Drogeneinfluss

Woher kennen Richter eigentlich die „Wirkung von Drogen“?

Ein Standardproblem in vielen Strafprozessen ist die Frage, inwieweit der Täter verantwortlich ist für sein Tun. Der Gesetzgeber hält dies in manchen Fällen für zweifelhaft (Kinder, Schwachsinnige), darum müssen sich Gerichte immer dann, wenn Drogen im Spiel waren, die Frage stellen, ob der Täter ganz oder teilweise einem Kind oder einem Schwachsinnigen gleichzustellen ist.

Bei der Volksdroge Nr. 1, dem Alkohol, fällt dies noch leicht, weil jeder Durchschnittsbürger – somit auch die Richter – irgendwann in seinem Leben einmal oder mehrmals Erfahrungen damit gemacht hat oder nach wie vor macht. Ergab eine Blutprobe den Wert von 2,8 Promille, kann sich ein Richter also konkret etwas darunter vorstellen und weiß ziemlich genau, dass dieser Täter wohl eingeschränkt schuldfähig war, aber einen Schnaps zu wenig getrunken hat, um absolut schuldunfähig gewesen zu sein. Klingt nachvollziehbar.

Was passiert aber, wenn der Täter morgens einen Joint geraucht, mittags 2 XTC eingeworfen, nachmittags Pep gezogen und abends eine Line Koks geschnupft hat? War der jetzt völlig deppert (vergleichbar mit über 3 Promille) eher etwas matschig in der Birne (etwa 2,5 Promille beim geübten Trinker) oder nur leicht beschwippst (Oma nach drei Likörchen)?
Es ist immer wieder interessant, wie vor Gericht die Wirkung von Betäubungsmitteln quasi umgerechnet wird in einen Alkoholrausch. Man merkt es an den Fragen der Richter und Staatsanwälte, die darum bemüht sind, zu verstehen.

Auch wir Anwälte sind nicht über das Problem erhaben. Ich finde es manchmal rührend, wie Kollegen sich bemühen, im Plädoyer die Auswirkungen eines Drogenrausches schuldmindernd zu erklären, von dem ihnen jegliche Vorstellung fehlt. Da wird wohl eher die Erfahrung aus studentischen Bier-Exzessen rekapituliert, was Richter auch verständig nickend zur Kenntnis nehmen, weil das Plädoyer sich in diesem Punkt genau mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont deckt. Der Szene-Verteidiger aus Berlin-Kreuzberg würde an ihrer Stelle tunlichst die Behauptung vermeiden, die Wirkung des Kokains habe sich durch exzessiven Alkoholkonsum noch verstärkt. Denn er weiß, dass das Gegenteil der Fall ist.

Meines Wissens gibt es weder in der Aus- noch in der Fortbildung praxisbezogene Kurse zum Drogenkonsum (wäre auch schlecht für die Fahrerlaubnis). Nicht grundlos nennt man Drogen auch „verbotene Substanzen“, da wollen sogar Juristen ausnahmsweise einmal nicht mit ihrem überlegenen Fachwissen prahlen. Was also tun?
Man könnte es machen wie die Polizei bei der Vernehmung: Tasse Kaffee, Zigarette und ein vorgedruckter Protokollvermerk („Seine Gedankengänge waren klar und geordnet“). Zweifel am Geisteszustand ihrer Kundschaft lassen die erst gar nicht aufkommen. So einfach hat es ein Richter aber nicht, weil den permanent ein Anwalt nervt und behauptet: „Mein Mandant wusste nicht, was er tat.
Darum greifen Richter in solchen Fällen zurück auf Sachverständige. Die pfeifen sich zwar auch nicht den ganzen Tag seltsame Substanzen rein, tun aber trotzdem so, als hätten sie Ahnung davon. Aus meiner Sicht ein eher zwielichtiger Abschnitt des Strafprozesses. Alle behaupten, sie könnten sich jetzt genau vorstellen, wie der Angeklagte damals drauf war. Dann wird über dessen Wohl und Wehe entschieden.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Mir leuchtet schon ein, dass Mediziner durch Befragungen und Analysen des Konsumverhaltens, gestützt auf Tests und objektiv erhobene Werte gewisse Krankheitsbilder erkennen können. Daraus lassen sich gewiss auch Rückschlüsse auf zurückliegende Zeiträume und für künftiges Verhalten ziehen. Aber wie zum Teufel stellt so ein Sachverständiger heute fest, ob der Nafri auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht 2015/16 zugedröhnt war oder nicht???

Das Angebot an Stöffchen ist fast schon unüberschaubar. Dann wird noch gestreckt und gemischt, bis der Konsument selbst nicht mehr weiß, was er im Blut hat. Aber der Herr Professor weiß es trotzdem. Angeblich.
Letztlich ist es der Grundsatz in dubio pro reo, der weiterhilft. Ein Angeklagter, der brav die Standardfloskeln herunterbetet, wird mit der avisierten Strafmilderung belohnt. Weil der Professor es für nachvollziehbar hält. Wer eher exotische Auswirkungen der Droge schildert, läuft Gefahr, den Professor als unwissend zu entlarven. Das quittiert der mit einem „unglaubwürdig“. Ein Strafabzug von immerhin rund 25% wird dann nicht gewährt.
Aber Vorsicht: Die Justiz weiß, dass sie bei der Feststellung des Drogenrausches gern an der Nase herumgeführt wird. Darum hat sie Mittel und Wege, dem inflationären Einsatz dieser Taktik vorzubeugen. Wer es übertreibt, landet schnell im Maßregelvollzug, also einer Zwangstherapie in geschlossenen Anstalten. Die Dauer einer solchen Maßnahme kann über die der verhängten Haft hinausgehen.
Ratsam ist es darum häufig auch, die zugedröhnte Birne dezent zu verschweigen. Der Richter weiß es ja nicht besser. Und der Professor schon gar nicht.

