Blinddarm der Justiz

Im Neuen Justizzentrum Koblenz läuft derzeit (Ende Juli 2025) ein Prozess mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen: Taschen- und Personenkontrollen. Nach Intervention des Anwaltvereins und der Anwaltskammer konnte erreicht werden, dass mit Anwaltsausweis verifizoerte Kollegen nicht leibesvisitiert werden. Die Taschenkontrollen bleiben!

Zur Stellung des Rechtsanwaltes im System der Rechtspflege normiert § 1 BRAO: Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. – Aber was für ein Organ sind wir in den Augen der Justiz?

Ich erfahre die Anwendung dieses Grundsatzes eigentlich nur, wenn es um Repression geht: „Diese Äußerung war unpassend und ist eines Organs der Rechtspflege nicht würdig.“ – „Diese Akte dürfen Sie Ihrem Mandanten nicht zeigen – und ich weise darauf hin, dass Sie ein Organ der Rechtspflege sind“ … usw. 

Aber dass ich als Organ der Rechtspflege Schußwaffen oder Handgranaten in der Aktentasche mitführe, unterstellt man mir bedenkenlos. Ich danke nicht für das fehlende Vertrauen, unter dem ich sehr leide. Denn wenn ich meinen C-4-Plastiksprengstoff nicht mehr in der Aktentasche transportieren kann, muss ich ihn in der Unterhose ins Gericht schmuggeln. Und das verursacht unangenehmen Juckreiz.

Du nix Geld?

Wer auf dem Land aufgewachsen ist, kennt noch die Zeiten, als Italiener, Spanier, Portugiesen, dann Türken und zuletzt Polen „Gastarbeiter“ genannt, aber nicht wie Gäste behandelt, sondern zu primitiven Bedingungen in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Von Gastarbeitern hatte man sich grundsätzlich fernzuhalten, der Kontakt mit ihnen beschränkte sich auf das Herumkommandieren, wozu es eine eigene Sprache gab, deren Hauptmerkmal der Infinitiv war: Du machen dort sauber. Du räumen das weg. Du stellen keine Fragen. Wozu konjugieren, wenns auch einfacher geht?

Etwa zur gleichen Zeit – Anfang der 1980er Jahre – hat der Gesetzgeber den Begriff „Armenrecht“ als diskriminierend oder zumindest veraltet angesehen und ihn durch „Prozesskostenhilfe“ ersetzt. Klingt weniger abwertend, klingt moderner, klingt menschenwürdiger.

Die Justiz, vor der angeblich alle Menschen gleich sind, neigt allerdings zum Konservieren. Sie hat ihre Abläufe seit wem Kaiserreich kaum verändert, weshalb in Justitias heiligen Hallen mitunter Fossile der Rechtsgeschichte wandeln. Eines davon ist zu finden am Amtsgericht Bingen am Rhein. Es vereint das verstaubte Armenrecht mit der damals gepflegten Gastarbeitersprache. Ich vermute, es ist das am wenigsten in Anspruch genommene Formular Deutschlands. Oder würdest Du, geneigter Leser, dort zugreifen?

Der Dreiviertel-Rechtsstaat

Die Habsburgermonarchie ist bekanntlich walzertanzend in den Abgrund gerauscht. Trudelnd im Dreivierteltakt.
Den Deutschen liegt eher der Marschrhythmus, der einen geraden Takt voraussetzt, also 4/4, 2/4, 2/2 oder auch 6/8, wobei letzterer vielleicht rechnerisch wie ein doppelter 3/4-Takt erscheint, tatsächlich aber nicht walzertanzbar ist.
Immer wenn die Deutschen zu stramm marschieren, geraten sie regelmäßig aus dem Takt, so wie es derzeit wieder den Anschein hat. Denn unser Rechtsstaat läuft nur noch auf dreien von vier Zylindern, was ich aus profundem Munde zu berichten weiß.
Anfang Juni fand in Berlin der Deutsche Anwaltstag 2025 statt, bei dem – so etwas habe ich noch nicht erlebt – die neue Bundesjustizministerin das obligatorische Grußwort schwänzte und eine Staatsekretärin schickte. Nicht nur eine Stil- sondern auch eine Respektlosigkeit gegenüber der Anwaltschaft.
Nach der formellen Eröffnung, die – man hätte es ahnen können – auch ohne Bundesjustizministerin eine gelungene Veranstaltung war, folgte eine Podiumsdiskussion, u.a. mit dem vormaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der auf die Frage nach der Qualität unseres Rechtsstaates antwortete: „Auf einer Skala von 1-10 etwa 7-8.“
Das klingt zunächst einmal nach einem hohen Wert, es sind aber lediglich noch drei Viertel des Ganzen und für mich ist dies schockierend.
Wenn ein Elefant lediglich drei Beine hat, fehlt ihm anscheinend nur eines zur vollen Stärke. Verliert er dann jedoch ein weiters, fällt er zwingend um. Das macht die Dreiviertel so gefährlich: Sie suggerieren fast ein Ganzes zu sein, sind aber bereits nah am Zusammenbruch.
Wenn wir noch ein paar Pünktchen verlieren und auf der Skala bei 5 von 10 landen, bedeutete dies zur Hälfte waltende Willkür. Dann ist der Rechtsstaat praktisch schon gestorben.
Der Grund, warum dies nur wenige besorgt, ist eine gefährliche Umdeutung dessen, was Rechtsstaat bedeutet. Entstanden und richtig verstanden ist dieser Begriff der Antagonist zum Polizeistaat. In diesem Sinne wurde auch unser Grundgesetz geschrieben, das Freiheitsrechte immer als Abwehrrechte gegen den übergriffigen Staat begreift. Konservative Politiker trachten allerdings danach, der liberalen Gesellschaft ihren Rechtsstaat zu stehlen und ihn wider diese einzusetzen. Wenn sie gegen Bürger die „volle Härte des Rechtsstaates“ fordern, den Sicherheitsbehörden immer mehr Eingriffsmöglichkeit geben wollen, um „den Rechtsstaat zu verteidigen“, dann dient das nur der Chimäre eines Rechtsstaates, tatsächlich aber exakt jenem Polizeistaat, gegen den der freiheitliche Rechtsstaat durch Aufklärung und Revolutionen installiert wurde.
So besehen gibt es in diesem Land zwei Rechtsstaaten, die einander bekämpfen. Wenn dir, geneigter Leser, ein Politiker versichert, wie konsequent er für den Rechtsstaat eintritt, so achte auf den Takt: Der Chimäre will stramm stets marschieren. Der echte Rechtsstaat tanzt am Abgrund Walzer. Trudelnd im Dreivierteltakt.

