Instanzenzug

Was ist eigentlich der „Instanzenzug“?

Ich wage einmal zu behaupten, dass selbst Juristen mit Erstem Staatsexamen den Unterschied zwischen einer Berufung und einer Revision nicht verstehen. Erst im Referendariat, dem halbwegs praktischen Teil der Juristenausbildung, beginnen sie vielleicht zu begreifen, weshalb man ab dem zweiten Staatsexamen voraussetzt, dass sie es verstanden haben. Was noch nicht heißt, dass sie deshalb eine Revision begründen könnten.

Denn die Revision im Strafprozess ist eine äußerst schwierige Spezialmaterie, schwieriger als Vieles, was gemeinhin als schwierig gilt, oder – wie ein bekannter Kommentator zu sagen pflegt: Jura am Hochreck.

Wenn ein Zeuge das Blaue vom Himmel herunterlügt und der Angeklagte deshalb verurteilt wird, dann hat er mit einer Revision keine Chance. Wird im selben Prozess ein Foto vom Tatort betrachtet, von allen Beteiligten interpretiert und eine Stunde lang aus allen Richtungen gedeutet, dann kann das Urteil in der Revision scheitern, nur weil der Protokollführer diesen Vorgang nicht mit einer ganz bestimmten Floskel im Protokoll ausdrücklich erwähnt hat.

Fügt der Anwalt eine bestimmte Urkunde seiner Revisionsbegründung als Anlage (also nach der Unterschrift) bei, dann schaut sich das Revisionsgericht diese nicht einmal an. Nutzt er hingegen die moderne Technik und kopiert die Urkunde in den laufenden Text des Schriftsatzes hinein, kann das dem verurteilten Mörder einen Freispruch bescheren.

So seltsam ist Gerechtigkeit, so formal der Unterschied zwischen Freiheit oder Knast. Und weil das Ganze so kompliziert ist, liegt die Erfolgsaussicht einer Revision im niederen einstelligen Prozentbereich. Die Revision ist also so etwas wie eine juristische Lotterie, ein Schachspiel ohne Dame, ein Formel-1-Rennen auf dem Tretroller.

Einziger Lichtblick ist die Erstreckung: Wenn nämlich mehrere gemeinsam Verurteilte in Revision gehen und nur einer hat einen Verteidiger, der die hohen Hürden nimmt, dann wird das Urteil der anderen gleich mit aufgehoben, selbst wenn deren Verteidiger Mist gebaut haben.

Ganz anders dagegen die Berufung. Da genügt schon der Satz, dass man Berufung einlegen wolle, und schon wird das gesamte Verfahren neu aufgerollt, nebst allen Zeugen, Sachverständigen usw. Der Angeklagte muss noch nicht einmal zum Termin erscheinen, es genügt, wenn sein Anwalt anwesend ist (und hoffentlich eine Vollmacht mitbringt). Gefällt das Ergebnis dann immer noch nicht, kann man problemlos auch nach verlorener Berufungsinstanz die Revision wenigstens noch versuchen. Das nennt man dann den Instanzenzug, weil das Verfahren sich durch drei Instanzen zieht.

Du wirst, geneigter Leser, Dich nun fragen, weshalb ein Verurteilter dann überhaupt den dornigen Weg einer Revision beschreiten sollte, anstatt auf den scheinbar bequemeren Instanzenzug aufzuspringen. Damit sprichst Du eines der großen Rätsel des Strafprozesses an. Der Gesetzgeber hat den Instanzenzug nämlich nur für eher unbedeutende Straftaten aufs Gleis gesetzt. Schwarzfahrer, Ladendiebe, ebay-Betrüger und unfallflüchtige Autofahrer dürfen dreimal würfeln. Für Menschenhändler, Mörder oder Terroristen gibt es nur die Revision – mit den oben beschriebenen Schwierigkeiten. Dort wo es also um ein Leben hinter Gittern geht, da fährt der Instanzenzug nach nirgendwo, hat der Gesetzgeber den Strafprozess de facto auf eine einzige Instanz beschränkt.

Bei jugendlichen Straftätern im Bagatellbereich – in welchem der Instanzenzug bekanntlich über drei Stationen fährt – gibt es nur ein Entweder-Oder. Aber nicht, weil der Gesetzgeber Kierkegaard gelesen hätte, sondern weil er pädagogische Erwägungen meinte tätigen zu müssen. Und wie immer, wenn es pädagogisch wird, kommt am Ende Unfug heraus. Es gibt nämlich Verfahren, in denen Jugendliche und Erwachsene gemeinsam angeklagt sind. Werden die nun in erster Instanz verurteilt, gehen sie in Berufung. Werden sie erneut verurteilt, kann nur noch der Erwachsene in Revision gehen. Wird dessen Urteil dann aufgehoben, findet keine Erstreckung auf den Jugendlichen statt. Der darf dann folglich im Jugendknast darüber nachdenken, wie es ist, wegen eines falschen Urteils zu sitzen.

Pädagogisch sehr wertvoll!

Forensische Wahrheit

Was ist eigentlich die „forensische Wahrheit“?

»Es erscheint der Zeuge XY um 14 Uhr. Nach einem Vorgespräch wird er über seine Zeugenpflichten belehrt und anschließend verantwortlich vernommen. Beginn der Vernehmung: 14.30 Uhr.«

So etwas liest man in wenigstens der Hälfte aller polizeilichen Vernehmungsprotokolle. Es ist so normal, dass die Polizei sich noch nicht einmal bemüht, den Rechtsbruch zu vertuschen. Nur gewiefte Ermittler verschweigen das »Vorgespräch«, verplappern sich aber hinterher selbst, wenn sie beispielsweise diktieren: »Sie haben vorhin im Vorgespräch gesagt …«.

Die Strafprozessordnung kennt kein Vorgespräch. Sowohl Zeugen als auch Beschuldigte sind zuerst zu belehren, sodann zu vernehmen. Vorgespräche dienen allein dazu, den Zeugen zu steuern. Sie verfälschen also die Aussage und sind daher schlichtweg rechtswidrig.

Falls Du, geneigter Leser, jemals einen Rechtsfall hattest und Dich heute noch wunderst, was die Justiz daraus gemacht hat, dann liegt dies nicht nur aber auch an diesen ominösen Vorgesprächen. Andere Gründe können die Zeitnot der mit dem Fall befassten Personen sein, die fehlenden Kenntnisse in der Psychologie einer Aussage, der Unwille von Zeugen, wahrheitsgemäß auszusagen, die Versuche der Prozessbeteiligten, Tatsachen zu drehen und zu deuten, kurzum: Bis ein bestimmtes Geschehen im Gerichtssaal rekonstruiert wurde, unterliegt es derart vielen Einflüssen, dass es fast schon einem Wunder gleichkäme, wenn die Wahrheit vor Gericht ein tatsächliches Geschehen in allen Facetten korrekt abbildete. Man muss sich nur mal ein Fußballspiel von zwei verschiedenen Zuschauern erzählen lassen, dann wird klar, warum es wahrheitsgetreue Aussagen nicht gibt.

Da die Justiz es schon vor sehr langer Zeit aufgegeben hat, auf das Wunder der wahren Aussage zu warten, begnügt sie sich mit einem Zerrbild der Realität, wozu sie ihren Richtern den »Grundsatz der freien Beweiswürdigung« an die Hand gegeben hat. Das meint: Was der Richter für erwiesen hält, wird Grundlage des Urteils, und zwar – ein Schelm, der Böses dabei denkt – mit Bindungswirkung für die höhere Instanz. Ein Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Richters zu akzeptieren. (Es sei denn, er ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Wasser den Berg hinauf fließt. Aber solche Fehler machen Richter nicht.)

Wenn der Rechtsmediziner feststellt, dass der Messerstich von einem Rechtshänder kam, der Angeklagte aber Linkshänder ist, hindert niemand das Gericht daran, zu glauben, dass der Linkshänder eben ausnahmsweise mal mit Rechts zugestochen hat. Und warum zeigt der Stichkanal nach oben, obwohl der Angeklagte doch viel kleiner ist als das Opfer? Nun, er wird sich eben auf einen Stuhl gestellt haben. – So kann es gehen, wenn die Justiz zur Wahrheitsfindung schreitet, tatsächlich aber gar nicht nach der Wahrheit sucht, sondern nur nach einer Möglichkeit, ihr Urteil fehlerfrei zu begründen.

»Das ließe sich schreiben«, sagen erfahrene Vorsitzende, wenn sie andeuten wollen, dass sie einen Angeklagten für überführt halten. Damit erklären sie unverhohlen, aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme einen Weg zu sehen, ihr Urteil in einer Weise zu begründen, die es der nächsten Instanz unmöglich macht, an dem Beweisergebnis herumzunörgeln. Und nur darum geht es.
Was die Gerichte an Fakten mittels ihrer freien Beweiswürdigung so zusammensetzen, dass sich ein Urteil schreiben ließe, nennt man die forensische Wahrheit. Sie kann der Realität sehr nahe kommen, aber auch eine frei erfundene Geschichte sein. Völlig egal, Hauptsache es lässt sich schreiben.

Natürlich sind Gerichte nicht darauf aus, Fehlurteile zu produzieren. Unschuldige zu verurteilen, Unrecht zu sprechen. Aber ihr Arbeitsmaterial ist ja nur eine Akte. Sie können nicht mehr tun, als den Inhalt dieser Akte auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Daher lohnt noch einmal der Blick auf das Vorgespräch bei der Polizei. Im eingangs geschilderten Beispiel dauerte es 30 Minuten. Was kann man in dieser Zeit nicht alles besprechen!

Strafverteidiger kämpfen verbissen darum, den Inhalt solcher Vorgespräche im Prozess aufzuklären. Meist bleibt im Dunkeln, was Polizei und Zeuge eine halbe Stunde lang an Informationen ausgetauscht haben, denn man hat angeblich nur über »den Ablauf der Vernehmung« geredet. Wer jedoch wissen will, warum die forensische Wahrheit bisweilen so völlig anders klingt als der wahre Sachverhalt, der sollte diese Vorgespräche genau unter die Lupe nehmen.

Wahlfeststellung

Was ist eigentlich eine „Wahlfeststellung“?

Geiz ist (angeblich) geil, was bei manchen Menschen zu wahren Hirnaussetzern führt. Das verlockend angepriesene Hightech-Mountainbike vom no-name-Plagiator zum Spottpreis von 150 Euro würde beim Discounter um die Ecke kaum einer kaufen. Sind Rahmen, Schaltung und Sattel aber von namhaften Herstellern, wird so mancher bei diesem Preis schwach. Auch wenn das Rad schon gebraucht ist und von einem Unbekannten in einer dunklen Seitengasse angeboten wird. Wer nie was billig kauft, kann eben nie was sparen.

Und so erwirbt Gerhard Geizhals ein Rad im Wert von etwa 1.500 EUR für 10 Prozent dessen, was er fairerweise hätte zahlen müssen. Gerade als er sich – mit neonfarbenem, atmungsaktiven Shirt, Radlerhose und Schutzhelm – damit sonntags im gut besuchten Stadtpark zur Schau stellt, wird er von Fritz Flink angehalten, dem das Rad vor kurzem erst gestohlen wurde und der es nun zurückhaben möchte. Doch Gerhard Geizhals wähnt sich für clever: »Hab ich für 500 gekauft, gib mir wenigstens 250 zum Ausgleich«, fordert er. Kurz darauf ist die Polizei vor Ort, die der nun arg in die Defensive geratene Gerhard Geizhals umgehend in die dunkle Seitengasse führt, hin zum Verkäufer jenes unseligen Drahtesels.

Der hat – ähnlich wie das Plagiat aus dem Discounter – fernöstliche Wurzeln, darum nennen wir ihn Lang Fing. Außerdem hat er Bewährung wegen einschlägiger Vorstrafen. Vor Gericht geht es also um viel, darum gibt Lang Fing alles: »Ich habe das Rad nicht gestohlen, sondern selbst günstg erworben«, verteidigt er sich und fügt hinzu: »Ich schwöre!« Das überzeugt den Richter, der ein salomonisches Urteil fällt: »Dem Angeklagten kann der Diebstahl nicht nachgewiesen werden, darum verurteile ich ihn wegen Hehlerei zu acht Monaten. Bewährung gibt’s keine.«


Das war sie: die Wahlfeststellung. Eine ganz ausgebuffte juristische Zwickmühle, denn eine Falle schnappt meistens zu. In der Praxis führt sie dazu, dass Strafrichter völlig entspannt etwas sagen können, was ihn sonst nur ungern über die Lippen kommt: »Dem Angeklagten kann der Diebstahl nicht nachgewiesen werden.«

Nur einen Tag später verkündet der Gesetzgeber eine Amnestie. Durch das Gesetz zur Wiederherstellung ordnungsgemäßer Eigentumsverhältnisse wird der Hehlerei-Paragraph ein Jahr lang außer Kraft gesetzt. So soll sichergestellt werden, dass alle Schnäppchen aus den dunklen Seitengassen endlich auf den Markt kommen und auf diese Weise letztlich verschwinden. Gegen Ende dieses Amnestiejahres kommt auch Lang Fing wieder auf freien Fuß und wie der Zufall es so will, verkauft er Gerhard Geizhals schon kurze Zeit später erneut ein Rad, das Fritz Flink just einen Tag zuvor gestohlen wurde. Der Rest ist bekannt, der Strafrichter not amused, Lang Fing erneut vor sich zu haben.