Verlobung

Welche Rechtsfolgen hat eigentlich eine „Verlobung“?

Dieser Tage waren die Schlagzeilen mal wieder voll davon. Ich vermute, die Klatschblätter werden bis Weihnachten nichts anderes mehr berichten. Denn ein Abkömmling des britischen Staatsoberhauptes hat sich verlobt.
Auch bei uns im Lande sind Verlobungen populär, weil ein sogenanntes soziales Netzwerk den Beziehungsstatus „verlobt“ kennt, was dort soviel heißt wie „soeben aus der Disco abgeschleppt“.
Neben Thronfolgern und Halbstarken finden auch Strafverteidiger das Thema hochinteressant, allerdings relativ unbeeindruckt von Regenbogenpresse und Beziehungsstatus. Was uns daran fasziniert, ist das Recht zu schweigen.

Schweigen spielt im Strafprozess eine große Rolle, denn nicht jedem, der einfach nur nichts sagen möchte, ist dies auch erlaubt. Grundsätzlich hat jeder Zeuge umfassend und wahrheitsgemäß auszusagen. Er hat ferner – und das wird häufig übersehen – auch die Pflicht, sich überwachen zu lassen durch Observierung, Abhören seiner Telefonate oder Anzapfen seiner Rechner. Ausnahmen hiervon sind spärlich gesät, sie gelten derzeit eigentlich nur für zwei Berufsgruppen, die absolut unantastbar sind: Priester und Strafverteidiger.
Die Bundestagsabgeordneten als Macher des Gesetzes haben sich selbst natürlich auch privilegiert. Journalisten behaupten gerne, sie würden „Quellenschutz“ gewähren. Wie ein Blick in § 20u Abs. 2 des BKA-Gesetzes zeigt, kann man sich da jedoch nicht so sicher sein. (Ab Mai 2018 gibt es wieder ein paar mehr geschützte Berufe. Journalisten werden trotzdem nicht dazu gehören).
Darf also Otto Normalverbraucher sich schon nie ganz sicher sein, dass „die Dienste“ nichts alles von ihm erschnüffeln, so bleibt ihm doch wenigstens erspart, auch noch selbst alles über sich erzählen zu müssen – sofern er verlobt ist. Da wir in modernen Zeiten leben, muss die Verlobung übrigens nicht zwischen Mann und Frau stattfinden. Die „Verlobung für alle“ ist schon länger als die gleichnamige Ehe Gesetz.
Was nicht geht, ist eine bigame oder polygame Verlobung. Da ist der Gesetzgeber eher konservativ. Man muss also unverheiratet sein und sich für einen einzigen künftigen Partner entscheiden. Hier liegt der wesentliche Unterschied zur Verlobung als Netzwerkbeziehungsstatus.

Formal geht es erheblich unkomplizierter zu als bei der Eheschließung.
Wenn der Zuhälter seine Bordsteinschwalbe grün und blau prügelt und ihr dann kurz bevor sie dazu vernommen wird ein „Schatz willst du mich heiraten“ zuruft, reicht ein Kopfnicken der Dame. Reden kann sie ja wahrscheinlich noch nicht wieder.
Wie die Polizei dann den Täter der Körperverletzung feststellt, bleibt ihr überlassen. Das Opfer jedenfalls darf schweigen und ist dadurch in einer besseren Position als andere Opfer desselben Zuhälters. Die müssen umständlich herumlügen („Kann mich nicht erinnern.“, „Es ging so schnell, hab keinen erkannt.“, „Hab den Typen vorher noch nie gesehen.“).
Damit sind wir auch bei einem Hauptanwendungsfall dieses Zeugnisverweigerungsrechtes. Strafprozessual findet die Verlobung nämlich überwiegend in gewaltexzessiven Beziehungen statt. Ein Umstand, der Verteidiger fast zu Tränen rührt. Immer wenn so eine Dumpfbacke seine Partnerin brutal zusammengeschlagen hat, wenn die Beweislage so klar ist, dass ihm eigentlich keiner mehr helfen könnte, dann siegt plötzlich die Liebe und Täter und Opfer versprechen sich die Ehe. Der Schreibtisch in meinem Besprechungszimmer ist an der Unterseite heftig zerkratzt, weil ich ihn in solchen Momenten mit den Fingernägeln malträtiere.
Wie viele dieser Verlobungen auch vor dem Traualtar enden, habe ich statistisch noch nicht erfasst. Eine Einladung zur Hochzeit blieb mir wenigstens in solchen Fällen bisher erspart.

Kritiker unseres Rechtssystems werden jetzt wieder nörgeln und die umgehende Abschaffung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Verlobte fordern. Sind sie zu idealistisch, werden sie vom Kampf um die Wahrheit schwafeln, kommen sie eher aus der law-and-order-hardliner-Ecke, lügen sie uns den Kampf für die Frauenrechte vor, die dort nur dann von Bedeutung sind, wenn man Gesetzesverschärfungen damit begründen kann.
Doch machen wir uns nichts vor: Wenn sie ihn nicht verpfeifen will, wird sie dies so oder so nicht tun. Eher macht sie eine Falschaussage. Das ist nämlich häufig die Folge, wenn eine Verlobung vom Gericht nicht anerkannt wird, weil zB. einer der Beteiligten noch verheiratet ist.

Die strafprozessuale Bedeutung der Verlobung liegt wohl auch darin, Menschen im Taumel ihrer Gefühle unnötige Einmischungen durch den Staat zu ersparen. Meines Erachtens eine brauchbare Lösung, solange die beiden – trotz allem – einfach nicht voneinander lassen können.
Irgendwann ist es aber vorbei und dann kommt der Augenblick, die Verlobung feierlich wieder zu lösen. Bewährt hat sich eine SMS mit dem Götz-von-Berlichingen-Zitat oder eine WhatsApp-Nachricht mit Stinkefinger-Emoj. Im Gegensatz zur Ehescheidung ist das ohne anwaltlichen Beistand möglich. Ob es auch klug ist, möchte ich eher bezweifeln. Im Hintergrund lauert nämlich schon der Staatsanwalt, der es nie verwinden konnte, dass seine Anklage wegen eines Scheinverlöbnisses zum Freispruch führte.
Wer bisher noch keinen Verteidiger hatte, sollte sich jetzt einen nehmen.