Grenztheater

Einige Jährchen war es still in diesem Blog. Ich war – neben dem Beruf – mit zwei neuen Romanen beschäftigt. Mittlerweile sind der »Blutwingert« (2022) und das »Rebfeuer« (2024) erschienen; ich kann mich wieder dem Bloggen zuwenden.
Eine neue Regierung haben wir auch, die ich direkt anvisiere wegen ihres Lieblingsthemas: Zurückweisung. Das meint nicht, Abgeordnete mit Baskenmütze oder Palestina-Shirt aus dem Bundestag zu werfen, es meint die rechtswidrige, die grundgesetzwidrige, die menschenrechtswidrige Praxis, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen und sie gar nicht erst ins Land zu lassen.
Das VG Berlin (Beschl. v. 2.6.2025 – VG 6 L 191/25) hat sich kürzlich dazu geäußert und diese Praxis abgewatscht. Mit juristischen Argumenten, die ahnen lassen: Da hat ein Gericht die Materie tief durchdrungen. Jedes Argument ist belegt mit ober- und höchstrichterlicher Rechtsprechung, jeder denkbare Einwand aufgespießt und sauber widerlegt. Sollte dich, geneigter Leser,das Thema wirklich interessieren, dann gönn dir die Lektüre des Beschlusses. Besonders peinlich für die Regierung: Den angeblichen »Notstand«, diesen Beelzebub der Verfassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, kann das Gericht nicht ansatzweise erkennen!
Die Konsequenzen könnten bis zur Strafverfolgung aller an Zurückweisungen beteiligten Polizisten gehen. Aber der verantwortliche Minister setzt nun (von Fachkreisen dafür verlacht) auf das Hauptsacheverfahren und die höheren Instanzen. Heißt vordergründig: Die kompetent und profund begründete Entscheidung eines deutschen Gerichts interessiert mich nicht. Viel schlimmer ist aber, was dahinter steckt, nämlich: Meine Maxime ist politischer Korpsgeist, entgegenstehendes Recht bin ich jederzeit zu brechen bereit!
Hat solch ein Innenminister Anspruch darauf, »Verfassungsminister« genannt zu werden? Ich habe diesen Begriff in Zusammenhang mit Dobrindt noch nicht gehört. Die Bevölkerung, die Presse und sogar die Politik selbst werden wissen warum.

Angriff der Handyknacker

Was ist eigentlich eine „Polizeitaste“?

Es sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. »Nemo tenetur se ipsum accusare« nennt der kundige Jurist dies oder auch »Selbstbelastungsfreiheit«, »Aussagefreiheit« oder schlicht »Schweigerecht«.
Für die Polizei ist das ärgerlich, denn das professionelle Knacken eines modernen Handys durch spezielle Dienstleister kostet mehrere tausend Euro – ohne dass mein weiß, ob sich die Investition lohnt. Ältere Handys kann das LKA zwar selbst knacken, allerdings sind die so überlastet, dass die Dinger dort wenigstens ein Jahr herumliegen. Ein Strafverteidiger, der sein Geschäft versteht, wird schon nach einem halben Jahr die gerichtliche Freigabe des Handys erwirken – ungeknackt selbstverständlich.
Leider hat die moderne Technik nun so etwas wie Fingerabdruckscanner oder Gesichtscanner in die Handys eingebaut. Das weckt polizeiliche Begehrlichkeiten. Man könnte ja mal den Finger eines Verdächtigen gewaltsam auf das Handy drücken oder ihn zwingen, in das Display zu schauen. Schon erlangt man Zugriff auf die kompletten Handydaten.
Derartige Methoden verstoßen natürlich gegen den nemo-tenetur-Grundsatz, daher werden sie bisher nur angewendet, wo es ohnehin nicht zimperlich zugeht: Bei Einsätzen im Rockermilieu oder bei Hooligans. Deren Rechte werden traditionell missachtet, deshalb fällt ein Gesetzesverstoß mehr oder weniger dort kaum ins Gewicht.
Übereifrige Staatsanwälte weisen die Polizei allerdings zunehmend an, das Recht zu brechen und die Datenfreigabe zu erzwingen. Ein Trend zeichnet sich ab. Erfahrungsgemäß pendeln die Gerichte dann erstmal hin und her. Manche nicken solche Methoden ab, andere weigern sich, derart erlangte Beweise zur Kenntnis zu nehmen. Bis das BVerfG sich in etwa zehn Jahren dazu äußert, leben wir also in einer Grauzone.
Und da kommt die Polizeitaste ins Spiel!
Falls du ein Handy mit der Software IOS 11 oder höher nutzt, kannst du durch schnelles fünfmaliges Drücken der seitlichen Ein-/Austaste Fingerabdruck- und Gesichtsscanner deaktivieren. Das sollte dir, geneigter Leser, auch bei einem überraschenden Polizeieinsatz noch gelingen. Fünfmal schnelles Drücken auf die seitliche Ein-/Austaste. Nicht dreimal, nicht viermal. Fünfmal!
Falls du Handys mit anderer Software nutzt, bleiben dir zum Schutz deiner Daten nur die klassischen Methoden: Augen fest zupetzen, die Hand zur Faust ballen und bloß nicht aufgeben! Denn was ist schon ein gebrochener Finger gegen den polizeilichen Vollzugriff auf deine mobilen Daten.