Und wie das täglich grüßende Murmeltier verteidigt Lang Fing sich erneut mit dem Satz: »Ich habe das Rad nicht gestohlen, sondern selbst günstg erworben.« Natürlich vergisst er auch nicht das inbrünstige »Ich schwöre!« Doch die Möglichkeit der Wahlfeststellung scheitert dieses Mal an der Amnestie für Hehler. Der Richter muss sich also entscheiden. Freispruch in dubio pro reo oder erneut Knast für Lang Fing?

Ich überlasse es Deiner Fantasie, geneigter Leser, die Beweiswürdigung des Gerichts selbst nachzuvollziehen. Eines dürfte aber doch klar sein: Die Quote des »Dem Angeklagten kann der Diebstahl nicht nachgewiesen werden« wird merklich abnehmen.

Winterstrafrecht

Im Strafrecht ist jetzt Winter

Heute am 1. Oktober beginnt die strafrechtliche Winterzeit. Wann immer die Polizei nicht zweimal klingelt, sondern einmal heftig klopft, fragt zwar jeder sofort nach dem Durchsuchungsbeschluss, aber keiner kommt auf die Idee, einen Blick auf Uhr und Kalender zu werfen. Denn Wohnungsdurchsuchungen zur Nachtzeit sind – von Ausnahmen abgesehen – verboten.

Die Nachtzeit hielt der Gesetzgeber schon immer für besonders schützenswert. Daher wurden früher Wohnungsdiebstähle auch härter bestraft, die „daselbst zur Nachtzeit verübt“ wurden. Wenn der Deutsche Michel die Schlafmütze aufhat, will er eben nicht gestört werden. 

Heutzutage gilt der Dieb in der Nacht nicht mehr für schlimmer als der am Tage. Geschützt wird der Bürger nur noch vor der Polizei in der Nacht. So ändern sich die Zeiten.

Und mit Ihnen wandelt sich die Vorstellung darüber, wann eigentlich Nacht ist. Denn Strafrecht ist stets den Launen seiner Macher unterworfen, es gilt weder seit noch für ewig.

Die bloße Dunkelheit schien den historischen Strafjuristen keine hinreichende Abgrenzung für die Schwelle der Nacht zum Tage, ebenso wenig die Schlafenszeit. Also einigte man sich darauf, dass Nacht im rechtlichen Sinne nur dann sei, wenn Dunkelheit und Schlafenszeit zusammenfallen. So weit die Theorie.

Im alten Preußen begann die Nacht in Umsetzung dieser Grundsätze abends um zehn und endete morgens um vier. Im Juni und Juli währte sie gar nur von 23 bis 3 Uhr.
Im Vergleich dazu ist der moderne Staat recht großzügig. Er gönnt Dir, geneigter Leser, bereits ab 21 Uhr Ruhe. So ist das seit 1877, obwohl zwischenzeitlich mal die Sommerzeit eingeführt wurde und im Juni/Juli um 21 Uhr nicht geschlafen, sondern bei Tageslicht gegrillt wird.

Da allerdings nur das gute Gewissen ein sanftes Ruhekissen ist und das Böse ohnehin nie schläft, meinte der Gesetzgeber beim Ende der Nacht differenzieren zu müssen: Zwischen dem 1.4. und dem 30.9. endet diese rechtlich schon um 4 Uhr, ansonsten erst um 6 Uhr. Daher markiert der heutige Tag einen Wendepunkt.

Rührt das schlechte Gewissen übrigens nicht von krummen Dingern, sondern nur von unbezahlten Rechnungen her, darf der Bürger ganzjährig bis 6 Uhr schlafen. Für die Durchsuchung seitens des Gerichtsvollziehers gilt nämlich § 758a ZPO. Der kennt keinen Unterschied zwischen Sommer und Winter.

Pläne, angesichts der demnächst kommenden ewigen Sommerzeit die Nacht neu zu definieren, gibt es keine. Und so wird auch in Zukunft der Strafverteidiger im Sommer mitunter zwei Stunden vor seinem zivilistischen Kollegen auf Trab sein müssen. 

Ein Beruf, der eben nicht für Schlafmützen gedacht ist.

Nachtrag: Durch das „Gesetz zur Fortentwicklung der StPO u.a.“ vom 25.6.2021 (BGBl I, S. 2099) hat der Gesetzgeber § 104 StPO geändert. Die Nachtzeit dauert jetzt einheitlich von 21 bis 6 Uhr.

Handyauswertung

Wie funktioniert eigentlich ein „Handyauswertung“?

Dein bester Freund – das Smartphone – ist, geneigter Leser, eine Hure, denn treulos gibt es sich jedem hin, egal ob Freund oder Feind. Wer seine Dienste zu nutzen weiß, dem verrät es willig unsere gesamte Kommunikation nebst Kontakten, Standorten sowie Zeitstempeln. Und niemand weiß diese Prostitution besser zu nutzen als die Polizei. Vor allen in Strafverfahren um Drogen gibt es regelmäßig ein oder mehrere Handys, die ihre Intimität schamlos mit Kriminalbeamten geteilt haben. 

Ein Vergnügen dürfte das allerdings nicht sein für die Drohenfahnder, denn es gibt nichts Öderes, als stundenlang fremde Chatverläufe zu lesen. Wer es dennoch tut oder beruflich tun muss, verliert bald den Glauben an die menschliche Intelligenz. Warum man einen Satz aus 5 Worten in ein Stakkato aus 10 Einzelnachrichten zerhacken muss, verstehe, wer will. Es ist hier nicht mein Thema. 

Der Polizist mit seiner überragenden kriminalistischen Erfahrung baut diese zerhackten Sätze wieder zu lesbaren Konstrukten zusammen, filtert die unzähligen Flüche und Floskeln heraus, gibt schwer verständlichen Kürzeln einen Sinn. Und da über 90% solcher Chats schlichtweg dummes Gerede sind, nimmt er nur die ihm sinnvoll erscheinenden 5-10% der Textnachrichten in einen Bericht auf, mit dem er den Vorwurf des Drogenhandels begründet. Botschaften, in denen es um „Stoff“, „Proben“ oder „Treffen“ geht, erscheinen ihm einschlägig. Solche, die vom „Chillen“, „Shisha“ oder „Party“ handeln, lässt er weg, denn die klingen unverfänglich. 

Der Staatsanwalt, dem das Exzerpt vorgelegt wird, staunt: Lauter Nachrichten, die nach Drogenhandel klingen – da muss was dran sein! Oder doch lieber mal die hunderte von Seiten an Chatprotokollen selbst lesen? Ach was, keine Zeit. Das hat die Polizei doch schon erledigt und die kennt sich schließlich aus. Flugs wird angeklagt, natürlich auf der Basis der Kurzfassung, also des Polizeiberichts, der maximal ein Zehntel der ausgelesenen Gespräche enthält. Genau darin liegt die Chance der Verteidigung. 

Beim ersten Überfliegen des Leitz-Ordners mit den Textnachrichten, scheint noch plausibel, was die Polizei daraus gefolgert hat. Doch es ist nicht Aufgabe eines Strafverteidigers, solche Ordner nur einmal zu  überfliegen. Jene Zeit, die der Staatsanwalt nicht hatte, muss er sich nehmen, die Chatverläufe eindringlich lesen, ohne Ausnahme, absolut komplett. Das ist wie bei einem Puzzle mit 10.000 Teilen: Man bekommt nicht das ganze Bild, wenn man nur die Hälfte legt. 

Nicht selten zeigt sich am Ende, dass diese Sisyphosarbeit umsonst war. Manchmal gewinnt man dadurch aber auch einen völlig neuen Blick auf den Fall. Denn die Proben des Stoffes, der bei dem Treffen übergeben wurden, waren Shisha-Tabak, um bei einer Party zu chillen. 

Freispruch!

Narrative Verteidigung

Was ist eigentlich eine „narrative Verteidigung“?

Es ist drei Uhr nachts, als die Polizei ein offenbar von der Fahrbahn abgekommenes Auto im Straßengraben entdeckt. Bei der Kontrolle bemerkt sie zweierlei: Der Motor ist noch warm und auf dem Rücksitz schläft gerade Jemand seinen Rausch aus. Die Frage, wer das Auto in den Straßengraben gefahren hat, ist damit für die Polizei beantwortet, sie benötigt jetzt nur noch eine Blutprobe, dann scheint der Fall geklärt.

Etwa zehn Tage später meldet ein neuer Mandant sich telefonisch in der Kanzlei. Er hat eine Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung, weil er deutlich alkoholisiert ein Fahrzeug im Straßenverkehr geführt haben soll. Der Mandant will erzählen, wie das genau war an jenem Abend, doch der Anwalt reagiert kurz angebunden, wimmelt ihn ab, hat nur Interesse am Aktenzeichen der Vorladung. Nach dem Telefonat bleibt bei dem Mandanten das ungute Gefühl zurück, an einen besonders raffgierigen Verteidiger geraten zu sein, der sich gar nicht richtig Zeit nimmt für seine Klienten.

Tatsächlich hat er einen wirklichen Profi erwischt, denn der Anwalt tut das einzig Richtige: Er lässt sich die Akte schicken und überlegt sich eine Lösung. Dem Fall gilt sein ganzes Interesse, der Mandant ist nur überflüssiges – aber zahlendes – Beiwerk.

Wenn die Akte wieder zurückkehrt zur Justiz, befindet sich darin eine nette Geschichte. Zeitliche Abläufe sind geändert, bisher unbekannte Personen tauchen auf und doch nicht auf, denn sie könnten verwandt sein. Entlastendes wird sehr ausführlich geschildert, Nachprüfbares bemerkenswert knapp. Ein strafbares Verhalten des Schläfers auf der Rückbank ist plötzlich fragwürdig, weshalb der Staatsanwalt sich fragt, ob diese Akte noch für eine Verurteilung reicht.

Du fragst Dich, geneigter Leser unterdessen, ob Strafverteidiger das dürfen. Sie sind doch Rechtsanwälte, also dem Recht verpflichtet und keine Märchen erzählenden Scharlatane.

Doch wer hat denn hier ein Märchen erzählt?

Das Leben liefert immer wieder Geschichten, die man – je nach Sichtweise – ganz unterschiedlich schildern kann. Die Polizei hat sich entschieden, aus dem Auto im Straßengraben eine Geschichte zu machen, die ihr gefällt. Sie legt eine Akte an und protokolliert einen Sachverhalt, der so nicht unbedingt gewesen sein muss. Was die Justiz einen Strafprozess nennt, ist nur das Wiederkäuen dieser Akte. Viel mehr passiert da nicht.

Es ist darum selbstverständlich die Aufgabe des Verteidigers, den Sachverhalt der Polizei neu zu erzählen, ihn so zu schildern, wie er auch gewesen sein könnte. Das funktioniert nicht in jedem Fall, aber manche Akten schreien geradezu danach, dem polizeilichen Märchen ein eigenes entgegen zu setzen. Gute Strafverteidiger sollten darum gute Geschichtenerzähler sein. Sie müssen das juristische Handwerk mit Fantasie betreiben, denn freilich wird die Geschichte der Verteidigung argwöhnisch geprüft. Da muss man schon wissen, wie man dem Ermittlungseifer der Justiz Grenzen setzt.

Und vor allem: Lügen darf der Anwalt nicht! Etwas wider besseres Wissen zu behaupten ist ihm untersagt!

Irgendwann wird das Verfahren um das Auto im Straßengraben eingestellt, und der Mandant beginnt zu ahnen, warum sein Anwalt sich nie Zeit für ihn genommen hat: Er wollte die Wahrheit einfach nicht hören.

Verbrecher

Was ist eigentlich ein „Verbrecher“?

Beim Begriff des Verbrechens scheiden sich die Juristen vom Rest der Welt.

Wer jemals § 12 des Strafgesetzbuches gelesen hat, weiß, dass ein Verbrechen nichts anderes ist, als eine Straftat, die mit mindestens 1 Jahr Haft bedroht wird. Sagt das Gesetz „mindestens 1 Jahr“, liegt ein Verbrechen vor; sagt es „6 Monate bis 5 Jahre“, dann eben nicht.

Außerhalb der Justiz hingegen ist „Verbrechen“ ein Kampfbegriff. Noch so engagiertes Eintreten gegen das Bienensterben, den Pflegenotstand oder die Kinderarmut wird milde belächelt. Wer jedoch das Verbrechen bekämpft, wird populär, egal ob die Definition des § 12 StGB greift oder nicht. Denn statistisch gesehen muss jeder in diesem Land etwa alle 400 Jahre mit einem Wohnungseinbruch rechnen. Das macht Angst, das erfordert den starken Staat.

Zahlreiche wichtige gesellschaftliche Aufgaben liegen bei uns brach, bis irgendwer sie als Verbrechensbekämpfung begreift. Dann wird gehandelt! Betrachten wir beispielsweise psychisch kranke Menschen, so gäbe es durchaus viel zu regeln, denn beim Umgang mit ihnen liegt Manches im Argen. Das gilt oder galt jedoch bisher als gesetzgeberische Drecksarbeit. Wer befasst sich schon gerne damit, wie man diese Menschen behandelt und wer das bezahlt.