Kinderschänder

Wie verteidigt man eigentlich einen „Kinderschänder“?

Der Mann schnappte sich die 4jährige Lisa und missbrauchte sie brachial. Mehrfach urinierte er auch auf sie. Das Kind überlebte mit schweren inneren Verletzungen. Er hatte ihre Eingeweide regelrecht zerfetzt.
Ich habe lange überlegt, ob ich die Überschrift zu diesem Beitrag mit „Wozu“ beginnen sollte, mich dann aber für das „Wie“ entschieden. Denn die grundsätzliche Überzeugung, dass dieser Mann verteidigt werden muss, steht für mich nicht zur Diskussion.
Irgendwann treffe ich ihn in einer Haftzelle, wo er stumm zu Boden starrt. Wahrscheinlich bin ich der Erste, der ihn zum Reden bringt, denn bisher hat er stur geschwiegen. Solche Täter wollen ihre Taten nicht wahrhaben. Ich kenne die Akte, die Spuren, die unzähligen Beweise, die Fotos. Dennoch lautet meine erste Frage: „Stimmt es, was man Ihnen vorwirft?“
Die Öffentlichkeit hat sein Urteil längst gefällt: Schwanz ab und dann möglichst elendig verrecken lassen. Aber ich gebe ihm wenigstens die Chance, alles abzustreiten, nur für eine Sekunde nochmal zu sein, was er nie wieder sein wird: unschuldig.
Es gibt Täter, die jetzt leugnen, dies auch nach intensivster Beratung weiter tun und bis zum letzten Tag der Haft behaupten werden, die Tat nicht begangen zu haben. Dann ist es die Aufgabe des Strafverteidigers, sie mit dieser Lebenslüge, die jetzt alles ist, was ihnen blieb, durch den Prozess zu führen. Ich würde am Ende zwar nicht auf Freispruch plädieren, aber es ist auch nicht mein Job, solche Mandanten täglich zum Geständnis zu ermahnen.
Die Verteidigung des leugnenden Angeklagten, von dem man weiß, dass er es war, soll aber heute nicht mein Thema sein.

Gesteht der Inhaftierte hingegen seine Tat, ist es lange nicht damit getan, nun „ein mildes Urteil“ zu beantragen, das er ohnehin nicht verdient hat. Das Monströse dieser Schandtat rührt an Urinstinkte, denen sich niemand entziehen kann. Die Gefahr, dass es „mit den Vorschriften nicht so genau genommen“ wird, ist in solchen Verfahren allgegenwärtig. Das beginnt schon mit einer kleinen Verspätung des Gerichts bei Prozessbeginn, damit die Presse ein paar Minuten länger draufhalten kann. Macht der Täter Angaben zu sich oder seiner Tat, wird er gerne unterbrochen, gar als zu weitschweifig kritisiert. Die erbetene Pinkelpause bekommt er „jetzt noch nicht“. Zu Anträgen, die er stellen möchte, „kommen wir später“.
Wenn Du, geneigter Leser, Dich einfach mal fragst, ob Du diesen Täter anders als „normale“ Verbrecher behandeln würdest, wirst Du verstehen, was ich meine: Auch Gerichte versagen bisweilen gegenüber ihrem eigenen Anspruch auf Neutralität. Darum braucht es eine klare Rollenverteilung. Einer muss strikt für die Rechte des Angeklagten eintreten. Weil es seine Aufgabe ist, nicht weil er die Tat verteidigt oder gar mit ihr sympathisiert.
Der Anwalt wird dann zum kleinlichen Buchhalter des Rechts, zum Verteidiger der Formalien. Die Strafprozessordnung ist keine andere, nur weil hier Abscheuliches verhandelt wird. Ihr muss als ein „ethisches Minimum“ (Jellinek) auch und besonders in solchen Verfahren Geltung verschafft werden.
Irgendwann kommt die Rede auf das Urinieren. Lisas Mutter bricht erneut in Tränen aus. „Warum das auch noch? Weshalb diese Demütigung“, schreit sie. Der Vorsitzende ist gereizt wegen der aufgeladenen Stimmung. Er will diesen Punkt schnell abhaken. Aber der Mandant möchte erklären, also bestehe ich auf seinem Rederecht. „Es war nicht gegen das Kind gerichtet“, sagt er dann. „Man macht das nur, damit es besser flutscht.“
Für die Mutter sicherlich kein Unterschied, für das Gericht schon. Im Urteil wird das Urinieren keine Rolle mehr spielen. Zumindest wird dieser Aspekt sich nicht strafschärfend auswirken.

Manchmal, wenn die Sitzungstage lang, aber mit häufigen Pausen durchzogen sind, verbringt man sehr viel Zeit alleine mit solch einem Täter. Dann führt man Smalltalk. Das Essen im Knast, die Bundesliga, das Wetter. Vielleicht gibt es auch etwas Lustiges zu berichten, vergisst man einen Augenblick lang, worum es hier geht und schon passiert es: Gemeinsam Lachen mit dem Monster.
Für Beobachter im Gerichtssaal unbegreiflich, für mich Erinnerung daran, dass es immer noch ein Mensch ist, neben dem ich dort auf der Anklagebank sitze. Denn nur darum geht es noch. Kein Mensch darf bloßes Objekt staatlichen Handelns werden, betont das Bundesverfassungsgericht immer wieder. Der Kinderschänder ohne Verteidiger würde genau dies.