Update 2025:

Als hätte ich es geahnt, hat der BGH mit Beschluss vom 13.3.2025 diese Praxis abgesegnet – jedenfalls dann, wenn eine Durchsuchungsbeschluss vorliegt und jedenfalls dann, wenn die richterlich angeordnete Durchsuchung gerade auch dem Auffinden von Mobiltelefonen dient. Aber machen wir uns nichts vor: Bald wird es Ausnahmen geben bei Gefahr im Verzug, dann bei besonders schweren Taten usw. – bis dieses Vorgehen eben zum Standardrepertoire der Polizei gehört. Denn das hat der BGH in einem obiter dictum (also ohne dass es wirklich erforderlich war) gleich mitentschieden: Ein Beweisverwertungsverbot lehnt er apodiktisch ab!

Die Füße im Feuer

Was ist eigentlich eine „Teileinlassung“?

Ein Teil von Etwas ist immer weniger als das Ganze. Was aber grundsätzlich unvollkommen klingt, kann manchmal durchaus sinnvoll sein. Wer möchte schon eine komplette Schwarzwälder Kirschtorte essen müssen? Bei Geschichten ist das ähnlich. Manche stellen erst zufrieden, wenn man sie in Gänze kennt. Andere regen gerade durch ihre Lückenhaftigkeit zum Nachdenken an, reizen zum Tüfteln an selbsterdachten Lösungen.
Wie komme ich nun vom Geschichtenerzählen zum Strafprozess? Ach ja: Jede strafrechtliche Hauptverhandlung beginnt mit einer Geschichte, einer teils frei erfundenen, manchmal auch die Wahrheit streifenden Erzählung. Juristen nennen dies die Anklage. Dagegen können der Angeklagte oder der Verteidiger eine andere Geschichte präsentieren. Oder es lassen. Oder einen Mittelweg wählen, also dem Gericht etwas mitteilen, das zum Nachdenken über die Anklage anregt.
Bist du, geneigter Leser, nach einem nicht nur verbalen Disput einer Körperverletzung angeklagt, könntest du ja einfach mal berichten, dass nicht nur das angebliche Opfer ein Veilchen davontrug, sondern dir auch ein Zahn ausgeschlagen wurde. Das nennt man eine Teileinlassung, also eine Geschichte, die nur einzelne Punkte des Geschehens beleuchtet. Verständige Richter werden aus solch rudimentären Schilderungen interessante Schlüsse ziehen und bei der weiteren Beweisaufnahme erhellende Momente erleben. Weil ihr Ehrgeiz, ihr detektivisches Gespür geweckt wurde.
Leider sind die Richter ganz oben, beim höchsten Strafgericht, weit davon entfernt, sich mit einem einzelnen Kuchenstück zufrieden zu geben. Sie wollen die ganze Torte! Das hat sie träge gemacht, weshalb sie die prozesstaktisch eigentlich sehr nützliche Teileinlassung zu einem gefährlichen Harakiri-Schwert umfunktioniert haben. Für die roten Roben bedeutet Teileinlassung nämlich immer auch Teilschweigen. Und wer etwas verschweigt, hat nach landläufiger Meinung etwas zu verbergen.
Dem Angeklagten wurde dadurch ein hocheffektives Verteidigungsmittel leider genommen. Ihm geht es nun wie des Hugenotten Weib in C.F. Meyers berühmter Ballade: Gestehen oder Schweigen sind seine einzigen Möglichkeiten. Denn da die Justiz an der Front immerzu nach oben schaut, von wo ihr erklärt wird, was sie zu tun hat, wurde der Spürsinn im strafprozessualen Tagesgeschäft höchstrichterlich abgewürgt.
Heutzutage gilt: Wer nicht Alles sagt, der lügt. Oder in Kirschtorten gedacht: Wer ein Stück für sich behält, der … Ja, was eigentlich?
Wir lernen: Ein Stück Schwarzwälder Kirsch regt Gerichte mehr zum Nachdenken an als die Teileinlassung eines Angeklagten.

