Befangenheit

Was bedeutet eigentlich „Befangenheit“?

Haben Sie schonmal einen Richter wegen Befangenheit abgelehnt?“, fragen Mandanten bisweilen vor einem Prozess. „Noch nie!“, antworte ich dann, was sie umgehend an der Qualifikation ihres Verteidigers zweifeln lässt. „Aber falls mein Richter befangen ist …“, haken sie dann hoffnungsfroh nach, nur um von mir zu erfahren: „Es interessiert mich nicht, ob Richter befangen sind.“ Danach herrscht betrübtes Schweigen. Das müssen Mandanten erst mal verdauen. Hat der Anwalt vielleicht keine Ahnung?

Doch, hat er, darum weiß er, dass es nie darauf ankommt, ob ein Richter befangen ist. Der Gesetzgeber hat darauf geachtet, dass bei derartigen Scharmützeln niemand sein Gesicht verlieren muss. Darum verlangt er nur die „Besorgnis der Befangenheit“, um Richter ablehnen zu können. Es genügt also das „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit“. Ob der Betreffende wirklich voreingenommen ist, wird nie entschieden.

Was entschieden wird, ist die Frage, ob dieses Misstrauen des Mandanten zu Recht besteht. Es muss nämlich nach den Maßstäben eines »besonnenen Dritten« gegeben sein, nicht nur rein subjektiv. Mit anderen Worten: Nur wenn jeder Andere auch an der Unparteilichkeit des Richters zweifeln würde, werden die Bedenken des konkreten Mandanten vom Gericht ernst genommen. Ob nun tatsächlich jeder Andere diese Zweifel ebenfalls hätte, lässt sich eigentlich nur durch eine Meinungsumfrage feststellen. So weit kommt es aber nicht, denn das entscheiden einfach andere Richter, die selbstverständlich viel besser beurteilen können, ob der Angeklagte zu Recht an der Unparteilichkeit eines Richters zweifelt, der ihm kurz nach Prozessbeginn androht: »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«

Um den Hintergrund solcher Äußerungen besser verstehen zu können, holen die zur Entscheidung über den Ablehnungsantrag berufenen Richter von dem abgelehnten Richter eine »dienstliche Stellungnahme« ein. Nach einer Volksweisheit wird ja nirgendwo so viel gelogen wie bei Gericht. Der Gesetzgeber täte deshalb gut daran, für diese dienstlichen Stellungnahmen den Anwaltszwang einzuführen, denn es ist bisweilen lächerlich und absurd, wie manche Richter unter Verdrehung aller Tatsachen sich zu rechtfertigen versuchen. Zum Glück nur wenige.

Nach der dienstlichen Stellungnahme entscheiden die Kollegen des abgelehnten Richters. Die sind streng, sehr streng – allerdings nur, wenn der abgelehnte Richter ein Schöffe ist. Die armen Schöffen dürfen noch nicht einmal während stundenlanger Sitzungen schnell per SMS regeln, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Sie dürfen auch nicht in einer Verhandlung am 6.12. dem Staatsanwalt einen Schokoladennikolaus schenken. Alles Gründe, um den Prozess sofort abzubrechen und den Schöffen abzuschießen.

Ist der abgelehnte Richter hingegen ein Berufsrichter, kann er auf großzügigere Maßstäbe bei seinen Kollegen hoffen. Wenn eine Richterin mit dem Opfer einer Körperverletzung enge persönliche Beziehungen pflegt und sich regelmäßig mit ihm zum Mittagessen trifft, muss das für den Angeklagten, der den Mann brutal zusammengeschlagen haben soll, noch lange kein Grund sein, an der Unvoreingenommenheit dieser Richterin zu zweifeln. Richter können doch privat und dienstlich problemlos trennen. Wo kämen wir hin, wenn jeder daran zweifeln dürfte?

Allerdings gibt es ja noch die Revision. Das Revisionsgericht prüft auf entsprechenden Antrag nochmals nach, ob das Verhalten des abgelehnten Richters tatsächlich so unbefangen war. Seltsamerweise kommen die Revisionsgerichte oft zu ganz anderen Wertungen, als die Kollegen vom Gericht des abgelehnten Richters.

Konsequenz: Weil ein Richter, der schon am ersten Verhandlungstag wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, trotzdem weitermachen durfte, wird noch 20 Tage oder länger weiterverhandelt, der Angeklagte auch verurteilt und erst vom Revisionsgericht festgestellt, dass dieser Prozess so nie hätte stattfinden dürfen.

Und darum beginnt das ganze Verfahren dann von vorne, der Angeklagte steht wieder mit seinem Verteidiger vor der Türe, doch dieses Mal fragt er: »Würden Sie einen Richter auch ablehnen, wenn Sie besorgt sind, dass er befangen ist?« – »Nein«, antworte ich dann. »Es kommt nicht darauf an, ob der Verteidiger wegen der möglichen Befangenheit eines Richters besorgt ist.«

Strafprozess ist eben kompliziert.