Übrigens: Ob und wie die Persönlichkeit eines solchen Menschen gestört ist, entscheiden Gutachter. Ich werde in solchen Fällen, nur mit dem Satz konfrontiert, den die Stammtische in diesem Land als Standardausrede jedes Delinquenten verachten: „Ich hatte eine schwere Kindheit.“ Meistens höre ich das schon im ersten Termin mit ihm. Wir sprechen dann kurz darüber, damit ich verstehe, was er meint. Vater gewalttätig, Mutter Trinkerin, frühe Scheidung der Eltern, Kindheit auf der Straße, Jugend in der Gosse. Nichts Besonderes also, kein Grund für irgendeine Tat.
„Ich wog bei meiner Geburt bereits 5 Kilo, meine Kindheit war auch schwer“, sage ich dann. Anschließend reden wir nie wieder über das Thema.

Pflichtverteidigung

Was bedeutet eigentlich „Pflichtverteidigung“?

„Ich habe kein Geld, also muss der Staat mir einen Verteidiger bezahlen“, hört man hier. „Pflichtverteidiger taugen nichts, nimm Dir lieber einen richtigen Anwalt“, tönt es aus der anderen Ecke. Beide Aussagen sind falsch, egal wie oft sie wiederholt werden.
Zunächst einmal vorweg: Den Pflichtverteidiger gibt es nicht „umsonst“ oder „auf Staatskosten“. Wirst Du wegen einer Straftat verurteilt, musst Du auch die Kosten des Pflichtverteidigers zahlen. Allerdings dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, mit einem Verteidiger an Deiner Seite etwas geringer sein.
Ob der Staat Dir einen solchen beiordnet, hängt von der vorgeworfenen Straftat ab, nicht von Deinen Finanzen. Als Faustregel gilt: Ab einer Straferwartung von einem Jahr musst Du mit einem Verteidiger vor Gericht erscheinen. Kommst Du ohne, sucht das Gericht einen für Dich aus. Du darfst allerdings frei wählen, also „Deinen“ Verteidiger beiordnen lassen.

Daraus folgt zweierlei:

Mörder, Räuber, Vergewaltiger usw. können einen Pflichtverteidiger beantragen, selbst wenn sie Millionäre sind.
Ladendiebe, ebay-Betrüger, Schwarzfahrer usw. bekommen nicht schon deshalb einen Pflichtverteidiger, weil sie keine Kohle haben. Аusnahmen gibt es – wie immer bei Juristen – viele. Stehst Du bereits unter Bewährung, beschert Dir auch der halb abgenagte Muster-Lippenstift, der in der Drogerie zufällig und unbemerkt in Deine Tasche gefallen ist, einen Pflichtverteidiger.

Was leistet er nun, dieses Wunderwesen von dem irgendwann im Strafverfahren alle reden?

Nun, er macht das, was Dein Bäcker um die Ecke auch tut. Hat er Freude am Beruf und das nötige Fachwissen, dann kreiert er die absolut geniale siebenstöckige Sacher-Käse-Sahne-Schwarzwälder-Hochzeits-Kirschtorte mit Amaretto-Limettengeschmack und einem Hauch von Lebkuchen und Ingwer von der Du Dein Leben lang schwärmen wirst. Ist er hingegen völlig bocklos und wäre zudem lieber Autoschlosser geworden, backt er eben das Brötchen von vorgestern auf. Dann wird aus der Pflichtverteidigung die gefürchtete Palliativverteidigung, die bloße Urteilsbegleitung.

Freispruch oder Knast liegen gefährlich nahe beieinander. Mit dem falschen Verteidiger an Deiner Seite eliminierst Du also problemlos alle Risiken, die ein Strafprozess sonst noch so bietet und landest ebenso problemlos hinter Gittern.
Darum: Augen auf bei der Verteidigerwahl! Als Pflichtverteidiger bekommst Du sicher nicht den Besten, aber mit dem Schlechtesten musst Du Dich auch nicht zufrieden geben.

Hausdurchsuchung

Was passiert eigentlich bei einer „Hausdurchsuchung“?

Wenn der Postmann zweimal klingelt, soll dies bisweilen freudig-erregt aufgenommen werden. Ist es aber die Polizei, die hereinwill, dürften die Betroffenen andere Gedanken hegen.

„Einfach nicht öffnen“, könnte dann eine naheliegende Überlegung sein. Ein guter Rat ist das nicht, denn das Klingeln wahrt nur den Anschein der Höflichkeit. Wer die Tür nicht freiwillig öffnet, wird kurz darauf wissen, was das „Gewaltmonopol des Staates“ in der Praxis bedeutet.

Dass ein Amtsrichter die Durchsuchung vorher erlauben muss, ist heutzutage Allgemeinwissen. Betonen die Politiker doch bei jeder Verschärfung der polizeilichen Eingriffsrechte die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts. Daran ist zumindest wahr, dass in der Tat regelmäßig ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorliegt. Wie der zustande kam, soll hier vorerst nicht Thema sein.

Schlaumeier der Sorte „Google weiß Rat“ werden die Zeit, bis ihnen die eigene Haustür um die Ohren fliegt, dazu nutzen, sich schnell mit Argumenten aus dem Internet zu wappnen. Dort stoßen Sie regelmäßig auf drei angeblich äußerst nützliche Anweisungen:

1.) Prüfe den Durchsuchungsbeschluss sehr genau!

Dazu solltest Du, geneigter Leser, wissen, dass während Du – was eigentlich – prüfst, die Polizei schonmal Deine Schränke durchwühlt, Deine schriftlichen Unterlagen zerfleddert und in Deinen PC‘s nachschaut, was Du so treibst. Also lass das Prüfen, Du weißt eh nicht, worauf Du achten musst.

2.) Achte darauf, dass nur Deine Räume durchsucht werden!