Verkehrs- und Justizrüpel

Wozu dient eigentlich eine „Einlassung“?

Geht es um die täglichen Verstöße im Straßenverkehr, kann ich meistens vorhersagen, wie es dazu kam. Der Raser hatte Magenverstimmung und suchte dringend ein stilles Örtchen – mit 90 Km/h in der Spielstraße vor einem Kindergarten. Der Drängler hat gar nicht selbst gedrängelt, sondern wurde gedrängelt, ja genötigt, zu nah aufzufahren. Die rote Ampel wurde nur deshalb übersehen, weil man schon zehn Jahre lang nicht mehr in der Nachbarstadt und daher völlig orientierungslos war. Die Alkoholfahne kam vom Sektumtrunk im Betrieb – stundenlang her und danach richtig gut gegessen. Das Handy war gar nicht am Ohr, sondern rutschte auf der Konsole umher, weshalb man es nur umlegen wollte. Das unangeschnallte Kind auf der Rückbank hat sich just vor der Kontrolle plötzlich selbst abgeschnallt … usw.

Ebenso routiniert wie diese Ausreden sind die Reaktionen der Bußgeldrichter, die speziell bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr nicht die geringste Lust haben, freizusprechen. Daher senden sie nach Eingang der Akte – meiner Meinung nach noch bevor sie diese gelesen haben – zunächst ein Formblatt: „Es wird empfohlen, den Einspruch zurückzunehmen, da der Bußgeldbescheid nach vorläufiger Prüfung zutreffend sein dürfte. Außerdem kommt Vorsatz in Betracht, weshalb mit einer Verdoppelung des Bußgeldes zu rechnen ist.“ Wenn der Verteidiger jetzt nicht zitternd vor Angst den beabsichtigten Kotau macht, folgt die nächste Nebelkerze: „Es wird gebeten, binnen zwei Wochen mitzuteilen, was eingewendet werden soll.“ Spätestens jetzt will der Mandant unbedingt, dass man seine Diarrhö zur Tatzeit wortreich schildert.

Warum dies ein Fehler ist, möchte ich Dir, geneigter Leser, an zwei Beispielen erläutern. Dazu stellen wir uns einen LKW-Fahrer vor, der auf der Autobahn ein Überholverbot übersieht und den Truck vor ihm überholt, um nicht bergauf an Schwung zu verlieren. Standardausrede: Der vor mir wurde plötzlich immer langsamer und ich dachte, der hat ein Panne und bleibt stehen.

Wenn ich dies dem Gericht vorab mitteile, also die gewünschte Einlassung abgebe, ist noch wenigstens ein Monat Zeit bis zum Termin. Irgendwann in dieser Zeit tauchen die Polizisten, welche den Vorfall gesehen haben wollen, in anderer Sache als Zeugen beim Gericht auf. Man kennt sich, man unterhält sich unverbindlich und im Termin des LKW-Fahrers höre ich folgende Aussage: „Der LKW überholte, obwohl der Laster vor ihm ganz normal weiterfuhr. Ich kann ausschließen, dass der Vordermann verlangsamte.“

Ist dies eine normale Aussage? Nein, natürlich nicht, denn das fehlende Langsamerwerden des Vorausfahrenden würde ein unvorbereiteter Zeuge allenfalls auf Nachfrage aussagen, niemals aber von sich aus. Die Chance besteht nun in der Vernehmung des zweiten Polizeizeugen, denn wenn der ähnlich merkwürdig aussagt, besteht wenigstens das Indiz einer Absprache. Aber: Der zweite Polizist ist in Bußgeldsachen regelmäßig verhindert.Seine Ladung zu einem neuen Termin kann man zwar beantragen, das Gericht wird dies aber als „zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich“ ablehnen. Chance auf Freispruch? Keine!

Betrachten wir die gleiche Situation bei einem Richter, der unvorbereitet von dem langsamer werdenden LKW erfährt. Was ändert sich? Zunächst einmal wird der Polizist nicht ungefragt kategorisch ausschließen, dass es eine Panne beim Vorausfahrenden gab, denn er weiß ja nichts von dieser Einlassung. Der Richter wird daher soufflieren: „Der Betroffene hat behauptet, dass …“. An dieser Stelle muss der Verteidiger auf Zack sein und eine derartige Suggestivbefragung verhindern. Das kann ruppig werden, aber so ist das eben in diesem Beruf. Am Ende stellt sich mit viel Glück heraus, dass der Polizeizeuge sich an den Monate zurückliegenden Vorgang nicht konkret erinnern und das Langsamerwerden nicht ausschließen kann. Oder positiv formuliert: Es ist möglich, dass der vorausfahrende LKW eine Panne hatte und der nachfolgende LKW-Fahrer daher trotz Überholverbot überholen musste!

Chance auf Freispruch? Ebenfalls keine! – Denn das Gericht wird nun plötzlich den zweiten Polizisten für „zur Erforschung der Wahrheit dringend erforderlich“ halten und einen neuen Termin zur Vernehmung dieses Zeugen bestimmen. Was der sagt, kann man sich denken, denn anders als sein Kollege kann er sich noch ganz genau an den Vorfall erinnern. Und er wird ausschließen, dass da ein LKW stark verlangsamte.

Milchbubi in Haft

Wie funktioniert eigentlich eine „Beweisführung“?