Doch nun hat Bayern das Verbrecherpotential psychisch Kranker erkannt und ein neues Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) auf den Weg gebracht, das sich etwa zu 75% nicht mit der Hilfe für psychisch Kranke befasst, sondern mit der Frage, wie man die Gesellschaft vor ihnen schützt – so ähnlich wie beim terroristischen Gefährder.

Unterbringung, Einschränkung des Besuchsrechts, Fixierung (Fesselung ans Bett!), Überwachung. Durchsuchung, Zwang sind den Gesetzesverfassern wichtig. Darüber hinaus natürlich die Registrierung und Speicherung der Daten. Möglichst umfassend, möglichst lange.

Das Vorhaben ist nicht untypisch für die moderne Gesetzgebung, lediglich besonders zynisch. Bisher wurden nur bestimmte Verhaltensweisen von den selbsternannten Verbrechensbekämpfern ins Visier genommen (Gaffen, Trinken, Beleidigen im Internet). Jetzt trifft es erstmals den Menschen selbst, nicht sein Verhalten, sondern seine Eigenschaft, konkret sein Kranksein.

Vorfälle wie der in Münster geben solch unsäglichen Vorhaben Schub. Schließlich war es ein psychisch Kranker, der dort zwei Menschen tötete und Unzählige verletzte. Damit wird es fast unmöglich, derartige Gesetze noch zu bremsen. Es sei denn, man fragt sich einmal ernsthaft, was außer einer Stigmatisierung Betroffener diese bringen. Vielleicht glauben die Bayern ja wirklich, dass der Todesfahrer von Münster sich anders verhalten hätte, wenn er als psychisch Kranker registriert gewesen wäre.

Lassen wir sie es glauben, denn der Beweis des Gegenteils führt erfahrungsgemäß nur zu einer nochmaligen Verschärfung untauglicher Gesetze.

Nationalhymne

Was passiert eigentlich beim „Verunglimpfen der Nationalhymne“?

§ 185 StGB regelt die Strafbarkeit der Beleidigung. Was jedoch eine Beleidigung ist, steht dort nicht, das muss in jedem Einzelfall neu geklärt werden. Grundsätzlich ist diese Klärung Aufgabe der Gerichte. Aber könnte das nicht auch die Regierung erledigen?

Altkanzler Kohl haderte bekanntlich zu Lebzeiten mit Karikaturen, die sein Gesicht in Birnenform zeichneten. Da könnte Angela Merkel doch tätig werden und festlegen, dass es als Beleidigung zu werten ist, wenn Politiker mit Fallobst verglichen werden. Zur Sicherheit könnte Frank-Walter Steinmeier noch zustimmen und schön wüssten die Gerichte künftig, wann ein dummer Spruch zur Beleidigung wird.

Klingt irgendwie schräg. Wer nur ein bisschen Gefühl dafür hat, was „Gewaltenteilung“ bedeutet, bekommt jetzt Bauchgrummeln.

Dennoch ist eine solche Vorgehensweise nicht ausgeschlossen, wie ein Beispiel aus dem Jahre 1952 zeigt. Damals, in den Gründerjahren der Bundesrepublik, arbeitete das Getriebe des Rechtsstaates noch etwas holperig. Der Bundesgerichtshof urteilte seinerzeit noch, dass Sinti und Roma für die Haft in den Konzentrationslagern der Nazis nicht zu entschädigen seien. Die „Zigeuner« hätten ihre Verfolgung schließlich durch »eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb« selbst verursacht (BGH, Urt. v. 07.01.1956, Az.: IV ZR 273/55). In dieser Zeit also war ungeklärt, was die Nationalhymne des jungen Staates sein solle.  Die Nationalflagge hatte im Grundgesetz eine eigene Regelung bekommen (Art. 22 GG), das als Hymne überlieferte Lied der Deutschen hatten die Alliierten jedoch 1945 als „nazitypisch“ verboten.

Nachdem Bundeskanzler Adenauer allerdings bei einem USA-Besuch mangels Hymne ein „Heidewitzka, Herr Kapitän« entgegengeschmettert worden war, sah er Handlungsbedarf. Bundespräsident Heuss war schon vorher initiativ geworden und hatte eine neue Hymne beauftragt. Die fiel jedoch bei ihrer Uraufführung durch und wurde fortan als »Theos Nachtlied« verspottet. In dieser Situation verständigten sich Adenauer und Heuss darauf, das alte Gedicht des Hoffmann von Fallersleben, gesungen auf die alte österreichische Kaiserhymne, künftig als deutsche Nationalhymne zu verwenden.

Bemerkenswert ist dies deshalb, weil die Hymne in § 90a StGB gegen Verunglimpfung strafrechtlich geschützt ist. Das konnten Heuss und Adenauer noch nicht wissen, aber irgendwann hätte doch eigentlich jemand fragen müssen, ob Kanzler und Präsident per Briefwechsel darüber entscheiden können, was in diesem Land strafbar ist. Zweifel an der Legitimation der Hymne sind deshalb nie verstummt, doch zumindest wer sich an der dritten Strophe des Liedchens vergreift, muss tatsächlich mit Bestrafung rechnen. So hat es das Bundesverfassungsgericht 1990 entschieden (konkret ging es um die Anspielung des Kopulierens mit einem Schaf – offenbar ein Running Gag im Bereich der Satire).

Wer nun denkt, die Nationalhymne sei zwar nicht durch Gesetz, aber zumindest durch die Verlautbarungen verschiedener Verfassungsorgane hinreichend geschützt, hat die Rechnung ohne die moderne Gender-Ideologie gemacht. Denn in der dritten Strophe des »Lied der Deutschen“ tauchen zwei Worte auf, die man heutzutage noch weniger in den Mund nehmen darf, als die Kampfrufe der Nazis. Die Rede ist von „brüderlich“ und „Vaterland“.

Künftig solle das „Heimatland“ besungen werden, fordert die Gleichstellungsbeauftragte des Bundesfamilienministeriums hier. Und dieses möge künftig gefälligst „couragiert“ zusammenhalten. Was die Rechtssetzung durch einen Briefwechsel zwischen Kanzler und Präsident taugt, wird nun seine Bewährungsprobe erfahren. Denn das Duo Adenauer / Heuss hat eben das »Hoffmann-Haydn’sche Lied« zur Hymne erkoren und nicht eine Bearbeitung durch den Zeitgeist. Zumindest diese Beiden wären der aktuellen Verunglimpfung durch die Gleichstellungstante sicher „couragiert“ entgegengetreten.

Übrigens: Die Strafe beträgt bis zu drei Jahre Haft und die Tat ist von Amts wegen zu verfolgen. Zuständig ist die Staatsanwaltschaft Berlin.

dolus eventualis

Was ist eigentlich ein „dolus eventualis“?

Derzeit ist der dolus eventualis ziemlich berühmt, denn das Landgericht Berlin war der Meinung, wer bei einem illegalen Autorennen andere totfährt, nehme dies billigend in Kauf. Der BGH hat dieses Urteil bekanntlich aufgehoben, weshalb Viele jetzt denken, die Tötung sei nur eine fahrlässige, was der BGH so aber gerade nicht gesagt hat. Immerhin weiß jetzt auch der Laie: Der dolus eventualis – auf deutsch heißt er „bedingter Vorsatz“ – ist kein richtiger Vorsatz, bei dem jemand weiß und will, dass etwas passiert, sondern nur ein billigendes Inkaufnehmen. Deshalb wird viel über ihn geschrieben, um ihn abzugrenzen vom direkten Vorsatz einerseits und der Fahrlässigkeit andererseits.

Als Studenten haben wir versucht, den dolus eventualis mit einer Faustformel zu begreifen: Jemand hält es für möglich, dass etwas Bestimmtes passiert und es ist ihm egal, ob das passiert. Also nimmt er es billigend in Kauf. Würde er statt „egal“ eher denken „wird schon gutgehen“, wären wir nach Meinung der Juristen im Bereich der Fahrlässigkeit. Ein Ritt auf der Rasierklinge.

Schauen wir uns das einmal an einem gewöhnlichen Elfmeter im Fußball genauer an: Der Schütze weiß und will, dass der Ball ins Netz fliegt. Er erzielt seinen Treffer also vorsätzlich. Aber was ist mit dem Torwart, der dazwischen hechtet? Dass der da ist, weiß unser Schütze. Ganz sicher will er aber nicht, dass der Torwart den Ball fängt. Allerdings hält er das auch nicht für völlig unmöglich. Klingt nach bedingtem Vorsatz, doch jeder wird unterstellen, dass der Schütze hofft, es werde schon gutgehen. Er hat seinen Elfmeter also nicht bedingt vorsätzlich, sondern nur fahrlässig verschossen.

Dummerweise landet der Ball nun aber nicht in den Armen des Torwarts, sondern in dessen Gesicht und bricht ihm die Nase. Zunächst denken wir, das habe der Schütze ja noch weniger gewollt als einen Fehlschuss. Aber der Spieltag war ansonsten wenig ereignisreich, darum hat die Boulevardpresse den Torwart bereits gekauft. „Ich sah die Mordlust in den Augen meines Gegners, dann zielte er genau auf meine Nase“, wird der zitiert. Umgehend schaltet die Politik in den Wahlkampfmodus, rügt „die zunehmende Brutalität des Sports“ und kündigt drakonische Gesetze dagegen an. In dieser Situation soll der deutsche Stammtisch als Richter nun im Nachhinein entscheiden, was genau der Spieler sich vorstellte, bevor er den Ball trat.

Sofern der Torjäger vor dem Spiel ein Interview gegeben hat, wissen wir ziemlich genau, was er dachte. Gibt er das Interview erst hinterher, wird er natürlich abstreiten, so einen Nasenbeinbruch auch nur annähernd für möglich gehalten zu haben. Da kann dann jeder eine andere Meinung dazu haben und keine ist richtig falsch. Letztlich bleibt nur, zu glauben, was der Schütze erzählt – oder eben nicht. Viel zu tun für den Strafverteidiger und am Ende ein Urteil, das genauso gut anders lauten könnte. Eine Glaubensverkündung gewissermaßen – eigentlich die Aufgabe des Pfarrers, nicht des Richters.

Im Fall der Berliner Raser hat der Volksmund sein Urteil längst gesprochen: Sinnlose Raserei und sinnlose Tötung, also Mord. Spätestens jetzt benötigen wir den Pfarrer vom vorherigen Absatz: Herr vergib‘ ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Was denkt denn wohl der Raser, bevor er auf‘s Gas tritt? Ist er wirklich so kaltblütig, dass ihm querkommende Autos egal sind? Oder denkt er viel eher, es werde schon gut gehen? Oder ist er schlichtweg zu doof zum Denken, was zumindest mit der studentischen Faustformel nicht zu lösen wäre.

Bevor Du, geneigter Leser, nun den Daumen senkst, frage Dich doch einmal, wie Du bei anderen Verkehrsvergehen entscheiden würdest. Was ist mit dem Brummifahrer, der ungebremst in das Stauende rast, weil er die Abstandsautomatik abgeschaltet hat, um schneller voranzukommen? Was ist mit der Feuerwehr im Einsatz, die mit Blaulicht über die rote Ampel rast, weil es Vorschrift ist, dass alle anderen warten müssen? Und was ist mir Dir selbst, der Du es morgens im Berufsverkehr mal wieder besonders eilig hast und schnell noch über den Zebrastreifen huschst?

Alle Autofahrer wissen um die Gefahren und brechen dennoch permanent die Gesetze. Aber gilt darum für sie, was Tucholsky einst über die Soldaten sagte?

ex ante

Was ist eigentlich die „ex-ante-Sicht“?

Vor vielen Jahren habe ich mich einmal auf der Suche nach einem Zeugen spät nachts in eine als Drogenhölle verschriene Spelunke begeben, denn ich wusste, dass der Zeuge dort sicher anzutreffen ist. Natürlich bin ich nicht mit Anzug und Schlips aufgetaucht, aber irgendwie war mein Erscheinen doch auffällig. Zuerst wurde getuschelt, dann flog das Wort „Anwalt“ durch den Raum, kurz später schon die Warnung „Spitzel“ und plötzlich stand der Wirt vor mir, mit rot glühendem Gesicht und glasigen Augen. In der Hand hielt er einen Knüppel, keinen Baseballschläger, eher so einen Schlagstock wie ihn englische Polizisten am Mann führen. „Ich schlag ihm die Zähne raus“, brüllte er und sah irgendwie so aus, als ob er das tatsächlich vorhatte. Mir war klar, dass ein schützend erhobener Unterarm gegen solche Knüppel kein wirklicher Schutz ist. Obwohl nicht schmächtig gebaut, war ich körperlich schon deshalb unterlegen, weil ich saß, während er stand. In dieser Situation fiel mir ein, dass ich ein Messer bei mir trug, ein Opinel, Klingenlänge 8 cm, zusammengeklappt in der Hosentasche.
Wie es tatsächlich weiterging, lässt sich in einem meiner Romane nachlesen. Ich denke, ich habe die Szene irgendwo dort beschrieben. Wie es rechtlich weitergeht, entscheiden in solchen Fällen letztlich die Strafgerichte und ihre mitunter verwirrenden Vorstellungen darüber, was Notwehr ist.