Sätze wie „In diesem Zimmer wohnt nur meine Freundin“ oder „Ich habe hier nur einen Raum gemietet, den Rest des Anwesens darf nur der Vermieter betreten“ sind allenfalls dann angebracht, wenn die Durchsuchung in aller Herrgottsfrühe von einer Horde Morgenmuffel durchgeführt wird. Du verursachst damit nämlich Lachkrämpfe bei den Beamten und verbesserst die Stimmung ungemein.

3.) Verlange die Versiegelung der beschlagnahmten Papiere!

Wer das ernsthaft empfiehlt, hatte wahrscheinlich letztmals mit einer Durchsuchung zu tun, als Heinz Fischer gerade Bundespräsident wurde (das wurde er damals wirklich, allerdings in Österreich). Seither ist viel geschehen und wenn die Polizei die Erlaubnis zum Auslesen Deiner Papiere und Handys nicht gleich dabei hat, genügt ein Anruf.

Es trifft zu, dass die Durchsicht der Papiere ursprünglich mal dem Richter vorbehalten war und ab 1974 immerhin noch dem Staatsanwalt. Seit 2004 kann der Staatsanwalt diese Aufgabe aber an die Polizei delegieren und die entsprechende Vorschrift (§ 110 StPO) steht eigentlich nur noch deshalb im Gesetz, weil der Anschein erweckt werden soll, als würden Deine Persönlichkeitsrechte geschützt. Ehrlicher wäre es, den Paragraphen einfach zu streichen.

Kommen wir also zu dem, was wirklich wichtig ist:

1.) Mach keine Angaben zu gar nichts!

Klar kannst Du »Guten Morgen« wünschen und auf Nachfrage Deinen Namen sagen. Danach springe aber sofort weiter zu nachstehendem Punkt 2. Diskutiere nicht, rechtfertige Dich nicht, beantworte keine Fragen. Es mag ja sein, dass Du unschuldig bist, aber momentan glaubt Dir das leider keiner. Sonst würde Deine Wohnungstür nicht so aussehen, wie sie jetzt eben aussieht.

2.) Prüfe den Durchsuchungsbeschluss sehr genau!

Wie? Jetzt etwa doch? Ja, jetzt doch! Weil Du gleich erfährst, was Du dazu wissen musst: In jedem Durchsuchungsbeschluss steht, was gesucht wird. Zumindest sollte es dort stehen (ziemlich weit unten, kurz vor dem Ende). Wenn es sich tatsächlich um konkrete Gegenstände handelt, dann gib sie freiwillig heraus, denn damit ist die Durchsuchung erledigt. Steht da beispielsweise etwas von einer Schusswaffe, dann wird die Polizei die ohnehin finden. Also verursache nicht unnötig Probleme, notfalls leih Dir schnell eine bei Deinem Nachbarn und überreiche Sie den Beamten. Dann sind die zufrieden und ziehen ab.

Aber Vorsicht: Nicht immer sind die Durchsuchungsobjekte so genau bezeichnet, dass Du sie freiwillig herausgeben kannst. Wenn laut Durchsuchungsbeschluss einfach »Betäubungsmittel« gesucht werden, dann wird es Dir nichts nutzen, schamhaft errötet Dein Gramm Eigenbedarf auf den Tisch zu legen. Die suchen nämlich viel mehr und Du kannst nur hoffen, dass Dein Versteck gut ist (also nicht die Plastiktüte in der Klosettspülung!).

Ziemlich hoffnungslos ist Deine Situation auch, wenn der Ermittlungsrichter seine Lieblingsformulierung in den Durchsuchungsbeschluss geschrieben hat. Steht dort etwas über das »Auffinden von Beweismitteln, vor allem Unterlagen, Handys, PC´s usw.«, dann steht Dir das volle Programm bevor. Koch Dir einen Kaffee und springe zurück zu vorstehendem Punkt 1.

3.) Rufe einen Verteidiger an!

Das Recht auf einen Anwalt kann Dir niemand nehmen. Wenn der sein Geschäft versteht, wird er sich mit dem Verantwortlichen vor Ort verbinden lassen und anschließend entscheiden, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind. Das bedeutet nicht, dass er fünf Minuten später persönlich auftaucht (Hast Du schonmal darüber nachgedacht, wer das bezahlt?), aber er wird tun, was zu tun ist, um Dein Problem zu lösen.

Was das genau ist, wirst Du erfahren, wenn die Vorschussfrage geklärt ist. Bis dahin halte Dich an die obigen Ratschläge.

Opferanwalt

Was ist eigentlich ein „Opferanwalt“?

Immer wieder hört man Vorwürfe, der Strafprozess diene zu viel der Resozialisierung des Täters und zu wenig den Interessen des Opfers. Eine absurde Verdrehung der Tatsachen, denn es sind die Täter, die auf der Anklagebank sitzen und nicht selten deftige Strafen erhalten.

Natürlich gibt es bei manchen Straftaten auch Opfer, deren Interessen gewahrt werden müssen. Dies kann aber nicht zuvörderst Aufgabe eines Strafverfahrens sein. Gleichwohl macht es bisweilen Sinn, wenn auch Opfer an Prozessen teilnehmen und sich dabei anwaltlichen Beistandes bedienen. Gute Opfervertretung hat durchaus Möglichkeiten, einen Strafprozess entscheidend zu beeinflussen. Dazu benötigt der Anwalt aber zunächst einmal ein Handwerkszeug, das ihn den übrigen Prozessbeteiligten ebenbürtig macht, sprich: Erfahrungen als Strafverteidiger.

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, den Ernst zu nehmenden Opfervertreter schon sprachlich abzugrenzen vom selbst ernannten Opferanwalt, der sich eher auf das Händchenhalten oder das Taschentuchreichen versteht. Für Letzteres gibt es mittlerweile ohnehin die psychosozialen Prozessbegleiter. Dazu bedarf es keiner anwaltlichen Qualifikation.