Peter war ein bescheidener Rentner mit wenig Ansprüchen an das Leben. Gegen Abend suchte er regelmäßig seine Stammkneipe auf und trank am Tresen ein paar Bier. Damit war er zufrieden. Bis auf jenen Abend, an dem ein Fremder in Peters Stammkneipe feierte. Der war „nicht von hier“, sondern aus dem Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer flussaufwärts. Er wollte einen draufmachen und das tat er: Lautstark, grölend, großkotzig. Peter fühlte sich gestört. „Geht das auch ein bisschen leiser?“, fragte er. Sonst nichts. Aber für den Fremden war das ein Satz zu viel.

Wenig später wollte Peter nach Hause gehen. Er verließ die Stammkneipe, zündet sich eine Zigarette an und atmete tief durch in der kalten, klaren Nacht. Dann trafen ihn drei Messerstiche von hinten im Brustkorb. Der Täter flüchtete, aufmerksame Passanten riefen den Notarzt. Peter überlebte.

Mordversuch nennt Peter das noch heute. Aus Gründen, die sich hinter Begriffen wie „freiwilliger Rücktritt“ verbergen, nennen Juristen eine solche Tat nur gefährliche Körperverletzung. Es ist keine sonderliche Verteidigerkunst, solche Täter mit einer Bewährungsstrafe aus der Sache heraus zu holen. Mein Mandant war allerdings nicht der Täter, sondern Peter, für den ich das Maximum erstreiten wollte. Daher begab ich mich in das Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer Fluss aufwärts. Meine Vorstellung von Strafrecht war damals geprägt durch die Filmindustrie und ich dachte ernsthaft, ein guter Anwalt müsse ermitteln wie ein Privatdetektiv. Also fragte ich mich durch die Kneipen bis ich wusste, wo ich den Täter finden würde. Eines Abends saß er mir tatsächlich am Tresen gegenüber: Lautstark, grölend, großkotzig.

Von Beruf war er Kraftfahrer, weshalb er immer ein 0,4-Liter-Glas H-Milch neben seinen zahlreichen Drinks stehen hatte. Das würde „den Atem reinigen“, verkündete er permanent. Ich beobachtete und machte Notizen.

Im Prozess kam das zu erwartende Repertoire: Völlig alkoholungewohnt, immer nur am arbeiten, ein einziges Mal Party gemacht, ausnahmsweise über die Stränge geschlagen, nicht mehr Herr seiner Sinne … Der Psychogutachter nickte zustimmend, bis das Fragerecht an mich ging. Ich wusste, dass der Täter meine Fragen nicht einmal beantworten musste, weshalb ich uns jedes Taktieren ersparte und gleich auf den Punkt kam: „Weshalb trinken Sie bei ihren Sauftouren eigentlich immer ein Glas H-Milch?“

Der Angeklagte erbleichte, der Verteidiger reagierte falsch: „Was soll diese Frage?“ Ich berichtete von meinem Kneipenbesuch, der Gutachter zog einen langen Querstrich durch seine Notizen, das Gericht schaute den Angeklagten grimmig an. Am Ende bekam er keine Bewährung. Ein schöner Erfolg, aber wie wäre dieser Fall ohne das Glas Milch ausgegangen?

Strafverteidigung ohne eigene Ermittlungsergebnisse ist darauf beschränkt, die Beweisführung der Staatsanwaltschaft zu torpedieren. Dies geschieht durch Beweisanträge, deren Formulierung durchaus Kunstfertigkeit erfordert. Zusätzlich sollte man Beweisverwertungsverbote erkennen und effektiv rügen können. Und man muss wissen, worauf es bei Rechtsmitteln ankommt. Denn oft kann der Strafprozess in erster Instanz gar nicht gewonnen werden. Beim schuldigen Mandanten ist die Verurteilung schließlich per se kein falsches Urteil. Sie kann allerdings ein Fehlurteil sein. Darauf zielt Verteidigung dann ab.

Auf der Verteidigerbank im Gerichtssaal sitzt idealerweise eine gespaltene Persönlichkeit. Die eine stellt Fragen oder Anträge. Die andere beobachtet den Prozess wie ein Zuschauer, bewertet das Verfahren permanent aus der Sicht einer höheren Instanz und schafft die Grundlagen für erfolgreiche Rechtsmittel. Das kann richtig Spaß machen. Ich zerbreche mir vor einer Verhandlung oft stundenlang den Kopf darüber, wann und wie ich einen Bauern auf dem Schachbrett des Strafprozesses bewege. Reagiert die Gegenseite darauf mit einer geschickten Rochade, ringt mir dies sogar Anerkennung ab. Clevere Winkelzüge, facettenreiche Taktik und geistreiche Scharmützel faszinieren mich – selbst wenn der Mandant dafür in den Knast wandert.

Doch wie, so magst Du, geneigter Leser, Dich fragen, wie findet der Strafverteidiger das streitentscheidende Glas Milch?

Ich bin unentwegt davon überzeugt, dass die eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers (vergleiche dazu auch => hier) einer der wenigen Schlüssel zum Erfolg ist. Aber diese Arbeit können nur junge unterbeschäftigte Anwälte leisten. Irgendwann muss man sich als Strafverteidiger von Hollywood verabschieden, denn dafür braucht es Mandanten, die solche Arbeit angemessen vergüten. Tun sie leider nicht, weshalb hervorragende Verteidigungsansätze oftmals nicht genutzt werden.