Schulmäßig definiert man Notwehr als die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff schnell und sicher zu beenden. Wenn also Kinder in einen Kirschbaum klettern, um sich an den Früchten zu laben, der Eigentümer des Kirschbaums aber nicht klettern kann, um die Kinder zu vertreiben, darf er zur Verteidigung seines Eigentums die Kinder mit der Schrotflinte vom Baum schießen. So zumindest wäre es, wenn man das Gesetz wörtlich nähme und so wurde es 1920 auch vom Reichsgericht noch entschieden.
Der moderne Rechtsstaat hat dem Gesetz darum ein paar ungeschriebene Ergänzungen hinzugefügt. Heutzutage operieren die Strafgerichte mit sogenannten sozial-ethischen Einschränkungen des Notwehrrechts und nehmen eine Rechtsgüterabwägung vor. Kinderleben gegen Kirsche ist irgendwie nicht stimmig, darum würde derselbe Rentner, den das Reichsgericht 1920 freigesprochen hat, für dieselbe Tat 2018 mindestens fünf Jahre hinter Gittern verschwinden.

Klingt irgendwie beruhigend, löst aber mein Problem mit dem Wirt in der Spelunke nicht. Dort stellte sich ja eher die Frage Schädelbruch gegen Messer im Bauch, eine prinzipiell einmal nicht unangemessen erscheinende Reaktion.
Aber die Strafgerichte haben nicht nur sozial-ethische Einschränkungen erfunden, sondern etwas, das ebenfalls nicht im Gesetz steht, nämlich die objektive ex-ante-Sicht. So etwas können sich eigentlich nur Juristen ausdenken. Und noch schlimmer: Sie können es auch anwenden. Die Frage, ob man das Messer ziehen darf, wird nämlich „auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung“ beantwortet. Mit anderen Worten: Der Richter kocht sich einen Tee, setzt sich an seinen Schreibtisch und tunkt den Teebeutel rhythmisch in die Tasse, während er sich die konkrete Situation ausmalt. Dann lehnt er sich zurück, genießt den feinen Bergamotte-Ton seines Earl-Grey und blendet ganz entspannt zunächst einmal den konkreten Stress der Mann-gegen-Mann-Situation völlig aus (objektiv!). Die gespannten Erwartungen einer aufgeputschten Menge sieht er nicht, die Schreie „Los, gib´s ihm“ hört er nicht. Stattdessen grübelt er sachlich und besonnen darüber nach, wie ein vernünftiger Mensch nun reagieren sollte. Das bringt ihn zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es möglicherweise ein milderes Mittel zur Verteidigung gab, nämlich die bloße Androhung des Stichs.
Rechtlich korrekt, da hat er keine Zweifel, wäre eigentlich gewesen, dem Wirt das Opinel zunächst einmal zu zeigen (allein das Aufklappen dauert schon eine Ewigkeit) und ihm freundlich zu erklären: „Lieber Wirt, wenn Du diesen Knüppel gegen meine Zähne richten solltest, muff if leider fuftechen.“ Hat man es versäumt, diese Warnung auszusprechen – der zweite Teil des Satzes wurde offensichtlich bereits ohne Zähne gesprochen – wird der Richter zu dem Schluss kommen, dass das Messer hier verfrüht zum Einsatz kam. Wohlgemerkt: ex ante.

Nun lebt der gemeine Bürger ja nicht gerade ständig in der Gefahr, seine Zähne durch einen Schlagstock zu verlieren (der gemeine Strafverteidiger übrigens auch nicht). Wahrscheinlich werden es eh schon die Dritten und die Rechtsgüterabwägung bei einem künstlichen Gebiss möglicherweise auch völlig anders zu treffen sein.
Die breite Masse treibt das Notwehrrecht heutzutage erst dann um, wenn wieder Sommer ist und die Nation kein anderes Problem hat, als dass ein Hund im Auto auf dem Supermarktparkplatz etwas schwitzen könnte. In sozialen Netzwerken wird darum schon etwa ab Ostern prophylaktisch dazu aufgerufen, auf jeden Fall hemmungslos Autoscheiben einzuschlagen. Wer das nicht umgehend liked und teilt, ist verdächtig, wahrscheinlich missbraucht er auch zuhause seine Kinder. Ginge es nach den Verbreitern solcher Aufrufe, sähen unsere Parkplätze im Sommer aus wie Hamburg nach dem G 20.

Ex ante betrachtet wird ein Richter nicht dazu tendieren, die Sachbeschädigung am Auto als Notwehr zugunsten eines Hundes anzusehen. Klar, Dackelblicke sind unwiderstehlich, da kann man gar nicht anders. Aber möglicherweise hätte ja ein Anruf bei der Polizei oder ein Rundruf im Supermarkt auch schon gereicht, um Waldi frische Luft zuzufächeln. Höchstwahrscheinlich kommt der Richter noch nicht einmal zur ex-ante-Sicht, sondern stolpert schon vorher über das Problem, ob fremde Hunde ein Rechtsgut sind, das jedermann zu schützen sich berufen fühlen darf.

Diese Frage beantworte ich aber erst, wenn ich mal Bock auf einen richtig großen Shitstorm habe.

Legendierte Polizeikontrolle

Was ist eigentlich eine „legendierte Polizeikontrolle“?

Die römische Mythologie kannte den doppelgesichtigen Janus. Der war dafür zuständig die Gegensätze zu vereinen. Anfang und Ende, Leben und Tod, Eingang und Ausgang waren Janus unterstellt, denn mit seinen zwei Gesichtern schaute er gleichzeitig nach vorne und nach hinten, hatte also den Überblick über das Ganze. Was für Kinderaugen vielleicht nach einem Monster aussieht, wurde von den Römern als Gott verehrt. Man baute ihm den legendären Tempel, dessen Tore während eines Krieges offen standen. Das Internet behauptet, die genaue Lage des Tempels sei ungeklärt – ich weiß wo seine Reste stehen, denn ich war schon dort. 

Szenenwechsel: Ein Schuss, ein Knall, ein Toter. Tatütata, die Polizei ist da und der Strafverteidiger fragt sich, welche Rechte die nun hat. Die Juristen antworten wie sie immer antworten: Das kommt drauf an.

Vor dem Schuss galt noch Gefahrenabwehrecht, mithin in jedem Bundesland etwas anderes, denn vor dem Schuss gab es noch keine Straftat, da handelte die Polizei nur zur Vermeidung künftiger Straftaten, also präventiv. Nach dem Schuss gilt die Strafprozessordnung, da ermittelt der Staatsanwalt und die Polizisten sind seine Hilfsbeamten. Heute sagt man „Vernehmungsbeamten“, weil die Polizisten keine Gehilfen mehr sein wollten. In der Sache hat sich nichts geändert.

Wenn sie repressiv handeln, also nach begangener Straftat, laufen die Polizisten an der Leine des Staatsanwaltes. Und der wiederum muss sich bestimmte Aktionen – beispielsweise eine Durchsuchung – vom Richter genehmigen lassen. So will es das Gesetz und so will es auch der Strafverteidiger, damit er klar abgrenzen kann, was erlaubt ist und was nicht. 

Die Geschichte mit dem Schuss ist eigentlich auch für Laien einfach zu verstehen. Vorher präventiv und darum Polizeirecht, hinterher repressiv und darum Strafprozessrecht.

Übertragen wir das mal auf einen Drogenkurier, gilt nichts anderes. Die Hinfahrt nach Holland geschieht im Vorfeld einer Straftat, da überwacht die Polizei nur präventiv. Die Drogenübergabe ist der Schuss und für die Rückfahrt gilt dann Strafprozessrecht.

„Dumm gelaufen“, schimpft da der Polizist. „Jetzt muss ich ja den Staatsanwalt fragen, bevor ich den Kurier anhalte. Und der muss den Richter fragen, bevor das Auto durchsucht werden darf. Das ist doch irgendwie ziemlich nervig mit dem Rechtsstaat.“

An dieser Stelle kommt der Doppelgesichte ins Spiel, der bekanntlich Gegensätze vereint. Janus flüstert den Hilfsbeamten (wir befinden uns ja im repressiven Bereich) ins Ohr: „Versuch’s doch einfach präventiv.“ Und siehe da: Das präventive Polizeirecht kennt ein Schlupfloch, nämlich die allgemeine Verkehrskontrolle. Also flugs die Kelle raus und den Drogenkurier rechts ran gewunken. „Darf ich mal ihr Warndreieck sehen? Huch, was ist denn das? Sieht ja aus wie Heroin. Na so ein Zufall aber auch.“

Und während der Staatsanwalt noch darauf wartet, dass er vor der Durchsuchung gefälligst gefragt wird, ob er mal den Richter fragen darf, hat die Polizei die Arbeit längst erledigt.

„Legendierte Polizeikontrolle“ nennt man dies, weil die Kontrolle nur eine Legende ist, eine Erfindung, um den Richtervorbehalt zu umgehen. Strafverteidiger sehen dieses Vorgehen der Polizei naturgemäß kritisch, aber der Bundesgerichtshof meint: „Kein Problem“. Präventiv und repressiv ist doch irgendwie alles eins, Hauptsache die Polizei kann zugreifen.

Du wirst, geneigter Leser, Dich nun fragen, wozu die Förmelei denn gut sein soll. Schließlich kann es nicht falsch sein, einen Drogenkurier aus dem Verkehr zu ziehen. Also wenden wir uns dem zu, was Dir heilig ist: Dein home und castle. Dort fühlst Du Dich sicher, weil die Polizei ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss nicht hineindarf – denkst Du. Aber vielleicht bist Du ja Versicherungsvertreter mit Heimbüro und empfängst dort auch Kunden. Dann hat der Zoll ein Betretensrecht, um dort nach Schwarzarbeitern zu suchen. Schon mal darüber nachgedacht, ob diese Kontrolle „legendiert“ ist, also einem ganz anderen Zweck dient?

Oder Du bist Jäger, dann darf die Waffenbehörde nachschauen, ob Du Deine Waffen anständig verwahrst. Warum aber sollte es keine legendierte Waffenkontrolle geben? Will das Bauamt wirklich nur prüfen, ob Du vorschriftsmäßig Rauchmelder montiert hast? Und vor dem Schornsteinfeger warnt man schon die Kinder im Lied vom schwarzen Mann.

Vielleicht solltest Du künftig etwas argwöhnischer betrachten, wer zu welchen Zwecken Dein Haus betritt. 

Denn der Janustempel ist geöffnet – was das bedeutet, sollte klar sein!

Geschichtslehren

Ziehen Strafverteidiger eigentlich „Lehren aus der Geschichte“?

Heute – am 22.2.2018 – ist es 75 Jahre her, dass die Geschwister Scholl unter dem Fallbeil des Naziregimes starben. Ich habe heute einen längeren Spaziergang über den Schloßberg gemacht, mich anschließend auf eine Bank am Ufer der langsam vereisenden Nahe gesetzt und mir die winterliche Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Dabei habe ich zurückgedacht an diese kleine studentische Widerstandsgruppe.

Du magst Dich, geneigter Leser, jetzt fragen, weshalb Strafverteidiger in ihren Mittagspausen über den deutschen Widerstand grübeln. Darum solltest Du wissen, dass unsere Strafprozessordnung bereits seit dem Jahre 1877 gilt und folglich sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik Grundlage der Strafprozesse in diesem Lande war. Auch im Dritten Reich war sie formell in Geltung, tatsächlich aber zunehmend außer Kraft.

Berechtigt dies den Strafverteidiger, sich in der geistige Nachfolge der Geschwister Scholl zu sehen? Ganz klar: Nein! Ich bezweifle, dass auch nur ein Bruchteil meiner Kollegen diesen Mut aufbrächte. Die Freiheit oder gar das Leben würde ohnehin keiner von uns geben für die gerechte Sache.

Und dennoch weht ein Hauch, ein laues Lüftchen des Widerstandes auch durch unsere Reihen. Ich möchte behaupten, dass die Geschwister Scholl uns zumindest Vorbild sind – ein Vorbild, das wir freilich nie erreichen.

Strafverteidigung hat nichts zu tun mit dem Blutopfer des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Tyrannei. Schauen wir jedoch ein wenig weiter zurück, betrachten wir den Weg hinein in den Terror, dann sehen wir, dass es durchaus die Strafverteidigung war, die unter Berufung auf die oben bereits erwähnte Strafprozessordnung von 1877 dem immer weiter in die Diktatur abdriftenden Staat Paroli bot. Der Geist des Widerstandes wurde in den Jahren zwischen Kaiserreich und Hitlers Machtergreifung geschult. Und es waren die Strafverteidiger der Weimarer Republik, welche das Ethos unseres Berufsstandes formten. Einige möchte ich hier hervorheben:

1.) Martin Drucker

Drucker machte 1924 bereits auf sich aufmerksam, weil er eine Strafprozessrechtsreform heftig kritisierte. Dadurch werde dem Volk „im weiten Maße das Kulturgut eines ordentlichen Strafprozesses“ entzogen. Eine Kritik, die seither alle sogenannten Reformen begleitet, wahrscheinlich aber nie wieder so treffend formuliert wurde: Der ordentliche Strafprozess als Kulturgut.