In meinem Roman »Rheingold! Reines Gold« habe ich den Opferanwalt einmal so geschildert, wie er nicht sein sollte:

»Der Opferanwalt ist eine eher moderne Erscheinung im Strafprozess und eine seltsame Figur obendrein, weil es ihn eigentlich gar nicht gibt. Das Gesetz kennt keinen Opferanwalt.
Allerdings können Verletzte sich einem Strafverfahren als Nebenkläger anschließen und dabei auch anwaltlichen Beistand hinzuziehen. Man spricht dann vom Nebenklagevertreter. Ferner gibt es Zeugen, die bei ihrer Aussage lieber auf fachkundigen Rechtsrat bestehen. In diesen Fällen kommt der Zeugenbeistand zum Einsatz.
Kollegen, welche derartige Jobs übernehmen, titulieren sich selbst gerne als Opferanwalt. Der Unterschied zwischen einem Nebenklagevertreter oder einem Zeugenbeistand und dem Opferanwalt ist der Gesichtsausdruck während der Verhandlung. Opferanwälte schauen stets so, als seien sie persönlich das Opfer.
Beim Betreten des Gerichtssaales reichen sie der Mandantschaft meist den Arm, um ihre Rückendeckung körperlich sichtbar zu demonstrieren. Im Prozess reden sie ständig von Schmerzen und Leiden und psychischen Folgen, anstatt vernünftige Fragen oder Anträge zu stellen.
Eine bisweilen sehr eingeschränkte Qualifikation ersetzt der Opferanwalt regelmäßig durch überbordendes soziales Engagement. Sobald das Opfer bei der Zeugenaussage ein paar Tränchen verdrückt, ist er es, der das Taschentuch reicht.

Deshalb wird die Rolle des Opferanwaltes häufig von Frauen übernommen. Männer, die als Nebenklagevertreter auftreten und sich dennoch als Opferanwalt bezeichnen, sind meist nur gewissenlose Heuchler, die auf das Schmerzensgeld geiern, welches sie sich vom Opfer zu einem hohen Prozentsatz haben abtreten lassen. Sie warten nur darauf, das Opfer finanziell melken zu können. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen haben sie realisiert, dass sich die Opfervertretung nur rentiert, wenn der Täter hinterher zur Kasse gebeten werden kann.
So etwas lohnt sich vor allem, sobald Versicherungen eintreten, beispielsweise nach einer Amokfahrt oder einem Flugzeugabsturz. Da präsentieren sich sogar Verwandte dritten oder vierten Grades als Opfer, die durch den Tod des ihnen angeblich so nahe stehenden Menschen völlig den Halt verloren haben wollen, außerdem das Studium abbrechen mussten und noch drei Jahre später arbeitsunfähig sind wegen des Gedankens an längst vergessene tragische Vorfälle. Um darüber hinwegzukommen, bedarf es schon eines Schmerzensgeldes in amerikanisch-astronomischer Höhe. Ansonsten ist die Empörung sehr groß, die Entrüstung immens, gern auch die Enttäuschung ungeheuerlich.

Kurzum: Stellt man sich den Strafprozess als Gemüsegarten vor, dann sind Opferanwälte die Gurken darin.«

Rockerkriminalität

Was ist eigentlich „Rockerkriminalität“?

In der Presse wird gerne von spektakulären Razzien bei Motorradclubs berichtet. Anlass, einmal einen genaueren Blick auf die »Rockerkriminalität« zu werfen.

1. Rocker als organisierte Kriminalität

Mitte der 1980er Jahre entdeckte die deutsche Innenpolitik das Phänomen der organisierten Kriminalität als Thema. Auslöser waren Recherchen des Journalisten Dagobert Lindlau, welche dieser in seinem Buch „Der Mob – Recherchen zum organisierten Verbrechen“ (Hoffmann und Campe, 1987) zusammengefasst hatte. In dem Buch ging es ausschließlich um die Strukturen der italienischen Mafia sowie der chinesischen Triaden in Deutschland.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl regte unter dem Eindruck einer Bedrohung durch die Mafia auf einem Euro-Gipfel im Jahre 1988 die Gründung einer europäischen Polizeibehörde an. Bei den Mitgliedstaaten stieß er dabei überwiegend auf Ablehnung, weshalb zunächst ab 1993 lediglich ein „Project Team Europol“ in Den Haag installiert werden konnte. Letztlich zögerten sich die Vertragsbeschlüsse und deren Ratifizierung noch bis zum 1.7.1999 hin. Erst dann konnte ein Europäisches Polizeiamt (Euopol) offiziell seine Arbeit aufnehmen. Erster Präsident der Behörde wurde der Deutsche Jürgen Storbeck.
Diese setzte von Anfang an den Schwerpunkt auf den Einsatz der Informationstechnologie und strebte eine zentrale Datensammlung über Personen in Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität an. Hierzu wurden Fragebögen den einzelnen Mitgliedsstaaten Fragebögen übersandt, um zu eruieren, welche Probleme überhaupt bestehen könnten.
Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass insbesondere in Dänemark, teilweise auch in anderen skandinavischen Ländern ein Problem mit dem gewalttätigen Auftreten der Motorradclubs Hells Angels und Bandidos bestand. Auf diese Weise gerieten „die Rocker“ ins Visier von Europol.
Durch den Europol-Präsidenten Jürgen Storbeck wurde umgehend der Vorteil dieses Ansatzes erkannt. Die noch junge Behörde Europol stand nämlich unter Erfolgsdruck und musste erst noch beweisen, dass sie einen Beitrag zur grenzüberschreitenden Polizeiarbeit leisten konnte. Die eigentlichen Akteure der organisierten Kriminalität (Mafia, Triaden usw.) ließen sich aber nicht ohne weiteres in Dateien erfassen, weil man ein Mafia-Mitglied eben nicht an seinem Äußeren erkennt.
Ganz anders die Motorradclubs: Deren Anzahl war überschaubar, die Mitglieder für Außenstehende unschwer zu erkennen. Zudem waren sie auch noch grenzüberschreitend tätig, da sie ja weltweit organisiert sind. Der Aufbau einer Rockerdatei war darum der ideale Testfall, um die Leistungsfähigkeit von Europol unter Beweis zu stellen.
Im Ergebnis ist also die Einordnung der Rockerclubs in den Bereich der organisierten Kriminalität nur deshalb zustande gekommen, weil Europol eine Zielgruppe brauchte, um Dateien anlegen zu können. Informativ dazu ein Auszug aus einem Interview der Journalistin Ulrike Heitmüller mit dem Europol-Präsidenten Storbeck in der Biker News 7/2014, S. 17-21:
Heitmüller: „Und haben Sie etwas über Kokain rausgefunden?“
Storbeck: „Nein, aber sie (die Rocker) haben Erkenntnisse angereichert. Zum Beispiel ist ja oft die Rollenverteilung bei einer kriminellen Organisation nicht klar. Das gilt auch für Rocker. Nun arbeiten Rocker häufig nach stark vorgegebenen Strukturen, das ist historisch so bedingt. Es sind ja alles ehemalige Militärs gewesen, die das aufgebaut haben. Vorne fährt der Chef des betreffenden Chapters, rechts außen der Waffenmann, links ist der für Finanzen und so weiter. Wir haben gesammelt, wer und warum die meiste Zeit mit den anderen zusammenhängt. Daraus kann man Rückschlüsse ziehen.
Wir konnten aber nicht feststellen, ob Kokain übergeben wird.“