Würde Peter heute nochmals niedergestochen, bekäme der Täter Bewährung.

Costa Concordia

Was ist eigentlich eine „Garantenstellung“?

Heute vor 10 Jahren sank die „Costa Concordia“, wodurch ein Mann auf traurige Weise berühmt wurde: Kapitän Schettino. Was hat er getan? Nun, er verließ ein havariertes Schiff nicht als Letzter. In Italien ist dies ein Gesetzesverstoß, in Deutschland gibt es kein entsprechendes Gesetz, da gehört es zum Ehrenkodex des Kapitäns mit seinem Kahn notfalls abzusaufen.

Viele sind in jener Nacht ebenfalls von der Costa Concordia geflohen, mit Rettungsbooten oder frei schwimmend. Niemand macht ihnen deshalb einen Vorwurf. Nur Schettino wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt, denn er hatte gegen ein Gesetz verstoßen. Aber wie hätte ein deutscher Richter einen Gesetzesverstoß feststellt, wenn es gar keine gesetzliche Pflicht gibt, in einer bestimmten Weise zu handeln?

Ganz einfach: Er wäre umgekehrt an die Sache herangegangen. Anstatt wie der italienische Strafrichter einfach feststellen, dass Schettino das Schiff gesetzeswidrig verlassen hat, fragt sein deutscher Kollege: Musste Schettino auf dem Schiff bleiben? Und diese Pflicht des Kapitäns, sein Schiff nur als Letzter zu verlassen, nennt er nicht „Ehre“ oder „Verantwortung“, denn er ist ja Jurist mit eigener Fachsprache, darum redet er von der Garantenstellung.

In der Praxis ist die Gefahr, etwas nicht zu tun, was ein Richter hinterher erwartet hätte, größer als gemeinhin vermutet.

Musst Du einen Betrunkenen, der in eigenen Exkrementen kollabiert in der Gosse liegt, Mund-zu-Mund beatmen? Darfst Du einfach weggucken, wenn Dein Mitbewohner Drogen abwiegt und in Tütchen verpackt? Wen musst Du zuerst retten, wenn die heimliche Geliebte und die getrennt lebende Ehefrau mit Autos frontal aufeinanderprallen? Wenn zwei Diebe, die gemeinsam einbrechen füreinander verantwortlich sind, gilt das dann auch für zwei Flüchtlinge, die illegal einreisen? Wie oft musst Du den Lebensmüden, der es immer wieder versucht, vom Seil schneiden? Ist ein Grundeigentümer, auf dessen Acker von Dritten illegal Müll abgelagert wird, für die Müllkippe verantwortlich?

Das Zauberwort, mit dem über Deine Strafbarkeit entschieden wird, lautet in all diesen Fällen: Garantenpflicht. Und niemand sagt Dir vorher, wie der Richter diese hinterher beurteilt. Sicher ist nur, dass an Richterkollegen, Staatsanwälte und Polizisten großzügigere Maßstäbe angelegt werden, als an den Rest der Welt.

Wann immer Du, geneigter Leser, ein flaues Gefühl im Magen verspürst und Dich fragst, ob Du etwas lieber tun oder unterlassen solltest, dann stell Dir einfach vor, Du seiest Kapitän Schettino. Dein Schiff wurde gerade von einem Felsen aufgeschlitzt, neigt sich bedrohlich zur Seite und könnte bald sinken. Kannst Du es jetzt verantworten, ins Rettungsboot zu steigen und das Schiff sich selbst zu überlassen? Solltest Du dann immer noch zweifeln, so bedenke, dass Du vor Gericht ebenso hilflos bist wie auf hoher See. Dein Schiff ist im Zweifelsfalle die Titanic und wird ohnehin untergehen.

Cold case

Was ist eigentlich ein „Beweisantrag“?

Wenn der Profiler und die Kriminalpsychologin vor die Kamera treten, vergießen die noch unerkannten Verbrecher dieser Republik Ströme von Angstschweiß.

Wie fühltest du dich damals?“, fragt die Kriminalpsychologin den Bruder des Opfers und der Profiler, die Hände in den Taschen des Trenchcoats, schreitet bedächtig einen Feldweg entlang, wo seine Gedanken wie zufällig von einer Kamera aufgefangen werden. „Hier ist es passiert, vor 20 Jahren. Keine Spuren mehr zu sehen“, sagt er dann und wir ahnen: dieses Duo wird den ungelösten Mordfall noch innerhalb der verbliebenen halben Stunde Sendezeit lösen.

Es geht aber auch andersrum, wenn Profiler und Kriminalpsychologin Zweifel bekommen, ob die Justiz den richtigen Täter eingebuchtet hat. Dann studieren sie intensiv die alten Akten und fördern Sensationelles zu Tage: Der Ehemann der Toten war damals verdächtig, aber er hatte ein Alibi, das prüfen wir jetzt nach. Man besorgt sich – der TV-Sender zahlt es ja – ein Auto, gleicher Typ wie der Ehemann, fährt die Strecke vom Alibi-Ort zum Tatort ab und stoppt die Zeit. Anschließend, die Stoppuhr läuft mit, besteigt man ein Segelboot, lässt sich von der steifen Brise hinaus in die Förde treiben, umrundet eine Boje (stellvertretend für die Leiche) und steuert zurück in den Hafen. 300 Auto-Kilometer und einen Segeltörn später steht fest: Der Ehemann hätte Hin- und Rückweg in 4 Stunden schaffen, dazwischen seine Frau umbringen und im Meer versenken können. Sein Alibi ist wertlos.

