Selbstleseverfahren

Was ist eigentlich ein „Selbstleseverfahren“?

1 Million ist viel Geld. Wer es zu bekommen hat, muss manchmal lange darauf warten. Jahrelang geht der Prozess hin und her, bis schließlich die Anwälte vor dem hohen Gericht auftreten und Folgendes passiert:

Klägeranwalt: „Ich stelle den Antrag vom 10.6.15 “
Gegenanwalt: „Ich beantrage Klageabweisung.“
Richter: „Beschlossen und verkündet: Termin zur Verkündung einer Entscheidung am 28.2.18 um 12 Uhr.“

So oder so ähnlich verläuft ein Prozess am Zivilgericht. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung, weil alle Beteiligten alle Akten kennen und es wenig Sinn macht, den 73-seitigen Erbvertrag, aus welchem sich der Anspruch auf 1 Mio. Euro ergibt, vor Gericht öffentlich zu verlesen. Denn Anwälte und Gericht kennen die Akte in- und auswendig, sie tauschen seit Jahren Schriftsätze aus, haben alles, was für den Fall relevant ist, längst mehrfach schriftlich zu den Akten gereicht. Die Verhandlung vor Gericht ist nur noch eine Formalität, ein Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert.

Ganz anders hingegen verläuft der Strafprozess. Hier muss alles, was das Gericht in seinem Urteil berücksichtigen will, in mündlicher Verhandlung erörtert werden. Ein Attest über Verletzungen wird vorgelesen und wenn jemand das Medizinerkauderwelsch nicht versteht, muss eben noch ein Arzt hinzugezogen werden, der das Attest erläutert.

Dieser Mündlichkeitsgrundsatz gilt im Strafprozess deshalb, weil der Angeklagte die Möglichkeit haben muss, sich zu allen Vorwürfen zu äußern. Und da er nicht 1 Million zu gewinnen hat, sondern eher einige Jahre Haft, kann man wohl kaum von ihm verlangen, durch das Studium meterdicker Akten an seiner Verurteilung mitzuwirken.

Außerdem gibt es im Strafprozess Schöffen. Die sollen ohne Kenntnis des Akteninhalts entscheiden, nur auf der Basis dessen, was sie im Prozess hören und sehen.

Einzige Ausnahme von diesem Mündlichkeitsgrundsatz ist das Selbstleseverfahren, welches man sich wie folgt vorstellen muss: Am Ende eines Verhandlungstages überreicht der Vorsitzende den übrigen Prozessbeteiligten einen Stapel Papiere. Am Beginn des nächsten Verhandlungstages fragt er, ob jeder die Papiere gelesen hat. Allein dadurch wird der Inhalt der Papiere zum Prozessstoff. 50 eng beschriebene Seiten aufgezeichneter SMS muss dann jeder parat haben und wissen, dass mit der „Lieferung“ auf Seite 27, 3. Absatz von unten angeblich Heroin gemeint sein soll.

Ein nicht ganz unbedenkliches Verfahren, denn niemanden interessiert, ob der Angeklagte alles gelesen oder die Schöffen alles verstanden haben. Wen wundert es also, dass die gerade neu sich bildende Groko genau bei diesem Selbstleseverfahren Reformbedarf entdeckt hat.

„Wir modernisieren das Selbstleseverfahren“, heißt es im Koalitionsvertrag. Und wenn man weiß, aus welcher Ecke diese Idee kommt, ist auch klar, dass damit nicht gemeint ist, die heute schon bekannten Schwächen des Verfahrens auszubessern. Beabsichtigt ist etwas ganz anderes: Noch mehr, noch umfangreicher soll in Zukunft davon Gebrauch gemacht werden. Statt 50 Seiten gibt es dann 500 Seiten zu lesen oder gar 5000. Hauptsache, das Verfahren wird beschleunigt und die nervige Fragerei durch Verteidiger hat ein Ende.

Der Strafprozess der Zukunft könnte dann so aussehen:

Staatsanwalt: „Ich beantrage lebenslang.“
Verteidiger: „Ich beantrage Freispruch.“
Gericht: „Ein Urteil wird Ihnen zugestellt.“

Franz Kafka lässt grüßen