2. Der Vorfall von Anhausen

Am 17. März 2010 hat ein Sondereinsatzkommando der rheinland-pfälzischen Polizei versucht, in Anhausen / Westerwald unbemerkt in das Wohnhaus einer Person einzudringen, die dem MC Hells Angels zuzurechnen ist. Das SEK bestand aus schwarz vermummten Gestalten, die sich nicht als Polizisten zu erkennen gaben. Nachbarn, welche die Szene beobachteten, riefen per Notruf 110 die örtliche Polizei, weil sie von einem Einbruch ausgingen.
Der Hauseigentümer fühlte sich nachweislich schön länger von Bandidos bedroht. Als er die Aktion bemerkte, dachte er an einen Angriff von Mitgliedern des Bandidos MC. Infolge dessen nahm er eine – von ihm legal besessene – Waffe und gab zwei Schüsse auf die Tür ab. Hierbei kam ein Mitglied des SEK zu Tode.
Der 2 Strafsenat des BGH hat den Schützen mit Urteil vom 2. Nov. 2011 freigesprochen, da festgestellt werden konnte, dass dieser irrtümlich von einer Notwehrsituation ausgegangen war. In Pressemitteilungen der Polizeigewerkschaft und verschiedener Innenminister wurde das Urteil unverhohlen kritisiert. Der BGH »ermutige Schwerkriminelle zu ihrem Tun«, war von Seiten der Politik zu hören.
Seither geistert der Vorfall als »Polizistenmord« durch die Presse und wird auch in den Lageberichten der LKA´s als »Tötungsdelikt« geführt.
Der damalige Vorsitzende des 2. Strafsenats am BGH hat sich in einer Kolumne in der ZEIT (Thomas Fischer: Notwehr: Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen – Die Zeit vom 21.10.2015) unter anderem zu diesem Fall geäußert und aufgrund seiner Detailkenntnisse mitgeteilt, er halte den Vorwurf der Schwerkriminalität für abwegig, denn: »Der A war keiner. Er war nicht einmal vorbestraft. Der Vorwurf der versuchten Nötigung, der die ganze Hausdurchsuchung ausgelöst hatte, erwies sich als nicht tragfähig. Alle Waffen, die A besaß, besaß er erlaubterweise. „Bestärkung im Tun“: Was soll das heißen? Welches „Tun“ hat denn vorgelegen?«.
Und zu der öffentlichen Panikmache wegen des Vorfalls ließ derselbe Vorsitzende verlauten: »Innenminister und sonstige Klientel-Vertreter sollten, wenn sie schon keine Ahnung vom konkreten Fall und keine Legitimation zur Stellungnahme haben, ihre Nase da heraushalten und nicht versuchen, auf Kosten der Justiz ein paar Jubel-Punkte aus einer angeblichen Volksmeinung zu ergattern, die doch nur die einer eingebildeten Mehrheit ist.«

