Rechtstreue

Sind Strafverteidiger eigentlich weniger „rechtstreu“?

Als junger Anwalt war ich gerne Seminarbetreuer bei der Deutschen Anwaltsakademie. Wenn man sich dort bereit erklärte, die Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung anfangs zu begrüßen und aufzupassen, dass sie sich ordentlich in die Teilnehmerlisten eintragen, musste man das Seminar nämlich nicht bezahlen. Eine Wohltat für die stets leere Schatulle eines Junganwaltes.

Ich betreute so eine ganztägige Fortbildung zum Versicherungsrecht, eine 2tägige zum Baurecht und eine 3tägige zum Familienrecht. Das war im Ablauf irgendwie immer gleich. Dann buchte ich mich in eine Fortbildung für Strafverteidiger und erwarb mir meine ersten grauen Haare. Die Typen kamen nicht pünktlich, füllten die Fragebögen nicht oder nur schlampig aus und standen nach den Kaffeepausen rauchend oder schwätzend draußen herum, obwohl der Referent längst schon wieder am Vortragen war. Schon ab dem Mittagessen fragten sie nach der Teilnehmerbescheinigung, gegen deren Ausgabe ich mich spätestens am frühen Nachmittag kaum noch wehren konnte. Bereits Stunden vor dem Ende machten sich die Ersten klammheimlich davon – mit einer fadenscheinigen Ausrede, aber immerhin mit Bescheinigung, dass sie angeblich acht Stunden brav zugehört hatten.
Seither interessierte ich mich nicht länger für Seminarbetreuung, sondern für Strafrecht.

Abseits aller Klischees zeigt diese Anekdote etwas Wesentliches auf: Strafverteidiger sind anders. Anders als andere Menschen, aber auch anders als andere Anwälte. Und das liegt nicht an den Fällen, mit denen sie zu tun haben. Auch in anderen Rechtsgebieten stehen Menschen am Abgrund: Der Familienvater, der zum Krüppel gefahren wird, der Häuslebauer, dessen Bauträger mit der Kohle durchbrennt, die Eheleute, die sich eine bittere Scheidungsschlacht liefern – es gäbe noch reichlich Beispiele.
Was den Beruf des Strafverteidigers von anderen unterscheidet, scheint mir nicht das Schicksal des Mandanten zu sein. Viel eher ist es der Gegner, dem man ständig gegenübertritt, nämlich der Staatsmacht, die im Bereich der Strafverfolgung sich für keinen miesen Trick zu schade ist. Sie kommt nicht nur mit einer immensen personellen und technischen Ausstattung daher, auch ihre Rechte gehen weit über das hinaus, was der Laie sich vorstellen kann. Heimlichkeit ist ihr Wesen, verdeckt sind ihre Methoden, rücksichtslos ihr Vorgehen. So muss das wohl sein, denn es geht um Verbrechensaufklärung. Da sind andere Kaliber tätig, als in der deutschen Durchschnittsbehörde, über die der Bürger so gerne Beamtenwitze erzählt.

Ich bin davon überzeugt, dass diese ständige Befassung mit Verhör und Festnahme, Überwachung, Durchsuchung und Haft die berufsmäßig daran Beteiligten verändert, sich gewissermaßen in die Gene einprägt. Und daraus entsteht dann eine Denkweise, die Außenstehenden vielleicht übertrieben erscheinen mag, eben ein professioneller Umgang mit dem Strafverfahren. »Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend«, sagt der Verteidiger, wenn die Polizei auf ihre kriminalistische Erfahrung verweist. »Wer sagt das?«, fragt er. »Wo steht das? Warum sollte es gerade so sein und nicht anders?« Immerfort ist er der lästige Quälgeist, der einfach nicht akzeptieren will, was doch unangefochten einhellige Meinung ist. Der Zweifel ist seine Waffe, das genaue Hinschauen und Hinterfragen sein täglich Brot.
Tatsachenverdrehung, Verharmlosung und zwielichtige Nähe zu ihrer Klientel wirft man den Anwälten gerne vor, die aus der Untersuchungshaft wieder herausboxen, wen die Polizei so mühevoll hineingebracht hat. Liegt es da nicht nahe, dass solche Leute auch die Geltung von Gesetzen eher kritisch sehen, auch Verbote nicht akzeptieren oder sie geschickt umgehen?

