Was ist eigentlich der „Inertia-Effekt“?

In Coronazeiten wird ja viel über Immunität geredet, denn jeder möchte gerne unangreifbar werden für das Virus. Immunsein löst Probleme, Immunsein schützt vor unangenehmen Überraschungen, Immunsein macht das Leben leichter. So ähnlich funktioniert das auch im Strafprozess, wo der Virus Zweifel heißt und daran hindert, Menschen zu verurteilen. Darum muss der Zweifel immer wieder mühevoll ausgemerzt werden. Es sei denn, man ist immun dagegen. Denn Immunsein macht das Leben leichter.

Der Weg zur Immunisierung ist im Strafprozess der gleiche wie in der Medizin: die Impfung. Impfen bedeutet, Patienten eine kleine Dosis der Krankheit zu verabreichen, aber nur eine ganz kleine, eine homöopathische. Die Dosis darf keinesfalls zum Ausbruch der Krankheit führen, sie muss so schwach sein, dass der Körper sie mit Sicherheit vernichtet.

Die Impfärzte des Strafprozesses sind die Polizisten, denn die komponieren die Strafakten (vgl. dazu => hier). Ihr homöopathischer Impfstoff ist ein Textbaustein, der ziemlich am Anfang jeder Akte auftaucht, etwa auf Blatt 3: „Der Beschuldigte bestreitet die Tat.“, heißt es dort. Dadurch wird künftigen Lesern dieser Akte ein Zweifel injiziert – und anschließend sofort wieder bekämpft, denn die Beweise für die Tat sind, so suggeriert es die Akte, erdrückend: Das angebliche Vergewaltigungsopfer hat bei der Befragung „mehrfach geweint“. Das abgehörte Gespräch über etwas Braunes deutet „nach kriminalistischer Erfahrung“ auf Heroin hin. Mehrere Zeugen sind sich sicher, dass der Täter ein „osteuropäischer Typ“ war. Oder – der manipulative Dauerbrenner in polizeilichen Vermerken – „es ist davon auszugehen dass der Beschuldigte nicht die Wahrheit sagt“.

Wow“, denkt sich da der Staatsanwalt, „meine anfänglichen Zweifel sind plötzlich wie weggeblasen.

Wir befinden uns jetzt gerade auf Blatt 15 der Ermittlungsakte, Zweifel an der Schuld sind ausgemerzt, die nächsten 200 Seiten werden nur noch überflogen, denn es ist Immunität gegen Zweifel eingetreten. Die Immunisierung besteht darin, dass der Mensch träge ist und meist nicht bereit, einmal gewonnene Ùberzeugungen wieder aufzugeben.

Du weißt doch sicher auch, geneigter Leser, dass Trump als Präsident eine Niete ist. Das wusstest Du bereits vor seiner Wahl und hast seither nie darüber nachgedacht, ob er vielleicht irgendetwas richtig macht. Alles, was Du von ihm noch zur Kenntnis nimmst, sind seine Pleiten und Pannen.

Oder betrachten wir einen deutschen Politiker, irgendeinen auf der Skala von der Bundeskanzlerin bis zu Deinem Ortsbürgermeister. Wie ist Deine Meinung zu diesem Politiker und seit wann? Hast Du diese Meinung je revidiert? Hast Du überhaupt irgendetwas zur Kenntnis genommen, was Dir Anlass geben könnte, umzudenken? Wahrscheinlich nicht. Statt dessen glaubst Du ernsthaft, der von Dir meistgehasste Politiker sei total dumm, faul, überflüssig und baue von morgens bis abends nur Bockmist.

Inertia heißt Trägheit. Diese Trägheit veranlasst Dich, eine einmal gefasste Meinung auch gegen widersprechende Informationen zu verteidigen. Machen wir uns nichts vor: Nach 23 Verhandlungstagen und 150 vernommenen Zeugen sind Richter nicht mehr ganz so unvoreingenommen wie an jenem Tage, als ihnen die Akte zum ersten Mal auf den Tisch flatterte. Die Neigung, einem jetzt erst auftauchenden Alibizeugen noch zu glauben, ist deutlich eingeschränkt.

Denn Dank geschickt zusammengestellter Akten hat das Gehirn ab Seite 15 einen Schutzmantel gegen Zweifel aufgebaut, Du fühlst Dich wie jemand, der an einem tropischen Strand 10 Caipirinhas getrunken hat: Das Leben ist schön. Die Sonne am Himmel ist schön, die Mädels im Bikini sind schön, das Meer ist schön. Und die Haifischflosse, die da gerade rausguckt? Auch schön!

Am Strand rettet Dich jetzt vielleicht der Bademeister. Im Strafprozess nur noch der Strafverteidiger.

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