Geschichtslehren

Ziehen Strafverteidiger eigentlich „Lehren aus der Geschichte“?

Heute – am 22.2.2018 – ist es 75 Jahre her, dass die Geschwister Scholl unter dem Fallbeil des Naziregimes starben. Ich habe heute einen längeren Spaziergang über den Schloßberg gemacht, mich anschließend auf eine Bank am Ufer der langsam vereisenden Nahe gesetzt und mir die winterliche Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Dabei habe ich zurückgedacht an diese kleine studentische Widerstandsgruppe.

Du magst Dich, geneigter Leser, jetzt fragen, weshalb Strafverteidiger in ihren Mittagspausen über den deutschen Widerstand grübeln. Darum solltest Du wissen, dass unsere Strafprozessordnung bereits seit dem Jahre 1877 gilt und folglich sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Grundlage der Strafprozesse in diesem Lande war. Auch im Dritten Reich war sie formell in Geltung, tatsächlich aber zunehmend außer Kraft.

Berechtigt dies den Strafverteidiger, sich in der geistige Nachfolge der Geschwister Scholl zu sehen? Ganz klar: Nein! Ich bezweifle, dass auch nur ein Bruchteil meiner Kollegen diesen Mut aufbrächte. Die Freiheit oder gar das Leben würde ohnehin keiner von uns geben für die gerechte Sache.

Und dennoch weht ein Hauch, ein laues Lüftchen des Widerstandes auch durch unsere Reihen. Ich möchte behaupten, dass die Geschwister Scholl uns zumindest Vorbild sind – ein Vorbild, das wir freilich nie erreichen.

Strafverteidigung hat nichts zu tun mit dem Blutopfer des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Tyrannei. Schauen wir jedoch ein wenig weiter zurück, betrachten wir den Weg hinein in den Terror, dann sehen wir, dass es durchaus die Strafverteidigung war, die unter Berufung auf die oben bereits erwähnte Strafprozessordnung von 1877 dem immer weiter in die Diktatur abdriftenden Staat Paroli bot. Der Geist des Widerstandes wurde in den Jahren zwischen Kaiserreich und Hitlers Machtergreifung geschult. Und es waren die Strafverteidiger der Weimarer Republik, welche das Ethos unseres Berufsstandes formten. Einige möchte ich hier hervorheben:

1.) Martin Drucker

Drucker machte 1924 bereits auf sich aufmerksam, weil er eine Strafprozessrechtsreform heftig kritisierte. Dadurch werde dem Volk „im weiten Maße das Kulturgut eines ordentlichen Strafprozesses“ entzogen. Eine Kritik, die seither alle sogenannten Reformen begleitet, wahrscheinlich aber nie wieder so treffend formuliert wurde: Der ordentliche Strafprozess als Kulturgut.

Da verwundert nicht seine Auffassung, „dass ein Plädoyer für die Gewährung mildernder Umstände den Verdacht der Geistesfaulheit und juristischen Ignoranz des Verteidigers nahe legt.“ – Ein Aufruf, mit der Verteidigung bei den Grundlagen zu beginnen und nicht am Ende.

2.) Paul Reiwald

Reiwald war einer der Ersten Verteidiger, der sich mit der Psychologie im Strafprozess befasste. Grundlegende Schriften dazu wurden von ihm geschrieben. Seine praktische Tätigkeit vor Gericht machte ihn bei den Nazis schnell unbeliebt, weshalb er schon bald nach der Machtergreifung ins Exil floh und von den neuen Machthabern aus der Liste der Rechtsanwälte gelöscht wurde.

Er konnte jedoch sein wichtiges Werk „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher“ dennoch vollenden und darin die geniale Erkenntnis platzieren: Die Scheidewand zwischen Gesellschaft und Verbrecher ist dünn, am dünnsten vielleicht dort, wo sie zur Abwehr gegen ihn gerüstet steht. Richter und Staatsanwalt, sie, die den Verbrecher verfolgen und verurteilen, die sich von dem Mann auf der Anklagebank duch eine Welt geschieden fühlen, stehen ihm näher als sie denken.

3.) Erich Frey

Frey verteidigte 1928 im Prozess um die sogenannte Steglitzer Schülertragödie. Sein Credo war die Gleichberechtigung der am Prozess beteiligten Juristen. Darum ließ er es sich nicht nehmen, das Verfahren durch Erklärungen und Anträge zu steuern. Dem Gerichtsvorsitzenden hielt er entgegen, er verbitte sich, von diesem ständig unterbrochen zu werden. Als daraufhin das Gericht den Vorsitzenden ermächtigte, den Verteidiger für sein Verhalten zu rügen, erwiderte Frey, diese Rüge „konnte nur den Zweck haben, den Verteidiger vor den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie musste aber auch die Würde des Anwaltsstandes verletzen. Der Verteidiger sieht sich nicht in der Lage, unter diesen Umständen die Verteidigung weiterzuführen.“

Wohlgemerkt: Dies geschah in einer Gerichtskultur, die noch von der Kaiserzeit geprägt war. Wenn es heute eine Selbstverständlich ist, als Verteidiger dem Gericht auf Augenhöhe gegenüber zu treten, haben wir dies auch Erich Frey zu verdanken. 