Da verwundert nicht seine Auffassung, „dass ein Plädoyer für die Gewährung mildernder Umstände den Verdacht der Geistesfaulheit und juristischen Ignoranz des Verteidigers nahe legt.“ – Ein Aufruf, mit der Verteidigung bei den Grundlagen zu beginnen und nicht am Ende.

2.) Paul Reiwald

Reiwald war einer der Ersten Verteidiger, der sich mit der Psychologie im Strafprozess befasste. Grundlegende Schriften dazu wurden von ihm geschrieben. Seine praktische Tätigkeit vor Gericht machte ihn bei den Nazis schnell unbeliebt, weshalb er schon bald nach der Machtergreifung ins Exil floh und von den neuen Machthabern aus der Liste der Rechtsanwälte gelöscht wurde.

Er konnte jedoch sein wichtiges Werk „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher“ dennoch vollenden und darin die geniale Erkenntnis platzieren: Die Scheidewand zwischen Gesellschaft und Verbrecher ist dünn, am dünnsten vielleicht dort, wo sie zur Abwehr gegen ihn gerüstet steht. Richter und Staatsanwalt, sie, die den Verbrecher verfolgen und verurteilen, die sich von dem Mann auf der Anklagebank duch eine Welt geschieden fühlen, stehen ihm näher als sie denken.

3.) Erich Frey

Frey verteidigte 1928 im Prozess um die sogenannte Steglitzer Schülertragödie. Sein Credo war die Gleichberechtigung der am Prozess beteiligten Juristen. Darum ließ er es sich nicht nehmen, das Verfahren durch Erklärungen und Anträge zu steuern. Dem Gerichtsvorsitzenden hielt er entgegen, er verbitte sich, von diesem ständig unterbrochen zu werden. Als daraufhin das Gericht den Vorsitzenden ermächtigte, den Verteidiger für sein Verhalten zu rügen, erwiderte Frey, diese Rüge „konnte nur den Zweck haben, den Verteidiger vor den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie musste aber auch die Würde des Anwaltsstandes verletzen. Der Verteidiger sieht sich nicht in der Lage, unter diesen Umständen die Verteidigung weiterzuführen.“

Wohlgemerkt: Dies geschah in einer Gerichtskultur, die noch von der Kaiserzeit geprägt war. Wenn es heute eine Selbstverständlich ist, als Verteidiger dem Gericht auf Augenhöhe gegenüber zu treten, haben wir dies auch Erich Frey zu verdanken. 

4.) Dr. Max Alsberg

Alsberg kann man als den erfolgreichsten Strafverteidiger der Weimarer Republik bezeichnen. Was mich an ihm fasziniert ist die Tatsache, dass er in politisch schwierigen Zeiten agierte, ohne sich politisch in eine Schublade stecken zu lassen.

Er verteidigte u.a. Kaiser Wilhelm II (nach dessen Abdankung), den Großindustriellen Hugo Stinnes, den rechtsgerichteten Politiker Karl Helfferich und den pazifistischen Journalisten Carl von Ossietzky – stets an der Sache orientiert und ohne Vorbehalte gegen eine Person.

Daneben war er in großem Umfang wissenschaftlich tätig, hatte eine Professur an der Berliner Universität inne und schrieb auch zwei (erfolgreich aufgeführte und heute noch lesenswerte) Theaterstücke über den Berufsalltag des Strafverteidigers (Voruntersuchung und Konflikt).

Schon bald nach der Machtergreifung sah er sich zur Emigration veranlasst. Seiner materiellen Existenz beraubt wählte er am 1. September 1933 im Exil in der Schweiz den Weg in den Freitod.

5.) Schließlich und endlich, hervorragend selbst unter derart bedeutenden Kollegen noch: Hans Litten.

Am 1. Mai 1929 befahl der Polizeipräsident von Berlin die gewaltsame Auflösung der Maikundgebungen in Berlin und erteilte Schießbefehl. 33 Demonstranten wurden getötet, zahlreiche andere wegen Landesverrat angeklagt. In dieser Situation betrat Hans Litten die Bühne der Justiz und stellte Strafantrag gegen den Berliner Polizeipräsidenten wegen Anstiftung zum 33fachen Mord.

Nachdem  die SA im November 1930 das Arbeiterlokal „Edenpalast“ überfallen hatte, übernahm er die Nebenklage und schaffte es, Adolf Hitler persönlich in der Zeugenstand zu zwingen, um zu beweisen, dass der rechte Terror von ganz oben angeordnet war.

Hitler wurde in diesem Prozess derart blamiert, dass er es Hans Litten nie verzeihen konnte. Schon in der Nacht des Reichstagsbrandes ließ der den Anwalt in „Schutzhaft“ nehmen. Es folgte eine jahrelange Odysee durch die Folterknäste und Konzentrationslager des Dritten Reiches. Zuletzt in Dachau angekommen, fürchtete der schwer misshandelte Hans Litten, unter der Folter zu gestehen, was seiner anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterlag. Er nahm sich darum das Leben, um nicht gegen seine Schweigepflicht zu verstoßen.

Es sind große Namen, die vor 100 Jahren einen Kampf aufgenommen haben, der bis heute nicht geendet hat. Positiv ausgedrückt ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Aber es war und bleibt auch immer ein Kampf gegen den Staat, gegen seine Übergriffigkeit, seine Rechtsverstöße, seinen Machtmissbrauch.

Darüber reflektiere ich an solchen Tagen und wenn ich dann alsbald wieder einen Gerichtssaal betrete, denke ich vielleicht kurz an die Geschwister Scholl. Widerstand ist ein zu großes Wort für das, was Strafverteidiger antreibt. Aber zumindest Entschlossenheit lernen wir schon von den historischen Vorbildern.

Knallzeuge

Was ist eigentlich ein „Knallzeuge“?

Unser Gehirn ist ein seltsames Ding. Es bemüht sich geradezu fanatisch um Ordnung. Das tut es nicht, indem es benutze Kaffeetassen in die Spülmaschine räumt, sondern indem es diesen ein Sinn gibt.

Wenn Du, geneigter Leser, eine benutzte Kaffeetasse siehst, denkst Du sofort, dass irgendjemand Kaffee getrunken haben muss, auch wenn Du den Vorgang an sich nie gesehen hast. Das passiert deshalb, weil Dein Gehirn automatisch eine Erklärung für die benutzte Tasse strickt. Kommt jetzt noch Beate Mustermann hinzu, um die Tasse in besagte Spülmaschine zu räumen, steht für Dich umgehend fest, dass Beate den Kaffee getrunken haben muss. Und wenn Dich dann drei Monate später ein Richter befragt, wirst Du nach bestem Wissen und Gewissen antworten: „Beate hat zuerst Kaffee getrunken und dann ihre Tasse weggeräumt.“ Wahrscheinlich würdest Du auch bedenkenlos einen Eid darauf schwören und damit eiskalt ein Verbrechen begehen. Denn Beate hat den Kaffee nicht getrunken und es war auch nicht ihre Tasse.

Viele denken ja, ihr Gehirn sei der Hort aller Logik und über jede Täuschung erhaben. Dabei kann es trotz seiner vermeintlichen Rationalität noch nicht einmal unterscheiden, ob zwei Fotos identisch sind oder nicht, wie sich hier nachlesen lässt.

Beates Verteidiger ist in dieser Situation nicht zu beneiden. Du zeigst als Zeuge keinen Belastungseifer, hast keinen Grund, Beate etwas anzuhängen und machst für alle Beteiligten den Eindruck, als hättest Du Beates Kaffeetrinken tatsächlich beobachtet. Klassische Signale der Glaubwürdigkeit, die Du deshalb ausstrahlst, weil Du sicher bist, gesehen zu haben wovon Du berichtest. Tatsächlich spielt Dir nur Dein Gehirn einen Streich. So hältst Du allen Fragen stand. Also muss Beate wohl schuldig gesprochen werden – vorausgesetzt ihr Kaffeetrinken wäre der entscheidende Beweis.

Beate kann jetzt nur noch hoffen, dass ihr Verteidiger sich intensiv mit Aussagepsychologie befasst und irgendwann einmal etwas von einem Knallzeugen gehört hat. Das ist genau so ein Zeuge wie Du, nämlich einer, der nur kombiniert hat und trotzdem mit Gewissheit behauptet, etwas Entscheidendes gesehen zu haben. Der Knallzeuge heißt so, weil er im Straßenverkehr den Knall eines Unfalls hört. Sofort schaut er dorthin, woher der Knall kam und zieht nun blitzschnell Rückschlüsse aus dem, was er sieht. Danach denkt er für alle Ewigkeit, er hätte den Unfall beobachtet und beschreibt diesen Unfall auch in allen Vernehmungen immer auf die gleiche Art und Weise. Kein gemeiner Lügner, sondern ein Opfer des Gehirns, das nach Ordnung strebt.

Beates Verteidiger kann dieses Problem nur knacken, wenn er in der Vorbereitung sich die Situation genau erklären lässt. Anschließend muss er durch eine geschickte Frage dem Zeugen den Knall entlocken. Nur dann hat Beate noch eine Chance. Fragen nach der Farbe der Kaffeetasse oder danach, welche Kleidung Beate trug, sind Effekthascherei. Sie führen hier nicht weiter, denn das hat der Knallzeuge ja tatsächlich gesehen. Er gilt nur als noch glaubwürdiger, wenn er darauf sicher antwortet. Auch dies muss der Verteidiger bedenken. Besser keine Frage als ein falsche.

Richtig ist hier nur eine Frage, auf die der Zeuge antwortet: „Ich hörte einen lauten Knall, daraufhin drehte ich mich um.“ – Natürlich übertragen auf die Kaffeetasse.

Also, hochgeschätzte Leser: Wer kann Beates Kopf retten?

Selbstleseverfahren

Was ist eigentlich ein „Selbstleseverfahren“?

1 Million ist viel Geld. Wer es zu bekommen hat, muss manchmal lange darauf warten. Jahrelang geht der Prozess hin und her, bis schließlich die Anwälte vor dem hohen Gericht auftreten und Folgendes passiert:

Klägeranwalt: „Ich stelle den Antrag vom 10.6.15 “
Gegenanwalt: „Ich beantrage Klageabweisung.“
Richter: „Beschlossen und verkündet: Termin zur Verkündung einer Entscheidung am 28.2.18 um 12 Uhr.“

So oder so ähnlich verläuft ein Prozess am Zivilgericht. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung, weil alle Beteiligten alle Akten kennen und es wenig Sinn macht, den 73-seitigen Erbvertrag, aus welchem sich der Anspruch auf 1 Mio. Euro ergibt, vor Gericht öffentlich zu verlesen. Denn Anwälte und Gericht kennen die Akte in- und auswendig, sie tauschen seit Jahren Schriftsätze aus, haben alles, was für den Fall relevant ist, längst mehrfach schriftlich zu den Akten gereicht. Die Verhandlung vor Gericht ist nur noch eine Formalität, ein Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert.

Ganz anders hingegen verläuft der Strafprozess. Hier muss alles, was das Gericht in seinem Urteil berücksichtigen will, in mündlicher Verhandlung erörtert werden. Ein Attest über Verletzungen wird vorgelesen und wenn jemand das Medizinerkauderwelsch nicht versteht, muss eben noch ein Arzt hinzugezogen werden, der das Attest erläutert.

Dieser Mündlichkeitsgrundsatz gilt im Strafprozess deshalb, weil der Angeklagte die Möglichkeit haben muss, sich zu allen Vorwürfen zu äußern. Und da er nicht 1 Million zu gewinnen hat, sondern eher einige Jahre Haft, kann man wohl kaum von ihm verlangen, durch das Studium meterdicker Akten an seiner Verurteilung mitzuwirken.

Außerdem gibt es im Strafprozess Schöffen. Die sollen ohne Kenntnis des Akteninhalts entscheiden, nur auf der Basis dessen, was sie im Prozess hören und sehen.

Einzige Ausnahme von diesem Mündlichkeitsgrundsatz ist das Selbstleseverfahren, welches man sich wie folgt vorstellen muss: Am Ende eines Verhandlungstages überreicht der Vorsitzende den übrigen Prozessbeteiligten einen Stapel Papiere. Am Beginn des nächsten Verhandlungstages fragt er, ob jeder die Papiere gelesen hat. Allein dadurch wird der Inhalt der Papiere zum Prozessstoff. 50 eng beschriebene Seiten aufgezeichneter SMS muss dann jeder parat haben und wissen, dass mit der „Lieferung“ auf Seite 27, 3. Absatz von unten angeblich Heroin gemeint sein soll.

Ein nicht ganz unbedenkliches Verfahren, denn niemanden interessiert, ob der Angeklagte alles gelesen oder die Schöffen alles verstanden haben. Wen wundert es also, dass die gerade neu sich bildende Groko genau bei diesem Selbstleseverfahren Reformbedarf entdeckt hat.