3. Bekämpfungsstrategie Rockerkriminalität – Rahmenkonzeption

Als Folge dieses Vorfalles in Anhausen hat eine Bund-Länder-Projektgruppe einen „Unterausschuss Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung“ (UA FEK) gebildet, welcher unter dem Datum 7. Oktober 2010 eine „Bekämpfungsstrategie Rockerkriminalität – Rahmenkonzeption“ vorlegte. Das Dokument wurde vom Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz mit „VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ gekennzeichnet, weshalb ich davon absehe, es hier zu verlinken.
Da die von Polizei und Politik beständig behauptete Kriminalität der „Rockerclubs“ mit Mitteln des Strafrechts offenbar nicht beweisbar ist (es gibt kaum Verurteilungen), sollten durch die „Bekämpfungsstrategie Rockerkriminalität – Rahmenkonzeption“ Mittel und Wege aufgezeigt werden, um die Mitglieder der „Rockerclubs“ ohne den Nachweis von Straftaten zu kriminalisieren.
Erörtert werden „taktisch-operative Maßnahmen“, um Rocker in jeder nur denkbaren Situation so lange Repressionen auszusetzen, bis sie aus dem Club austreten.
Vorgesehen ist, dass Einsätze „grundsätzlich mit niedriger Einschreitschwelle“ (S. 13) durchgeführt werden, denn man möchte eine „Verunsicherung der Szene“ bewirken, wozu nach Einschätzung der Berichtsverfasser „offensives und konsequentes Auftreten und Vorgehen“ (S. 16) gehören.
Daher wird eine „starke Polizeipräsenz bei Veranstaltungen mit Rockerbezug“ (S. 15) gefordert. Polizisten sind angehalten, „entschlossen zu handeln sowie alles zu vermeiden, was den Anschein von Akzeptanz oder gar Vertraulichkeit erweckt“ (S. 16). Darüber hinaus ist „die polizeiliche Distanz zum Rockermilieu durch einen angemessenen sachlichen Sprachgebrauch zu unterstreichen“ (S. 16). Generell soll den Rockern eine „enge und anlassbezogene polizeiliche Begleitung“ zuteilwerden (S. 17) und zwar durch den „vorrangigen Einsatz qualifizierter Eingreifkräfte“ (S. 16). Gemeint sind wohl SEK´s.
Die zur praktischen Umsetzung dieser Ziele geforderten Maßnahmen beinhalten eine Anleitung zur Diskriminierung und wirtschaftlichen Vernichtung unbescholtener Bürger, wie sie wahrscheinlich seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts keine deutsche Behörde mehr zu verfassen gewagt hat.
„Kontaktaufnahme und Aussprechen von Empfehlungen gegenüber Veranstaltern (z.B. bei Messen, Sportveranstaltungen) außerhalb der Rockergruppen“ (S. 16) wird ausdrücklich gefordert. Insbesondere im Sicherheitsgewerbe ist es erklärtes Ziel des Berichts, auf Veranstalter einzuwirken, damit diese keine Aufträge mehr an Rocker erteilen (S. 50).
„Bei Vor- und Einlasskontrollen“ soll „das mehrfache Durchsuchen relevanter Personen angezeigt“ sein (S. 17), was keinen anderen Zweck haben kann, als Betroffene unnötig zu schikanieren.
Die allgemeine Verkehrskontrolle nach § 36 V StVO soll zweckentfremdet werden, um „Kontrollmöglichkeiten für ganzheitlich und umfassende Maßnahmen“ (S. 22) zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sollen sogar die von Rockern verwendeten Fahrzeuge darauf überprüft werden, ob sie ganz oder teilweise entwendet wurden und ob die Zollbestimmungen bei Einfuhr dieser Fahrzeuge oder Fahrzeugteile beachtet wurden ( S. 49).
Abgehandelt wird zudem das komplette Repertoire des Eingriffsrechts (Personenkontrollen, Platzverweise, Ausschreibung zur Beobachtung, Razzien, Videoüberwachung, verdeckte Maßnahmen). Darüber hinaus soll auch auf der Basis verkehrs-, steuer-, gaststätten-, vereins- , versammlungs – und baurechtlicher Vorschriften „intensiv und niederschwellig“ vorgegangen werden (S. 42).
Unter Ziff. III.4.8. des Berichts (S. 21) wird sogar allen Ernstes angeregt, alle Rocker nicht nur erkennungsdienstlich zu behandeln, sondern auch ihre DNA zu erfassen. Es fehlt nur noch der Aufruf „Kauft nicht bei Rockern“
Bezüglich der Bewertung der Rocker kann der Berichtsverfasser offenbar nicht verstehen, dass es in diesem Lande einen Meinungspluralismus gibt. „Die Erfahrungen bei der Bekämpfung der Rockerkriminalität haben aber auch gezeigt, dass gleiche Sachverhalte sowohl auf polizeilicher, als auch auf justizieller bzw. ordnungsbehördlicher Seite durch die zuständigen Behörden mitunter unterschiedlich bewältigt bzw. sanktioniert werden“ (S. 17), stellt er etwas enttäuscht fest.
Darum wird der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eine „zentrale Bedeutung“ (S. 8) beigemessen, was konkret besagt, dass die Polizei die Hoheit über eine gleichgeschaltete öffentliche Meinung erlangen will. Gewährleistet werden soll dies durch eine „einsatzbegleitende und anlassunabhängige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“, welche „ausgewogen die subjektive Sicherheitslage“ berücksichtigen soll. Man möchte also nicht mehr objektiv über konkrete Einsätze berichten, sondern im Stile der Springer – Presse manipulativ auf die Öffentlichkeit einwirken.
Um die Gleichschaltung gegen die bemängelte unterschiedliche Bewältigung rockerspezifischer Sachverhalte noch weiter voranzutreiben, nennt der Bericht als weiteres bedeutendes Ziel die „Information und Beratung der Politik … insbesondere im Hinblick auf Rechtsfortentwicklung“ (S. 7). Mit anderen Worten: Die Exekutive hat beschlossen, der Legislative (und sogar der Judikative?) künftig zu erklären, wie diese ihre Arbeit zu erledigen hat.
Dies führt zu absurden Konsequenzen: Am Karfreitag 2015 ist von einem Campingplatz in Rheinland-Pfalz ein Kleinkind in einen hochwasserführenden Bach gefallen und wurde abgetrieben. Der Bach passierte etwa einen halben Kilometer später das Clubhaus eines Rockerclubs. Die dort anwesenden Clubmitglieder sind unter Einsatz des eigenen Lebens in den Bach gesprungen und haben das Kind herausgeholt und wiederbelebt (es starb leider später im Krankenhaus). Die darüber verfassten Presseberichte der lokalen Zeitung führten zu einem Einwirken der örtlichen Polizei auf die Lokalpresse. Es sollte verhindert werden, dass über Mitglieder eines Rockerclubs positiv berichtet wird.
Wer also demnächst wieder die Berichte über Razzien liest, sollte sich einmal ernsthaft darüber Gedanken machen, von wem und zu welchem Zweck solche Berichte lanciert werden.