Sitzt jetzt etwa der Falsche hinter Gittern?

Ich frage mich dann, wie der Verteidiger sich gerade fühlt, dessen Mandant seit 7 Jahren unschuldig einsitzt. Was hätte er anders machen müssen, damals im Prozess? Ja was?

Die schärfste Waffe der Verteidigung ist das Beweisantragsrecht, sagt man. Darum schränkt der Gesetzgeber dieses Recht ja auch permanent weiter ein. Aber ermöglicht es dieses Beweisantragsrecht auch, ein Alibi so zu überprüfen wie der Profiler es tut? Versuchen kann man es. Allerdings wird kein Gericht bereit sein, 300 KM Fahrt mit einem bestimmten Fahrzeugtyp nachzustellen. Das wird allenfalls per Navi berechnet. Und der Segeltörn? Der interessiert das Gericht nicht! Kein Zeuge hat den Ehemann im Hafen gesehen, die Bootsfahrt ist nirgendwo registriert. Also was soll das? Ja aber ist es nicht gerade typisch für einen Mord, dass Spuren verwischt, eine solche Bootsfahrt möglichst heimlich gemacht wird? Interessiert ebenfalls nicht, denn es gibt keine Anhaltspunkte für diese Tour, der Verteidiger spekuliert nur.

Daher läuft der Beweisantrag ins Leere und wird als billiger Trick abgetan, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. Du wirst, geneigter Leser, dir deshalb merken müssen: Der Aufwand, mit dem das Fernsehen einen „cold case“ aufklärt, lohnt sich nur für die Einschaltquote. Der Verteidiger im „hot case“, also im Prozess um Schuld oder Unschuld, kann davon nur träumen. Die Justiz hat weder die Zeit noch das Geld dafür. Sie will nur schnell zu einem Urteil kommen.

Und wenn das falsch ist? Dann macht eben das Fernsehen in 20 Jahren daraus einen cold case.

Die Bundesnotbremse

Was ist eigentlich eine „Inzidentkontrolle“?

Wer sich hierzulande wann an welche Vorschriften halten muss, ist eine oftmals nur sehr schwer zu beantwortende Frage, denn nicht jede Norm bindet automatisch auch jeden.

Die ständig und bei jeder Gelegenheit zitierten Grundrechte gelten beispielsweise nicht zwischen Eheleuten. Nach dem strikten Wortlaut der Verfassung (Art. 1 Abs 3 Grundgesetz) binden Grundrechte ausschließlich den Staat. Nur über ein sehr verzwicktes Konstrukt, genannt „mittelbare Drittwirkung“, kommen wir dazu, dass der Ehemann seine Meinung gegenüber der Ehefrau frei äußern darf.

Je tiefer wir von den Grundrechten hinabsteigen in die Niederungen des Rechts, desto verzwickter wird es mit dessen Geltung. Unser Strafgesetzbuch beansprucht Geltung für alle Deutschen egal, wo auf der Welt sie sich aufhalten. Aber wie ist das mit dem Landesrecht? Muss der Kölner in Düsseldorf sich an Kölsches Stadtrecht halten? Und wieso gilt das bayerische Reinheitsgebot für norddeutsches Bier? Fragen über Fragen.

Ähnlich kompliziert ist die Antwort auf die Frage, wer ein Gesetz für unwirksam erklären darf und wer es gegen seine Überzeugungen auszuführen hat. Die aktuelle Corona-Lage liefert uns dafür ja eine Fülle von Beispielen. Die Allgemeinverfügung des Landkreises kann durch ein Verwaltungsgericht für ungültig erklärt werden, die jeweilige Coronaverordnung des Bundeslandes nur durch das Oberverwaltungsgericht. Dies wiederum nicht in Rheinland-Pfalz, weil dort Minister als Verfassungsorgane gelten und ihre Verordnungen darum dem Zugriff der Justiz entzogen sind. Es sei denn, man geht zum Landesverfassungsgericht.

Und während die Bußgeldbehörde einen Verstoß gegen Ausgehverbote sanktionieren muss, kann der Amtsrichter, der später über das Bußgeld zu entscheiden hat, das Verbotsgesetz auch einfach für rechtswidrig erklären.

Du wirst, geneigter Leser, nun darüber staunen, dass Amtsrichter Gesetze aushebeln. Tatsächlich tun sie das aber nur in dem Einzelfall, den sie gerade zu entscheiden haben. Bekommen 100 Versammlungsteilnehmer ein Bußgeld und nur einer geht dagegen vor, dann wird eben nur der freigesprochen. Die anderen müssen zahlen. Sie können dann höchstens gegen diese Ungleichbehandlung demonstrieren und sich ein neues Bußgeld einfangen.