„Wir modernisieren das Selbstleseverfahren“, heißt es im Koalitionsvertrag. Und wenn man weiß, aus welcher Ecke diese Idee kommt, ist auch klar, dass damit nicht gemeint ist, die heute schon bekannten Schwächen des Verfahrens auszubessern. Beabsichtigt ist etwas ganz anderes: Noch mehr, noch umfangreicher soll in Zukunft davon Gebrauch gemacht werden. Statt 50 Seiten gibt es dann 500 Seiten zu lesen oder gar 5000. Hauptsache, das Verfahren wird beschleunigt und die nervige Fragerei durch Verteidiger hat ein Ende.

Der Strafprozess der Zukunft könnte dann so aussehen:

Staatsanwalt: „Ich beantrage lebenslang.“
Verteidiger: „Ich beantrage Freispruch.“
Gericht: „Ein Urteil wird Ihnen zugestellt.“

Franz Kafka lässt grüßen

Strafakte

Wie entsteht eigentlich eine „Strafakte“?

Akten, Akten, Akten! Die ganze Justiz besteht nur aus Akten.
In Strafprozessen sind sie blassrot, daher „Rotakten“ genannt. Wenn ein Fall „durch die Instanzen geht“, also durch Rechtsmittel immer eine Instanz höher, bisweilen auch wieder zurück an den Anfang wandert, wird tatsächlich eine papierne Akte auf dem Postweg hin und her geschickt, bis sie irgendwann ausgeurteilt, zerfleddert und kaum noch lesbar im Archiv irgendeines Gerichtskellers landet. Nichts geht ohne die Akte. Niemand wird verurteilt aber auch niemand wieder freigelassen, so lange nicht die zuständigen Organe der Rechtspflege die Akte gelesen und um einige Seiten eigener Ergüsse ergänzt haben.
Die Fixiertheit der Juristen auf eine Akte ist so manisch, dass schon vor einem halben Jahrtausend der Rechtsgrundsatz „Quod non est in actis non est in mundo“ entstand – was nicht in den Akten steht, ist überhaupt nicht auf der Welt.
Wie entsteht aber eine solche Akte? Wo verschmelzen einzelne Seiten derart, dass daraus nach zwei oder mehr Instanzen wie bei der Zellteilung ein gewaltiger Organismus wird?
Nun, soweit es um Strafakten geht, ist der Demiurg die Polizei. Die notiert und speichert grundsätzlich alles, was ihr über den Weg läuft. Anschließend entscheidet sie, was an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wird. Das Gesetz schreibt zwar vor, dass die Polizei ihre gesammelten Aufzeichnungen zu einem Fall als Strafakte den Staatsanwälten zu übergeben hat. Das tut sie aber bewusst nicht. Denn Wissen ist Macht! Und der Staatsanwalt muss sein Wissen mit Richtern und Anwälten teilen. Deshalb bekommt er nur, was für eine Verurteilung benötigt wird. Jedes Strafverfahren beginnt also streng genommen mit einem Rechtsbruch, weil die Polizei Aktenbestandteile einfach zurückhält.

Schauen wir uns das nun einmal in der Praxis an: Dazu stellen wir uns vor, Du wärest, geneigter Leser, mit Deiner Freundin im Auto unterwegs. Es ist schon spät, Alkohol war auch im Spiel und plötzlich knallt es, weil irgendwer sein Auto auf der Straße geparkt hat. Fahrerflucht ist unfair, denkt Ihr, aber die Polizei wollt Ihr jetzt auch nicht unbedingt hinzuziehen. Also schreibt Ihr einen Zettel mit Kennzeichen und Handynummer, steckt ihn an das beschädigte Auto und macht Euch schleunigst aus dem Staub, zwar mit schlechtem Gewissen, aber in der festen Absicht, den Schaden ordentlich zu regulieren. „Zum Glück wird nie jemand erfahren, wer von uns am Steuer saß“, denkt Ihr euch noch.

Irgendein Blockwart musste aber mal wieder tief in der Nacht am Fenster herumlungern. Der hat zumindest das Wegfahren eines Autos gesehen und umgehend die Polizei gerufen. Damit beginnt ein tagelanges Katz-und-Maus-Spiel, denn irgendwie hast Du so gar keine Lust, mit der Polizei zu reden und denen zu erklären, wer gefahren ist. Das wiederum mögen Polizisten nicht leiden, deshalb schwärmen sie aus. Sie suchen Dich zuhause, aber Du bist nicht da. Sie fragen herum, wer Dein Auto sonst noch fährt und versuchen zu rekonstruieren, wann Du wo warst. Obendrein erzählen Sie Deiner Familie, dass es „ganz schlimm“ wird, wenn Du Dich nicht umgehend mit Auto meldest.
Um weiterem Stress aus dem Wege zu gehen, fährst Du 2 Tage später zur Polizei, präsentierst wieder nüchtern Dein Auto und sagst, dass Du sonst nichts sagen willst – vor allem nicht, wer gefahren ist.
Dein Anwalt, den Du von Beginn an konsequent auf dem Laufenden hältst, hat richtig Spaß an dem Fall. Bis er irgendwann die Strafakte auf dem Tisch hat und seinen Augen nicht traut: „Der 01 fuhr nachts allein von A nach B und verursachte einen Unfall. Anschließend entfernte er sich. Dieser Sachverhalt basiert auf den Angaben des 01.“, steht da. Und der 01 bist Du, das will die Polizei wie auch immer festgestellt haben.
Die Rotakte enthält nicht einen Satz über das Katz-und-Maus-Spiel und die verzweifelten Versuche der Polizei, den Fahrer zu ermitteln. Alles liest sich so, als könne es überhaupt keinen Zweifeln daran geben, dass Du gefahren bist. Denn Wissen ist Macht und die Polizei weiß genau, was sie dem Staatsanwalt verschweigen muss, damit Zweifel erst gar nicht aufkommen.

Es ist nun die Aufgabe Deines Verteidigers, all die fehlenden Puzzle-Stücke zusammenzutragen, die aus dem Fall wieder das machen, was er von Anfang an war: ein ungeklärter Sachverhalt. Denn was die Polizei als Strafakte an die Justiz liefert, ist oft nicht mehr als ein Märchenbuch.

Selbstreflexion

Selbstreflexion

Selbstreflexion ist nicht die Stärke der Juristen. Wir haben das Gesetz auf unserer Seite, das gibt Rückhalt. In Romanen nehme ich mir aber hin und wieder doch die Zeit, über meinen Beruf nachzudenken. Anlass dazu hatte beispielsweise die Hauptfigur in „Rheingold! Reines Gold“ bei der Rückkehr von einem Mandantengespräch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Einrichtung.

„Erst als ich mich im Auto zurücklehnte, um nochmals die Gebäude der Klinik zu betrachten, begann ich, über die vielen Insassen dieser Einrichtung nachzudenken. Einige Augenblicke stellte ich mir vor, wie das für sie sein mochte, in der Psychiatrie eingesperrt zu sein, gegebenenfalls sogar in der geschlossenen Abteilung.
Dann startete ich den Motor, fuhr davon, besann mich wieder auf meinen Fall, der mir jetzt gerade viel wichtiger erschien. In meinem Kopf wurden die abgeschobenen, teilweise völlig hilflosen, ausgelieferten Patienten umgehend verdrängt von einem schnöden juristischen Problem.
Das ist der Fluch der Juristen, vielleicht sogar aller Menschen, die mit dem Kopf arbeiten. Das Gehirn mag ein phänomenales Werkzeug sein, aber es denkt grundsätzlich nur so, wie man es lenkt. So wie bei einem Buch stets die Seite die wichtigste ist, die man gerade liest, so dreht sich das Gehirn nur um das Thema, das man gerade aufruft. Je besser es trainiert ist, je konzentrierter es zu arbeiten gelernt hat, desto perfekter unterbindet es Gedanken, die dabei stören. Selbst das Nachdenken über ein menschliches Schicksal lässt sich einfach abschalten und durch ein anderes Thema ersetzen.
Mag sein, dass irgendwo im Unterbewusstsein noch das Mitgefühl sein Recht fordert, der aktive Teil des Gehirns weiß von ihm nichts. Deshalb sind Juristen fähig, so emotionslos zu handeln. Unsere Geistestätigkeit gilt schließlich durchweg bestimmten Lebenssachverhalten, die wir konsequent in die Schemata der  Gesetze pressen.
Andere Köpfe widmen sich Zahlen, Naturerscheinungen oder technischen Phänomenen. Der Jurist befasst sich mit dem Leben selbst, das er zur Theorie macht, zu einem gedanklichen Modell. Es ist geradezu seine Aufgabe, das Leben zu bewältigen, indem er es negiert. Immerzu zerlegt er es in Momentaufnahmen, die dem Gesetz unterworfen sind. Was Leben letztlich ausmacht, nämlich dass es stets weitergeht, ist dem juristischen Denken fremd.
So wie der Film aus unzähligen einzelnen Bildern besteht, zerhacken wir Leben in konkrete Fälle. Stets definieren wir präzise jede singuläre Situation so, als sei es unser ureigenstes Recht, den Film, der Leben heißt, jederzeit anzuhalten.
Kein anderer Beruf ist so nah dran am Leben und zugleich so weit weg. Daher auch die Gefühllosigkeit unseres Berufsstandes, unser sklavischer Drang nach Versachlichung, unsere Ignoranz gegenüber dem Konkreten.“

Rechtstreue

Sind Strafverteidiger eigentlich weniger „rechtstreu“?

Als junger Anwalt war ich gerne Seminarbetreuer bei der Deutschen Anwaltsakademie. Wenn man sich dort bereit erklärte, die Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung anfangs zu begrüßen und aufzupassen, dass sie sich ordentlich in die Teilnehmerlisten eintragen, musste man das Seminar nämlich nicht bezahlen. Eine Wohltat für die stets leere Schatulle eines Junganwaltes.

Ich betreute so eine ganztägige Fortbildung zum Versicherungsrecht, eine 2tägige zum Baurecht und eine 3tägige zum Familienrecht. Das war im Ablauf irgendwie immer gleich. Dann buchte ich mich in eine Fortbildung für Strafverteidiger und erwarb mir meine ersten grauen Haare. Die Typen kamen nicht pünktlich, füllten die Fragebögen nicht oder nur schlampig aus und standen nach den Kaffeepausen rauchend oder schwätzend draußen herum, obwohl der Referent längst schon wieder am Vortragen war. Schon ab dem Mittagessen fragten sie nach der Teilnehmerbescheinigung, gegen deren Ausgabe ich mich spätestens am frühen Nachmittag kaum noch wehren konnte. Bereits Stunden vor dem Ende machten sich die Ersten klammheimlich davon – mit einer fadenscheinigen Ausrede, aber immerhin mit Bescheinigung, dass sie angeblich acht Stunden brav zugehört hatten.
Seither interessierte ich mich nicht länger für Seminarbetreuung, sondern für Strafrecht.

Abseits aller Klischees zeigt diese Anekdote etwas Wesentliches auf: Strafverteidiger sind anders. Anders als andere Menschen, aber auch anders als andere Anwälte. Und das liegt nicht an den Fällen, mit denen sie zu tun haben. Auch in anderen Rechtsgebieten stehen Menschen am Abgrund: Der Familienvater, der zum Krüppel gefahren wird, der Häuslebauer, dessen Bauträger mit der Kohle durchbrennt, die Eheleute, die sich eine bittere Scheidungsschlacht liefern – es gäbe noch reichlich Beispiele.
Was den Beruf des Strafverteidigers von anderen unterscheidet, scheint mir nicht das Schicksal des Mandanten zu sein. Viel eher ist es der Gegner, dem man ständig gegenübertritt, nämlich der Staatsmacht, die im Bereich der Strafverfolgung sich für keinen miesen Trick zu schade ist. Sie kommt nicht nur mit einer immensen personellen und technischen Ausstattung daher, auch ihre Rechte gehen weit über das hinaus, was der Laie sich vorstellen kann. Heimlichkeit ist ihr Wesen, verdeckt sind ihre Methoden, rücksichtslos ihr Vorgehen. So muss das wohl sein, denn es geht um Verbrechensaufklärung. Da sind andere Kaliber tätig, als in der deutschen Durchschnittsbehörde, über die der Bürger so gerne Beamtenwitze erzählt.

Ich bin davon überzeugt, dass diese ständige Befassung mit Verhör und Festnahme, Überwachung, Durchsuchung und Haft die berufsmäßig daran Beteiligten verändert, sich gewissermaßen in die Gene einprägt. Und daraus entsteht dann eine Denkweise, die Außenstehenden vielleicht übertrieben erscheinen mag, eben ein professioneller Umgang mit dem Strafverfahren. »Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend«, sagt der Verteidiger, wenn die Polizei auf ihre kriminalistische Erfahrung verweist. »Wer sagt das?«, fragt er. »Wo steht das? Warum sollte es gerade so sein und nicht anders?« Immerfort ist er der lästige Quälgeist, der einfach nicht akzeptieren will, was doch unangefochten einhellige Meinung ist. Der Zweifel ist seine Waffe, das genaue Hinschauen und Hinterfragen sein täglich Brot.
Tatsachenverdrehung, Verharmlosung und zwielichtige Nähe zu ihrer Klientel wirft man den Anwälten gerne vor, die aus der Untersuchungshaft wieder herausboxen, wen die Polizei so mühevoll hineingebracht hat. Liegt es da nicht nahe, dass solche Leute auch die Geltung von Gesetzen eher kritisch sehen, auch Verbote nicht akzeptieren oder sie geschickt umgehen?

