Opferanwalt

Was ist eigentlich ein „Opferanwalt“?

Immer wieder hört man Vorwürfe, der Strafprozess diene zu viel der Resozialisierung des Täters und zu wenig den Interessen des Opfers. Eine absurde Verdrehung der Tatsachen, denn es sind die Täter, die auf der Anklagebank sitzen und nicht selten deftige Strafen erhalten.

Natürlich gibt es bei manchen Straftaten auch Opfer, deren Interessen gewahrt werden müssen. Dies kann aber nicht zuvörderst Aufgabe eines Strafverfahrens sein. Gleichwohl macht es bisweilen Sinn, wenn auch Opfer an Prozessen teilnehmen und sich dabei anwaltlichen Beistandes bedienen. Gute Opfervertretung hat durchaus Möglichkeiten, einen Strafprozess entscheidend zu beeinflussen. Dazu benötigt der Anwalt aber zunächst einmal ein Handwerkszeug, das ihn den übrigen Prozessbeteiligten ebenbürtig macht, sprich: Erfahrungen als Strafverteidiger.

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, den Ernst zu nehmenden Opfervertreter schon sprachlich abzugrenzen vom selbst ernannten Opferanwalt, der sich eher auf das Händchenhalten oder das Taschentuchreichen versteht. Für Letzteres gibt es mittlerweile ohnehin die psychosozialen Prozessbegleiter. Dazu bedarf es keiner anwaltlichen Qualifikation.

In meinem Roman »Rheingold! Reines Gold« habe ich den Opferanwalt einmal so geschildert, wie er nicht sein sollte:

»Der Opferanwalt ist eine eher moderne Erscheinung im Strafprozess und eine seltsame Figur obendrein, weil es ihn eigentlich gar nicht gibt. Das Gesetz kennt keinen Opferanwalt.
Allerdings können Verletzte sich einem Strafverfahren als Nebenkläger anschließen und dabei auch anwaltlichen Beistand hinzuziehen. Man spricht dann vom Nebenklagevertreter. Ferner gibt es Zeugen, die bei ihrer Aussage lieber auf fachkundigen Rechtsrat bestehen. In diesen Fällen kommt der Zeugenbeistand zum Einsatz.
Kollegen, welche derartige Jobs übernehmen, titulieren sich selbst gerne als Opferanwalt. Der Unterschied zwischen einem Nebenklagevertreter oder einem Zeugenbeistand und dem Opferanwalt ist der Gesichtsausdruck während der Verhandlung. Opferanwälte schauen stets so, als seien sie persönlich das Opfer.
Beim Betreten des Gerichtssaales reichen sie der Mandantschaft meist den Arm, um ihre Rückendeckung körperlich sichtbar zu demonstrieren. Im Prozess reden sie ständig von Schmerzen und Leiden und psychischen Folgen, anstatt vernünftige Fragen oder Anträge zu stellen.
Eine bisweilen sehr eingeschränkte Qualifikation ersetzt der Opferanwalt regelmäßig durch überbordendes soziales Engagement. Sobald das Opfer bei der Zeugenaussage ein paar Tränchen verdrückt, ist er es, der das Taschentuch reicht.

Deshalb wird die Rolle des Opferanwaltes häufig von Frauen übernommen. Männer, die als Nebenklagevertreter auftreten und sich dennoch als Opferanwalt bezeichnen, sind meist nur gewissenlose Heuchler, die auf das Schmerzensgeld geiern, welches sie sich vom Opfer zu einem hohen Prozentsatz haben abtreten lassen. Sie warten nur darauf, das Opfer finanziell melken zu können. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen haben sie realisiert, dass sich die Opfervertretung nur rentiert, wenn der Täter hinterher zur Kasse gebeten werden kann.
So etwas lohnt sich vor allem, sobald Versicherungen eintreten, beispielsweise nach einer Amokfahrt oder einem Flugzeugabsturz. Da präsentieren sich sogar Verwandte dritten oder vierten Grades als Opfer, die durch den Tod des ihnen angeblich so nahe stehenden Menschen völlig den Halt verloren haben wollen, außerdem das Studium abbrechen mussten und noch drei Jahre später arbeitsunfähig sind wegen des Gedankens an längst vergessene tragische Vorfälle. Um darüber hinwegzukommen, bedarf es schon eines Schmerzensgeldes in amerikanisch-astronomischer Höhe. Ansonsten ist die Empörung sehr groß, die Entrüstung immens, gern auch die Enttäuschung ungeheuerlich.

Kurzum: Stellt man sich den Strafprozess als Gemüsegarten vor, dann sind Opferanwälte die Gurken darin.«

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