Demokratische Zumutung

Die demokratische Zumutung

Derzeit sind die Verwaltungsgerichte nicht zu beneiden.
Ebensoschnell wie die Landesregierungen Corona-Schutzverordnungen erlassen, wird auch von Bürgern oder Unternehmen dagegen geklagt. Das Mittel der Wahl ist dabei regelmäßig das sogenannte Eilverfahren. Denn es scheint ziemlich sinnfrei, den normalen Klageweg zu beschreiten, um dann in einigen Jahren letztinstanzlich zu erfahren, ob im Mai 2020 ein bestimmtes Geschäft öffnen, ein bestimmter Schüler zur Schule gehen, ein bestimmter Demonstrant sein Plakat spazierentragen durfte. Daher müssen die Gerichte Rechtsfragen schnell klären, am besten schon gestern.

Das Eilverfahren läuft so ab, dass man einen Antrag bei Gericht einreicht, die Gegenseite bekommt ein oder zwei Tage Gelegenheit zur Stellungnahme und dann wird entschieden. Meist läuft das innerhalb einer Woche. Der elektronische Rechtsverkehr führt zusätzlich zu einer Beschleunigung.

Man kann in dieser Situation ruhig einmal stolz sein auf unser Rechtssystem! Ich weiß nicht, ob in anderen Ländern so zügig Rechtsschutz gewährt wird.

Was da unter Hochdruck so herauskommt, wirkt allerdings bisweilen erstaunlich.

Nehmen wir nur mal die 800 m²-Regel, also die seltsame Vorschrift, dass Geschäfte mit einer Fläche von 799 m² öffnen dürfen, solche mit einer Fläche von 801 m² nicht. Ähnlich willkürlich wie die Vorschrift selbst erscheinen auch die dazu ergehenden Gerichtsbeschlüsse. In Sachsen-Anhalt, Hamburg und Niedersachsen halten die Oberverwaltungsgerichte die Regelung für wirksam; in Bayern und im Saarland nicht. Behauptet zumindest die Presse. In Wirklichkeit stimmt das in dieser Allgemeinheit nicht, denn die Gerichte entscheiden nur den konkreten Fall. Sie kippen also nicht gleich eine ganze Verordnung, weshalb theoretisch jeder einzelne Händler sein Glück selbst versuchen muss.

Manchmal reagiert aber auch das jeweilige Bundesland auf eine Gerichtsentscheidung und passt die Rechtsgrundlagen an. Dies kann zugunsten aller anderen sein, denen dann die gleichen Rechte gewährt werden. Es kann aber auch zu Lasten des siegreichen Klägers sein, denn wenn ein Verbot beispielsweise nur wegen eines Formmangels vom Gericht aufgehoben wurde, kann das Bundesland einfach diesen Formfehler beheben und das Verbot erneut – diesmal formwirksam – erlassen.

Der Flickenteppich des Rechts in unserer Republik wird dadurch immer bunter. Und er kann sich täglich ändern. War es das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vom 23.4.20 als „demokratische Zumutung“ bezeichnete? Oder war es die Tatsache, dass die Gewaltenteilung in diesem Land etwas – euphemistisch formuliert – verschlankt wurde?

Denn was die Justiz im Eilverfahren leistet, ist die Kontrolle der Exekutive, also des Regierungshandelns. Die Legislative, deren Aufgabe es eigentlich wäre, das Handeln der Regierung zu regeln und zu kontrollieren, ist de facto ausgeschaltet. Regiert wird mit Verordnungen, zwar nicht zum Schutz von Volk und Staat, sondern zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, aber dennoch in einer Art und Weise, wie es sie zuletzt nach dem Reichstagsbrand gab.

Wenn alles vorüber ist, wenn die Aufarbeitung beginnt, wird man sich fragen, wie es dazu kommen konnte, zu einer Entmachtung der Parlamente und Ermächtigung der Regierungen. Dann wird man vielleicht auch die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin unter die Lupe nehmen: „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung; denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind – die der Erwachsenen genauso wie die der Kinder. Eine solche Situation ist nur akzeptabel und erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar sind, wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört werden – wechselseitig. Dabei hilft die freie Presse. Dabei hilft unsere föderale Ordnung.“ Das hat sie gesagt und damit klassisch um den heißen Brei herumgeredet.

Denn nicht die Pandemie schränkt unsere Rechte ein, sondern Sie, Frau Bundeskanzlerin. Und nicht die freie Presse hat Ihnen auf die Finger zu schauen, sondern der freie Abgeordnete.