absicht, den Schaden ordentlich zu regulieren. „Zum Glück wird nie jemand erfahren, wer von uns am Steuer saß“, denkt Ihr euch noch.

Irgendein Blockwart musste aber mal wieder tief in der Nacht am Fenster herumlungern. Der hat zumindest das Wegfahren eines Autos gesehen und umgehend die Polizei gerufen. Damit beginnt ein tagelanges Katz-und-Maus-Spiel, denn irgendwie hast Du so gar keine Lust, mit der Polizei zu reden und denen zu erklären, wer gefahren ist. Das wiederum mögen Polizisten nicht leiden, deshalb schwärmen sie aus. Sie suchen Dich zuhause, aber Du bist nicht da. Sie fragen herum, wer Dein Auto sonst noch fährt und versuchen zu rekonstruieren, wann Du wo warst. Obendrein erzählen Sie Deiner Familie, dass es „ganz schlimm“ wird, wenn Du Dich nicht umgehend mit Auto meldest.
Um weiterem Stress aus dem Wege zu gehen, fährst Du 2 Tage später zur Polizei, präsentierst wieder nüchtern Dein Auto und sagst, dass Du sonst nichts sagen willst – vor allem nicht, wer gefahren ist.
Dein Anwalt, den Du von Beginn an konsequent auf dem Laufenden hältst, hat richtig Spaß an dem Fall. Bis er irgendwann die Strafakte auf dem Tisch hat und seinen Augen nicht traut: „Der 01 fuhr nachts allein von A nach B und verursachte einen Unfall. Anschließend entfernte er sich. Dieser Sachverhalt basiert auf den Angaben des 01.“, steht da. Und der 01 bist Du, das will die Polizei wie auch immer festgestellt haben.
Die Rotakte enthält nicht einen Satz über das Katz-und-Maus-Spiel und die verzweifelten Versuche der Polizei, den Fahrer zu ermitteln. Alles liest sich so, als könne es überhaupt keinen Zweifeln daran geben, dass Du gefahren bist. Denn Wissen ist Macht und die Polizei weiß genau, was sie dem Staatsanwalt verschweigen muss, damit Zweifel erst gar nicht aufkommen.

Es ist nun die Aufgabe Deines Verteidigers, all die fehlenden Puzzle-Stücke zusammenzutragen, die aus dem Fall wieder das machen, was er von Anfang an war: ein ungeklärter Sachverhalt. Denn was die Polizei als Strafakte an die Justiz liefert, ist oft nicht mehr als ein Märchenbuch.