Und damit sind wir beim Thema dieses Beitrages, bei der Rechtstreue, der Frage, warum manche Menschen das Gesetz brechen.

Wenn Politiker davon reden, etwas zu verbieten, dann erhoffen sie sich davon ernsthaft, ein von ihnen als unerwünscht erkanntes Verhalten werde künftig nicht mehr stattfinden. Dass Mord verboten ist, soll in ihrer Idealwelt bewirken, dass keiner mehr andere tötet. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass Morde weiterhin geschehen und sich auch gar nicht verhindern lassen. Sie werden lediglich sanktioniert, mit einer Strafe bedroht, die im Extremfall auch lebenslang vollstreckt wird.
Ein Verbot bewirkt also nicht, dass das verbotene Tun unterlassen wird. Es regelt lediglich, welche Sanktion dafür zu erwarten ist. Wenn etwas verboten ist, bedeutet dies darum prinzipiell nicht, dass man es nicht tun darf, sondern nur dass man, wenn man es tut, mit Konsequenzen rechnen muss.
Hat man dies erst verstanden, liegt es nahe, Gesetzesübertretungen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Was bringt es mir, was schadet es mir? Der erste Schritt zum Rechtsbruch ist gegangen.

Als weitere Überlegung tritt dann hinzu die Magna Charta des Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. Bevor die Sanktion greift, muss der Staat erst einmal beweisen, dass sein Verbot missachtet wurde. Dabei unterliegt er Regeln, insbesondere Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Das Verbot ist also nur dann von Bedeutung, wenn der Verstoß dagegen mit rechtsstaatlichen Methoden nachweisbar ist. Gelingt dies nicht, läuft der Mörder weiter frei herum. Dieses Wissen ist der zweite Schritt zum Rechtsbruch.

Vergegenwärtigt man sich nun auch noch, dass vorgenannte Regeln zum Nachweis eines Verstoßes bisweilen sehr kompliziert sind und obendrein auch in Gerichtsverfahren überprüfbar, bekommt der Verstoß gegen Verbote etwas Sportliches. Das Risiko ist kalkulierbar, die Nachweispflicht liegt bei den Strafverfolgern, für die im gerichtlichen Verfahren nicht wenige Fußangeln lauern. Da könnte man es doch durchaus mal versuchen …
Dreier einfacher Überlegungen bedarf es also nur und schon verliert das Verbot seinen Schrecken.
Trotzdem ist es nicht mein Hobby, nach Feierabend am perfekten Verbrechen zu tüfteln, nur weil ich weiß, worauf man achten muss. Der tägliche Umgang mit dem Strafrecht führt eher dazu, dass man besonders penibel darauf achtet, wo die Grenze des Erlaubten überschritten wird. Strafverteidiger werden permanent bedroht von Strafvorschriften, die andere Anwälte zuletzt im Studium gehört haben: Strafvereitelung, Geldwäsche, Falschaussage, falsche Verdächtigung, das Ganze dann auch noch in der Form der Teilnahme, was im Klartext bedeutet, dass man vorgeworfen bekommt, anderen bei deren Taten geholfen, oder sie sogar dazu angestiftet zu haben. Es besteht also wahrlich kein Grund, die Rechtstreue insbesondere des Strafverteidigers zu bezweifeln. Schließlich kennt er das Risiko besser als jeder andere.

Und was war jetzt mit dem kalkulierbaren Risiko, dem Dreisprung zum erfolgreichen Rechtsbruch? Derjenige, der so denkt, bist Du, geneigter Leser, beispielsweise wenn Du wieder einmal am Steuer Deines Wagens mit dem Handy telefonierst oder Schlimmeres planst. Für Dich wirken die oben getätigten drei einfachen Überlegungen verführerisch. Ich rate dringend davon ab.

Fehlurteil

Fehlurteil

Das Fehlurteil ist die hässlichste Fratze, die ein Rechtsstaat seinen Untertanen zeigen kann. In meinem Roman „Rheingold! Reines Gold“ habe ich die Entstehung eines der schockierendsten Fehlurteile in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte – mit einem Schuss dichterischer Freiheit – kurz nacherzählt.

»Im Oktober des Jahres 2001 verschwand der Bauer Rudolf Rupp spurlos von einem bayerischen Bauernhof. Seine Familie – eine Frau und zwei Töchte -, bestand, so wird berichtet, nicht unbedingt aus Geistesgrößen. Es soll sich um eher einfach strukturierte Personen gehandelt haben. Ehefrau und Töchter, seiner täglichen Misshandlungen schon lange überdrüssig, waren über das Ausbleiben des Bauern nicht sonderlich traurig. Ganz anders die Polizei.

Ein Vermisstenfall ist eine Akte, plötzliches Verschwinden aber kein ausreichender Grund, die Akte zu schließen. Da Beamte es einfach nicht mögen, wenn eine Akte nicht ordentlich abgeschlossen wird, musste eine Erklärung her.

Nun sind Polizisten auch nicht schlauer als der Durchschnittsbürger. Wie sollten sie auch, sie sind ja Durchschnittsbürger. Folglich konnten sie das Rätsel um den Verbleib des Bauers Rupp ebenso wenig lösen wie jedermann. Allerdings beherrschen Kriminalisten eine Kunst, der Normalbürger schon deshalb nicht frönen, weil sie nicht wirklich weiterhilft. Wo immer unsere Ordnungshüter an die Grenze ihrer reduzierten Inspiration gelangen, bilden sie nämlich kriminalistische Hypothesen.

Die kriminalistische Hypothese ist die Basis vieler Strafverfahren, insbesondere der ungeklärten. Eine kriminalistische Hypothese ist nicht mehr als eine Theorie, wie etwas gewesen sein könnte. Ein während einer Kaffeerunde entworfenes Konstrukt, eine hoheitliche Märchenstunde, ein Pfeilwurf auf die Dartscheibe aller denkbaren Möglichkeiten. Kriminalistisch hypothetisch ist der Punkt unter Tausenden, den der Pfeil trifft.

Wenn der Kaffee dann erkaltet oder die Dartrunde beendet ist, geschehen auf deutschen Polizeistationen seltsame Dinge. Die vorher noch so drängende Frage nach der Wahrheit wird jetzt hektisch in den Müll gestampft. An ihre Stelle tritt die kriminalistische Hypothese als künftig alleingültige Wirklichkeit. Von Belang sind fortan ausschließlich solche Beweise, welche die Hypothese stützen. Zweifel oder kritische Fragen gelten als tabu.

Im Falle des Bauern Rupp war die kriminalistische Hypothese bald gestrickt und lautete folgendermaßen: Ehefrau und Tochter haben den Bauern ermordet, zerstückelt und dann an die Hunde auf dem Hof verfüttert.

Der Vorteil dieser Hypothese liegt auf der Hand. Nicht nur das Verschwinden des Bauern ließ sich so aufklären. Es gab obendrein auch gleich noch eine plausible Erklärung dafür, warum der Bauer keine Spuren hinterlassen hatte. Zusätzlich lieferte die Theorie sogar Täter, die für die Tat verurteilt werden konnten. Alle Probleme der lästigen Vermisstenakte schienen im Handumdrehen gelöst.

Die Kriminalbeamten dürften ordentlich gefeiert haben. Wieder und wieder diskutierten sie ihre kriminalistische Hypothese. Keiner fand einen Fehler. Bis einem auffiel, dass eine Tochter des Bauern Rupp bereits verlobt war. Schlagartig rutschte die Stimmung in den Keller. Das konnte gefährlich werden.

Verlobte müssen nicht aussagen. Man konnte den Mann also nicht vor dem Prozess durch die Mangel drehen. Sie können jedoch aussagen, wenn sie wollen. Was dies bedeutete, war den erfahrenen Kriminalisten umgehend klar. Verlobte sagen immer nur zugunsten der möglichen Täter aus, wobei sie sich meistens als Alibizeuge anbieten. Die Stimmung auf der Wache wurde immer deprimierter. Einen Alibizeugen konnte man nicht gebrauchen.

Wahrscheinlich war es der Älteste unter den Polizisten oder der Erfahrenste, auf jeden Fall einer, der sich schon in manchem ungeklärtem Fall bewährt hatte. Dem kam der rettende Gedanke.

»Wisst ihr was, Leute? Wir beschuldigen den Verlobten einfach mit. Wenn er an der Tat beteiligt war, dann kann er kein Zeuge sein, schon gar kein Alibizeuge.«

Gesagt, getan. Die kriminalistische Hypothese wurde leicht modifiziert, dann ging es an die Beweisführung.

Minderbemittelte Beschuldigte sind keine wirklichen Gegner für die Ermittler eines Morddezernats. Sie lassen sich durch entsprechenden psychischen Druck beliebig biegen. Es bedurfte nur eines ausgedehnten Dauerverhörs, geringfügigen Schlafentzugs, sanfter Brüllerei im Verhörzimmer. All die Methoden, von denen die Kriminalpolizei ständig behauptet, es gäbe sie gar nicht. Am Ende unterschrieben alle das Geständnis.

Ein Zeuge beschwerte sich hinterher, man habe ihn mit der Pistole an der Schläfe zur Aussage gezwungen. Sogar an den genauen Wortlaut konnte er sich erinnern: »Es geht schließlich um Mord, da dürfen wir alles.«

Wer nun denkt, die Staatsanwaltschaft habe nach Bekanntwerden dieser Vorwürfe gegen den Polizisten ermittelt, hat immer noch nicht verstanden, wie so etwas hierzulande läuft. Selbstverständlich wurde der Zeuge angeklagt, und zwar wegen einer angeblichen Falschaussage.

Aber zurück zum Fall des Bauern Rupp: Die Anklage wegen Totschlags war nach derartigen Geständnissen reine Routine. Verteidiger warteten zwar im Prozess noch mit dem Widerruf der Geständnisse auf, aber die zuständige Staatsanwaltschaft blieb unbeirrbar. Schließlich hatte die Polizei eine kriminalistische Hypothese gebildet. Diese war durch die Vernehmungen in allen Punkten bestätigt worden. Wer sollte da noch Zweifel hegen?

Gott sei Dank gibt es auch in Bayern noch unabhängige Richter, denen die These vom Zerstückeln des Bauern Rupp eher seltsam vorkam. Wieso hatten denn nirgendwo Spuren eines solchen Gemetzels gesichert werden können. Und wo war das Auto des Bauern, immerhin ein Mercedes? Den konnten doch nicht auch noch die Hunde gefressen haben.

Das Gericht war aufrichtig bemüht, die Lücke in der Beweiskette persönlich zu schließen. Schon nach kurzer Beratung gelang das ewige Werk: Bauer Rupp wurde eben nicht nur an Hunde verfüttert, die zumindest Knochen übrig gelassen hätten, sondern auch an die Schweine des Hofes. Dies erkläre das Fehlen jeglicher Spuren. Und was das verschwundene Auto betraf, so lässt sich ein bayerischer Richter dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Der Mercedes wurde in einer Schrottpresse beseitigt, befand die Strafkammer. Gerade so, als habe jeder eine Schrottpresse zu Hause. Einen ganzen Mercedes verdauen die locker.

Der Vorsitzende fand in seiner Urteilsbegründung dramatische Worte, faselte von einer »schrecklichen Tat«, die er glücklicherweise habe aufklären können. Für ihn ergab sich „ein deutliches und im Wesentlichen übereinstimmendes Bild, so  dass an der Wahrheit nicht zu zweifeln ist.“ Die widerrufenen Geständnisse der Angeklagten beirrten ihn mitnichten, denn »dass die grausigen Schilderungen nur ausgedacht worden seien, kann wohl niemand ernsthaft glauben“. Also sprach Justitia und nahm Ehefrau nebst Verlobtem der Tochter für lange Jahre barmherzig in ihre Haftanstalten auf. Die Töchter selbst wurden zu Jugendstrafen verurteilt. Die ganze Brut verschwand hinter Gittern.

Im März 2009 wurde in der Nähe des Bauernhofes Rupp ein Stausee abgelassen. Auf dem Grund des Sees fanden Ermittler den Mercedes des Bauern Rupp mitsamt seiner skelettierten Leiche. Die Mär vom Verfüttern an Hunde oder Schweine war widerlegt.

Die Todesursache konnte nach Jahren im Wasser nicht sicher bestimmt werden. Zumindest hatte aber niemand dem Bauern seinen Schädel eingeschlagen, was das Gericht im Prozess gegen die Angehörigen doch gerade zweifelsfrei festgestellt haben wollte. Nun hatte die Justiz ein Problem.

Ein Skelett, das im Wasser liegt, kann nicht von Schweinen auf dem Hof gefressen worden sein, würde Otto Normalverbraucher behaupten. Nicht anders dachte ein mutiger Strafverteidiger, der umgehend die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragte. Doch so einfach verzichtet der Staat nicht auf den Rechtsfrieden, den er mit seinen Urteilen angeblich herstellt.

