Was sind eigentlich „anwaltliche Erhebungen“?
„Der Zeuge erklärt …“, so steht es in polizeilichen Vernehmungsprotokollen. „Stimmt nicht“, sagt der Mandant, „es war genau andersrum. Der Zeuge versucht, seine eigene Tat zu verschleiern.“
In dieser Situation hat der Strafverteidiger zwei Möglichkeiten: Entweder er wartet ab, bis er den Zeugen im Gerichtssaal vor sich hat oder er kontaktiert und befragt ihn vorher. Aber darf er das?
Vor 100 Jahren war dies tatsächlich einmal umstritten, weil man die Ermittlungstätigkeit für ein Privileg von Polizei und Justiz hielt. Heutzutage gibt es zwar immer noch Richter, die kurz zucken, wenn sich herausstellt, dass ein Anwalt Zeugen vor der Verhandlung kontaktiert hat. Aber es zweifelt niemand mehr die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ernsthaft an. Schließlich gehört es zum Berufsbild des Strafverteidigers, die Ermittlungsergebnisse der Polizei anzuzweifeln.
Man spricht dann von „anwaltlichen Erhebungen“, um diese Tätigkeit vom amtlichen Charakter der polizeilichen Ermittlungen abzugrenzen.
Und es ist höchst aufschlussreich, was Zeugen in einem Privatgespräch berichten: „In Wirklichkeit war es anders, aber das werde ich nicht aussagen, weil ich dann Probleme bekomme“ ist beispielsweise ein Satz, den ich dann oft zu hören bekomme. Nicht ganz optimal für meine Zwecke, aber wenigstens eine Information, auf die man aufbauen kann. Denn der Strafprozess lebt vom Informationsvorsprung. Vor der Gerichtsverhandlung schon Bescheid zu wissen und die Taktik daran auszurichten – das ist gute Strafverteidigung.
Im Fernsehen wird die anwaltliche Ermittlungstätigkeit ausgelagert auf Privatdetektive. Aber welcher Mandant ist bereit, für Matula zu zahlen? Also kümmert der Verteidiger sich selbst darum. Etwa weil er gerade in einer Großstadt im Hotel sitzt, wo er die Zeit zwischen zwei Verhandlungstagen verbringt. Es geht um Zwangsprostitution, es geht um viel und beim wiederholten Aktenstudium fällt auf: Die Zeugin hat ausgesagt, man habe ihr zuerst die Haare blond gefärbt und sie dann gezwungen, im Bordell „Girlieland“ anzuschaffen. Na dann gehen wir der Sache doch mal nach.
Die Webseite des Girlieland zeigt jede Menge Frauen mit einfallslosen „Künstlernamen“. Beim Durchklicken der Bilder fällt mir die immergleiche Machart auf. Sollte es da einen professionellen Fotografen geben? Um dies herauszufinden, ist ein Ortsbesuch vonnöten. Aber der Tag ist ja noch lang und wirklich etwas zu tun habe ich ohnehin nicht.
Im Girlieland werde ich freundlich begrüßt. Eine als „Hausdame“ bezeichnete Mitsechzigerin erfragt meine Wünsche und bleibt ungerührt, als ich nur Informationen haben und keinesfalls Geld lassen möchte. Ja, es gebe einen Fotografen, der habe sein Studio aber in einer anderen Stadt, nicht weit entfernt, eigentlich nur auf der anderen Rheinseite. Das war doch mal eine Auskunft.
Wieder draußen auf der Straße googele ich den Fotografen und habe Glück. Er ist unter der angegebenen Nummer persönlich erreichbar. Mein Anliegen verwirrt ihn: Wie lange soll das her sein? Fast 3 Jahre? Und sie nannte sich Tanja? Da muss ich mein Archiv durchforsten. Was? Heute noch?
Zwei Stunden später stehe ich vor dem Studio, der Fotograf ist mittlerweile fündig geworden. Er besitzt ein Foto der Belastungszeugin aus dem Prozess, gefertigt an ihrem ersten Tag als Tanja im Girlieland, gekleidet wie es dort eben üblich ist – und ihre Haare sind dunkel. Wir einigen uns auf eine Lizenzgebühr, ich erwerbe die Rechte an dem Foto und fahre zurück in mein Hotel. Der nächste Tag wird eine Überraschung werden für die Zeugin.
Du fragst Dich, geneigter Leser, was mir diese Aktion gebracht hat? Nun, ein derartiges Strafverfahren lässt sich nicht völlig umdrehen, nur weil man das Kaninchen aus dem Hut zaubert. Aber solch ein Foto kann ein kleiner Baustein sein auf dem Weg zu dem Ziel, das man mit dem Mandanten anstrebt.
Übrigens: Meine beste Bürovorsteherin von allen hätte das gleiche Ergebnis wahrscheinlich auch durch hartnäckiges Telefonieren erzielt. Aber meine Methode macht mir eben mehr Spaß.