4.) Dr. Max Alsberg

Alsberg kann man als den erfolgreichsten Strafverteidiger der Weimarer Republik bezeichnen. Was mich an ihm fasziniert ist die Tatsache, dass er in politisch schwierigen Zeiten agierte, ohne sich politisch in eine Schublade stecken zu lassen.

Er verteidigte u.a. Kaiser Wilhelm II (nach dessen Abdankung), den Großindustriellen Hugo Stinnes, den rechtsgerichteten Politiker Karl Helfferich und den pazifistischen Journalisten Carl von Ossietzky – stets an der Sache orientiert und ohne Vorbehalte gegen eine Person.

Daneben war er in großem Umfang wissenschaftlich tätig, hatte eine Professur an der Berliner Universität inne und schrieb auch zwei (erfolgreich aufgeführte und heute noch lesenswerte) Theaterstücke über den Berufsalltag des Strafverteidigers (Voruntersuchung und Konflikt).

Schon bald nach der Machtergreifung sah er sich zur Emigration veranlasst. Seiner materiellen Existenz beraubt wählte er am 1. September 1933 im Exil in der Schweiz den Weg in den Freitod.

5.) Schließlich und endlich, hervorragend selbst unter derart bedeutenden Kollegen noch: Hans Litten.

Am 1. Mai 1929 befahl der Polizeipräsident von Berlin die gewaltsame Auflösung der Maikundgebungen in Berlin und erteilte Schießbefehl. 33 Demonstranten wurden getötet, zahlreiche andere wegen Landesverrat angeklagt. In dieser Situation betrat Hans Litten die Bühne der Justiz und stellte Strafantrag gegen den Berliner Polizeipräsidenten wegen Anstiftung zum 33fachen Mord.

Nachdem  die SA im November 1930 das Arbeiterlokal „Edenpalast“ überfallen hatte, übernahm er die Nebenklage und schaffte es, Adolf Hitler persönlich in der Zeugenstand zu zwingen, um zu beweisen, dass der rechte Terror von ganz oben angeordnet war.

Hitler wurde in diesem Prozess derart blamiert, dass er es Hans Litten nie verzeihen konnte. Schon in der Nacht des Reichstagsbrandes ließ der den Anwalt in „Schutzhaft“ nehmen. Es folgte eine jahrelange Odysee durch die Folterknäste und Konzentrationslager des Dritten Reiches. Zuletzt in Dachau angekommen, fürchtete der schwer misshandelte Hans Litten, unter der Folter zu gestehen, was seiner anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterlag. Er nahm sich darum das Leben, um nicht gegen seine Schweigepflicht zu verstoßen.

Es sind große Namen, die vor 100 Jahren einen Kampf aufgenommen haben, der bis heute nicht geendet hat. Positiv ausgedrückt ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Aber es war und bleibt auch immer ein Kampf gegen den Staat, gegen seine Übergriffigkeit, seine Rechtsverstöße, seinen Machtmissbrauch.

Darüber reflektiere ich an solchen Tagen und wenn ich dann alsbald wieder einen Gerichtssaal betrete, denke ich vielleicht kurz an die Geschwister Scholl. Widerstand ist ein zu großes Wort für das, was Strafverteidiger antreibt. Aber zumindest Entschlossenheit lernen wir schon von den historischen Vorbildern.

Rechtssprichwörter

Wozu nutzen eigentlich „Rechtssprichwörter“?

Wenn Juristen vom nemo-tenetur-Grundsatz oder vom venire contra factum proprium reden, tun sie das meistens, weil ihnen die Argumente ausgehen. So richtig im Volk verwurzelt sind diese Grundsätze schon deshalb nicht, weil dort die Lateinkenntnisse bedenklich nachlassen.
Eherne Rechtsprinzipien auf Deutsch sind selten und meistens schon so alt, dass sie fast genauso unverständlich wirken wie eine lateinische Sentenz. „Der Eid macht mündig“ ist so ein schwurbeliger Merksatz, den keiner mehr recht erklären kann. Unbekannt ist auch, warum dem Anderen billig sein soll, was dem Einen recht war. Der Verbraucherschutz hat uns das Prinzip „Augen auf, Kauf ist Kauf“ durchlöchert, darum gilt längst nicht mehr der Handschlag als Ausdruck des „Ein Mann ein Wort“.

Richtig kunterbunt wird es jedoch, wenn den Kindern im Lausbubenalter Strafrecht vermittelt werden soll. „Mitgegangen mitgefangen“ heißt es dann oder auch „mitgegangen mitgehangen“. Beides ist zweifelsohne falsch. Denn wer mitgeht ohne gefangen zu werden, hat Glück. Und wen der Staat nicht fängt, den hängt er auch nicht. Richtig wäre allein: Mitgefangen mitgehangen. Alles andere sind keine Rechtsgrundsätze, sondern lediglich Appelle an den Anstand. „Wenn du dabei warst, dann steh auch dazu“, wollen vorbildliche Eltern damit wohl ausdrücken. Das mag moralisch berechtigt sein, aus der Sicht des Strafverteidigers wäre es eher eine Dummheit.

Wer die Juristerei mit dem Pathos von Sitte und Anstand betreibt, rechtfertigt lediglich mein Lieblingszitat aus der Welt der Gesetze: Das Recht ist nicht für die Dummen da.