»Es ziemt dem Untertanen nicht, an die Handlungen des Staatsoberhaupts den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen«, hatte der preußische Minister Gustav von Rochow im Jahre 1838 dem Volke diktiert. Staatsanwaltschaft und Landgericht in Landshut müssen diesen Erlass gekannt haben. Mit vereinten Kräften wiesen sie den Wiederaufnahmeantrag ab und gaben dem Verteidiger schriftlich, wie das seit langem rechtskräftige Urteil zu verstehen sei: Die Ehefrau und der Verlobte der Tochter wurden deshalb verurteilt, weil sie den Bauern Rupp umgebracht haben. Zweifel an dieser Erkenntnis seien nicht angebracht, denn das Skelett im See beweise doch eindeutig, dass Bauer Rupp nicht mehr unter den Lebenden weile. Ob er zusätzlich auch noch an Hunde oder gar Schweine verfüttert wurde, sei völlig egal. Denn auch ein ertrunkener Bauer sei ein toter Bauer. Dafür müssten die Verurteilten sitzen. Es gebe daher, so das Landgericht Landshut mit messerscharfer juristischer Logik, überhaupt keinen Grund, ein rechtskräftiges Urteil anzuzweifeln. Wiederaufnahme abgelehnt.

Letztlich verhalf die zweite Instanz dem so gescholtenen Verteidiger glücklicherweise dennoch zu einem Wiederaufnahmeverfahren. Bis Ehefrau und Verlobter der Tochter aber endlich freigesprochen waren, hatten sie ihre zu Unrecht verhängte Haftstrafe längst abgesessen. Die Töchter waren nach Verbüßung ihrer etwas kürzeren Jugendstrafen ohnehin schon wieder auf freiem Fuß.“

Befangenheit

Was bedeutet eigentlich „Befangenheit“?

Haben Sie schonmal einen Richter wegen Befangenheit abgelehnt?“, fragen Mandanten bisweilen vor einem Prozess. „Noch nie!“, antworte ich dann, was sie umgehend an der Qualifikation ihres Verteidigers zweifeln lässt. „Aber falls mein Richter befangen ist …“, haken sie dann hoffnungsfroh nach, nur um von mir zu erfahren: „Es interessiert mich nicht, ob Richter befangen sind.“ Danach herrscht betrübtes Schweigen. Das müssen Mandanten erst mal verdauen. Hat der Anwalt vielleicht keine Ahnung?

Doch, hat er, darum weiß er, dass es nie darauf ankommt, ob ein Richter befangen ist. Der Gesetzgeber hat darauf geachtet, dass bei derartigen Scharmützeln niemand sein Gesicht verlieren muss. Darum verlangt er nur die „Besorgnis der Befangenheit“, um Richter ablehnen zu können. Es genügt also das „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit“. Ob der Betreffende wirklich voreingenommen ist, wird nie entschieden.

Was entschieden wird, ist die Frage, ob dieses Misstrauen des Mandanten zu Recht besteht. Es muss nämlich nach den Maßstäben eines »besonnenen Dritten« gegeben sein, nicht nur rein subjektiv. Mit anderen Worten: Nur wenn jeder Andere auch an der Unparteilichkeit des Richters zweifeln würde, werden die Bedenken des konkreten Mandanten vom Gericht ernst genommen. Ob nun tatsächlich jeder Andere diese Zweifel ebenfalls hätte, lässt sich eigentlich nur durch eine Meinungsumfrage feststellen. So weit kommt es aber nicht, denn das entscheiden einfach andere Richter, die selbstverständlich viel besser beurteilen können, ob der Angeklagte zu Recht an der Unparteilichkeit eines Richters zweifelt, der ihm kurz nach Prozessbeginn androht: »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«

Um den Hintergrund solcher Äußerungen besser verstehen zu können, holen die zur Entscheidung über den Ablehnungsantrag berufenen Richter von dem abgelehnten Richter eine »dienstliche Stellungnahme« ein. Nach einer Volksweisheit wird ja nirgendwo so viel gelogen wie bei Gericht. Der Gesetzgeber täte deshalb gut daran, für diese dienstlichen Stellungnahmen den Anwaltszwang einzuführen, denn es ist bisweilen lächerlich und absurd, wie manche Richter unter Verdrehung aller Tatsachen sich zu rechtfertigen versuchen. Zum Glück nur wenige.

Nach der dienstlichen Stellungnahme entscheiden die Kollegen des abgelehnten Richters. Die sind streng, sehr streng – allerdings nur, wenn der abgelehnte Richter ein Schöffe ist. Die armen Schöffen dürfen noch nicht einmal während stundenlanger Sitzungen schnell per SMS regeln, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Sie dürfen auch nicht in einer Verhandlung am 6.12. dem Staatsanwalt einen Schokoladennikolaus schenken. Alles Gründe, um den Prozess sofort abzubrechen und den Schöffen abzuschießen.

Ist der abgelehnte Richter hingegen ein Berufsrichter, kann er auf großzügigere Maßstäbe bei seinen Kollegen hoffen. Wenn eine Richterin mit dem Opfer einer Körperverletzung enge persönliche Beziehungen pflegt und sich regelmäßig mit ihm zum Mittagessen trifft, muss das für den Angeklagten, der den Mann brutal zusammengeschlagen haben soll, noch lange kein Grund sein, an der Unvoreingenommenheit dieser Richterin zu zweifeln. Richter können doch privat und dienstlich problemlos trennen. Wo kämen wir hin, wenn jeder daran zweifeln dürfte?

Allerdings gibt es ja noch die Revision. Das Revisionsgericht prüft auf entsprechenden Antrag nochmals nach, ob das Verhalten des abgelehnten Richters tatsächlich so unbefangen war. Seltsamerweise kommen die Revisionsgerichte oft zu ganz anderen Wertungen, als die Kollegen vom Gericht des abgelehnten Richters.

Konsequenz: Weil ein Richter, der schon am ersten Verhandlungstag wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, trotzdem weitermachen durfte, wird noch 20 Tage oder länger weiterverhandelt, der Angeklagte auch verurteilt und erst vom Revisionsgericht festgestellt, dass dieser Prozess so nie hätte stattfinden dürfen.

Und darum beginnt das ganze Verfahren dann von vorne, der Angeklagte steht wieder mit seinem Verteidiger vor der Türe, doch dieses Mal fragt er: »Würden Sie einen Richter auch ablehnen, wenn Sie besorgt sind, dass er befangen ist?« – »Nein«, antworte ich dann. »Es kommt nicht darauf an, ob der Verteidiger wegen der möglichen Befangenheit eines Richters besorgt ist.«

Strafprozess ist eben kompliziert.

Honorarvereinbarung

Warum schließen Verteidiger eigentlich „Honorarvereinbarungen“ ab?

Gestern habe ich eine Revisionsbegründung fertiggestellt. Das gesetzliche Honorar dafür beträgt mindestens 120,.- EUR und höchstens 1.110,- EUR. Für einen einzigen Brief! Nicht schlecht – könnte man denken. Schauen wir also mal genauer hin:

Mein Mandant hat von einem Landgericht 5 Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Für schweren Menschenhandel, dirigierende Zuhälterei, Vergewaltigung und diverse andere Ungezogenheiten. Die Hauptverhandlung dauerte 16 Tage. Um meine Arbeit (Begründung der Revision) zu erledigen, habe ich ein 133 Seiten starkes Urteil, 387 Seiten Sitzungsprotokoll und genau einen Monat Zeit. Diese Frist ist nicht verlängerbar.

Zunächst analysiere ich die 133 Seiten Urteil ganz exakt, mehrfach, zigfach, immer wieder.
Gleich am Anfang geht es los: Das Gericht hat sich über die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten – also seine Finanzen – anhand seiner Bankunterlagen ein Bild gemacht. Also blättere ich die 387 Seiten Protokoll durch, was dazu vermerkt ist. Wurden die Bankordner nur „zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht“ oder wurden sie „vom Gericht in Augenschein genommen“? Beides würde nicht ausreichen, aber laut Protokoll wurden die Kontoauszüge „verlesen“. Diese Spur führt mich also nicht weiter, darum beginne ich  wieder von vorne. Urteil lesen, Protokoll lesen, mehrfach, zigfach, immer wieder.

Dann die nächste Fährte: Am 8. Verhandlungstag war der Protokollführer erkrankt. Er wurde durch einen anderen Justizbeamten ersetzt. Ganz am Ende des Prozesses, wenn das Protokoll unterschrieben wird, war der Ersatzman aber nicht beteiligt. Das wird zu Problemen für die Justiz führen! Allerdings nur deshalb, weil ein Anwalt weiß, worauf er achten muss und wie er mit einem solchen Fehler umzugehen hat. Du, geneigter Leser, wirst Dir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können, dass eine fehlende Unterschrift überhaupt eine Rolle spielt. Denn Du verwendest nicht jeden Tag einen Teil Deiner Zeit zur Fortbildung – schon lange bevor die konkrete Revisionsbegründung beginnt.

Der Mandant liefert natürlich auch Hinweise: Er erinnert sich genau, dass alle Zeugen sein Auto als blaues Auto beschrieben haben, obwohl der Täter nachweislich ein rotes Auto fuhr. Im Urteil wird aber fälschlicherweise behauptet, das Auto des Mandanten sei rot gewesen. Außerdem hatte der Täter laut Urteil eine Glatze, mein Mandant aber lange Haare. „Interessant“, sage ich dazu, was die höfliche Variante von „Interessiert mich nicht, weil es keine Rolle spielt“ ist.

Adressat meiner Revisionsbegründung ist letztlich der Bundesgerichtshof (BGH), das höchste deutsche Strafgericht. Dort werden demnächst 5 Berufsrichter über die Revision entscheiden, und zwar auf der Basis dessen, was das Landgericht als Sachverhalt festgestellt hat. Ob diese Feststellungen richtig oder falsch sind, interessiert die Damen und Herren am BGH nicht. Es sei denn, das Landgericht hätte in sein Urteil geschrieben:  „Das Wasser floss den Berg hinauf, wo es bei hoch-sommerlichen Temperaturen zu Eis gefror.“ Das nennt man dann einen „Verstoß gegen die Denkgesetze“ und führt zur Aufhebung des Urteils. Solange das Landgericht nur Rot und Blau verwechselt und Langhaarigen eine Glatze attestiert, muss der Verurteilte eben damit leben. Im Knast kann er ja 5 Jahre darüber nachdenken.

Habe ich alle Fehler gefunden (hoffentlich nicht die entscheidenden übersehen), müssen diese in einer ganz bestimmten Form zu Papier gebracht werden. BGH-Richter gehen an eine Revisionsbegründung heran wie der Bömmel aus der Feuerzangenbowle an die Dampfmaschine: „Da stelle mehr uns janz dumm.

Hat das Landgericht den entscheidenen Alibi-Zeugen einfach nicht geladen, obwohl dies dutzendfach beantragt wurde, mag dem Laien dies fehlerhaft erscheinen. Dem BGH muss man aber zusätzlich noch erklären, was dieser Zeuge voraussichtlich ausgesagt hätte und warum das Urteil dann anders ausgefallen wäre. An diesen Formalien scheitern die meisten Revisionen. BGH-Richter erklären bei Fortbildungsveranstaltungen ungerührt, wie sie Fehler im Urteil zweifelsfrei erkannt haben. Es hat sie aber nicht interessiert, weil der Anwalt den Fehler nicht formvollendet gerügt hat.
Macht ja nix, geht ja nur um 5 Jahre Haft.

Wenn die Revisionsbegründung fertig ist, hat man Tage und Nächte mit dem Urteil und dem Protokoll verbracht. Für einen einzigen Brief? Ich habe es mir abgewöhnt, die Stunden zu zählen, denn sonst müsste ich wohl ernsthaft darüber nachdenken, ob mir der gesetzliche Mindestlohn gezahlt wird.

Das anwaltliche Honorar, welches heute mein Thema ist, wird zwar auch danach bemessen, welche Bedeutung eine Sache für den Mandanten hat. Aber was heißt das konkret? In dem einen Monat, der ihm für die Revisionsbegründung bleibt, trägt der Anwalt die volle Verantwortung dafür, ob sein Klient möglicherweise für 5 Jahre ins Gefängnis geschickt wird. Klingt schwer nach Höchstgebühr.
Es gibt aber nicht nur 5 Jahre, sondern auch noch 10 oder 15 oder lebenslang. Kommt es zum Streit über das Honorar, ist darum meistens schon fraglich, ob der Verteidiger mit seiner Revisionsbegründung überhaupt die Oberkante des Gebührenrahmens touchiert hat. Darüber hinaus gekommen ist er dann sicher nicht. Denn über die Latte segeln nur Stabhochspringer.

Genau darum ist es schlichtweg ein Gebot der Fairness gegenüber seinem Strafverteidiger, eine kostendeckende Vergütung mit ihm zu vereinbaren, bevor er mit der Arbeit beginnt. So erkläre ich das auch meinen Mananten.

Die verstanden haben, einigen sich dann mit mir auf ein angemessenes Honorar. Die nicht verstanden haben, denken über Maßnahmen zur Kostenreduzierung nach und bieten mir an, zunächst einmal einen eigenen Entwurf zu fertigen, damit ich es leichter habe.

Das sind dann die Fälle, wo ich leider das Mandat beenden muss.