Und damit sind wir beim Thema dieses Beitrages, bei der Rechtstreue, der Frage, warum manche Menschen das Gesetz brechen.

Wenn Politiker davon reden, etwas zu verbieten, dann erhoffen sie sich davon ernsthaft, ein von ihnen als unerwünscht erkanntes Verhalten werde künftig nicht mehr stattfinden. Dass Mord verboten ist, soll in ihrer Idealwelt bewirken, dass keiner mehr andere tötet. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass Morde weiterhin geschehen und sich auch gar nicht verhindern lassen. Sie werden lediglich sanktioniert, mit einer Strafe bedroht, die im Extremfall auch lebenslang vollstreckt wird.
Ein Verbot bewirkt also nicht, dass das verbotene Tun unterlassen wird. Es regelt lediglich, welche Sanktion dafür zu erwarten ist. Wenn etwas verboten ist, bedeutet dies darum prinzipiell nicht, dass man es nicht tun darf, sondern nur dass man, wenn man es tut, mit Konsequenzen rechnen muss.
Hat man dies erst verstanden, liegt es nahe, Gesetzesübertretungen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Was bringt es mir, was schadet es mir? Der erste Schritt zum Rechtsbruch ist gegangen.

Als weitere Überlegung tritt dann hinzu die Magna Charta des Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. Bevor die Sanktion greift, muss der Staat erst einmal beweisen, dass sein Verbot missachtet wurde. Dabei unterliegt er Regeln, insbesondere Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Das Verbot ist also nur dann von Bedeutung, wenn der Verstoß dagegen mit rechtsstaatlichen Methoden nachweisbar ist. Gelingt dies nicht, läuft der Mörder weiter frei herum. Dieses Wissen ist der zweite Schritt zum Rechtsbruch.

Vergegenwärtigt man sich nun auch noch, dass vorgenannte Regeln zum Nachweis eines Verstoßes bisweilen sehr kompliziert sind und obendrein auch in Gerichtsverfahren überprüfbar, bekommt der Verstoß gegen Verbote etwas Sportliches. Das Risiko ist kalkulierbar, die Nachweispflicht liegt bei den Strafverfolgern, für die im gerichtlichen Verfahren nicht wenige Fußangeln lauern. Da könnte man es doch durchaus mal versuchen …
Dreier einfacher Überlegungen bedarf es also nur und schon verliert das Verbot seinen Schrecken.
Trotzdem ist es nicht mein Hobby, nach Feierabend am perfekten Verbrechen zu tüfteln, nur weil ich weiß, worauf man achten muss. Der tägliche Umgang mit dem Strafrecht führt eher dazu, dass man besonders penibel darauf achtet, wo die Grenze des Erlaubten überschritten wird. Strafverteidiger werden permanent bedroht von Strafvorschriften, die andere Anwälte zuletzt im Studium gehört haben: Strafvereitelung, Geldwäsche, Falschaussage, falsche Verdächtigung, das Ganze dann auch noch in der Form der Teilnahme, was im Klartext bedeutet, dass man vorgeworfen bekommt, anderen bei deren Taten geholfen, oder sie sogar dazu angestiftet zu haben. Es besteht also wahrlich kein Grund, die Rechtstreue insbesondere des Strafverteidigers zu bezweifeln. Schließlich kennt er das Risiko besser als jeder andere.

Und was war jetzt mit dem kalkulierbaren Risiko, dem Dreisprung zum erfolgreichen Rechtsbruch? Derjenige, der so denkt, bist Du, geneigter Leser, beispielsweise wenn Du wieder einmal am Steuer Deines Wagens mit dem Handy telefonierst oder Schlimmeres planst. Für Dich wirken die oben getätigten drei einfachen Überlegungen verführerisch. Ich rate dringend davon ab.