Warum ist das so? Nun, ein Richter muss, so will es die reine Leere, jedes Gesetz, mit dem er gerade arbeitet, zunächst einmal darauf abklopfen, ob es auch verfassungsgemäß ist. Das ist die besondere Juristenkunst, an der jene scheitern, die meinen, es komme auf den gesunden Menschenverstand an. Manch ein Schlaumeier kann bestimmt viel besser erklären, weshalb er ein Gesetz für welthistorisch, geopolitisch, soziokulturell und makroökonomisch unsinnig hält. Er übersieht aber leider, dass im Stadtrat von Posemuckel der Vetter des Bauunternehmers mit abgestimmt hat, als die Ausnahme von der Regel beschlossen wurde. Genau das wäre der richtige Hebel gewesen.

Und damit solche Schlauberger nicht vom Schweiß der Edlen, also der Juristen, profitieren, prüfen Richter nur inzident. Sie entscheiden im konkreten Fall, ob sie ein Gesetz anwenden oder nicht. Alle anderen Fälle sind davon nicht betroffen.

So entwickelt sich unser Rechtsstaat munter weiter zum Flickenteppich. Das eine Verwaltungsgericht sagt so, das nächste anders, Richter A sagt B, Richter B sagt aber A. Das mag man kritisieren, doch wir haben es mit Recht zu tun, also mit von Menschenhand gemachten, nicht mit Naturgesetzen. Richtig oder falsch kann es da eigentlich nicht geben. Stattdessen ist die Rechtsfindung ein endloses Ringen um die richtige Lösung. Die kann von Fall zu Fall, von Landkreis zu Landkreis, von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk anders aussehen. Sie bleibt ein steter Kampf.

All dies gilt jedoch nicht, wenn das anzuwendende Gesetz ein Bundesgesetz ist. Was der Bundestag beschlossen, der Bundesrat abgesegnet, der Bundespräsident unterzeichnet und der Bundesanzeiger verkündet haben, das gilt. Da müssen sogar die Damen und Herren Richter kapitulieren und einfach nur noch das urteilen, was im Bundesgesetz eben drin steht. Ob das wirksam ist, Sinn macht, brauchbare Ergebnisse liefert? Völlig egal. Augen zu und durch. Denn über die Nichtanwendbarkeit eines solchen Bundesgesetzes darf nur ein Gericht auf der ganzen Welt entscheiden: das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. Der Amtsrichter könnte allenfalls sein Verfahren aussetzen und dem BVerfG zur Prüfung schicken. Aber dann müssen die Gewissensbisse schon heftig und vor allem die Begründung exzellent sein.

Was in vielen Verfahren durchaus reizvoll, nicht selten auch erfolgversprechend ist, nämlich Bedenken gegen die Wirksamkeit eines Gesetzes zu formulieren, das ist beim Bundesgesetz meist nur vergebene Liebesmüh.

Darum ist die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes so ein massiver Eingriff in die bürgerlichen Freiheitsrechte. Denn neben den aufgrund von RKI-Zahlen automatischen Einschränkungen wurde auch der Rechtsschutz dagegen praktisch gekappt. Gerade wo ich wohne – in Rheinland-Pfalz – war der private Raum bisher von den Corona-Maßnahmen absolut nicht tangiert. Nun hat der Gesetzgeber mit einem Federstrich tief in diese Privatsphäre hinreguliert.

Kein Wunder, dass alle Blicke sich nun nach Karlsruhe richten.

Zech- und andere Preller

Ist Anschreibenlassen eigentlich Mord?

Neulich auf dem Straßenstrich … ach nee, ist ja momentan verboten. Neulich in der Kneipe … auch zu. Dann eben irgendwo dort, wo bar gezahlt wird, nehmen wir halt den Wochenmarkt. Da wollte einer etwas kaufen, zum Beispiel eine Pute als Sonntagsbraten. Man gönnt sich ja sonst nichts in diesen Zeiten.
Kostet 11 Euro das Kilo.“ – „Was wiegt das Vieh denn?“ (der Fall spielt im Ruhrpott) – „5,5 Kilo.“ – „Also 60 Euro?“ (Im Originalfall waren es 40 Euro, aber ein Strich ist eben kein Wochenmarkt). „Hömma ich nehm den Vogel„, sagt der Käufer. „Erst das Geld, dann die Ware“, antwortet der Händler. „Wieso dat denn? Sind wir hier auf dem Strich?“, sagt der Käufer natürlich nicht, weil man so etwas nicht zugibt, aber wir kommen hier irgendwie nicht am Thema vorbei. Also dann eben doch: Neulich auf dem Straßenstrich!
Sie hält die Hand auf, er sagt ja, meint aber nein, aus irgendwelchen Gründen geht es dennoch zur Sache und danach will sie endlich ihr Geld, das ihr schon vorher versprochen worden war. 40 nicht 60. Sie ist schließlich keine Pute.
Pass mal auf Mädel, das ist so, ich krieg mein Geld erst nächste Woche, aber in drei Tagen, das ist ganz sicher …“ – weiter kommt er nicht. Sie schreit sofort los, ohrenbetäubend, gellend laut, noch während er gerade die Hose hochzieht. Kaum ist diese zugeknöpft nutzt er seine nun freie Rechte, um dieses Geschrei abzustellen. Und weil er stark ist, ein Kehlkopf aber nicht sonderlich robust, schweigt sie bald für immer. Wegen 40 Euro. Es hätte nicht einmal für eine Sonntagspute gereicht.

Szenenwechsel und Zeitenwechsel: Monate später brütet ein Schwurgericht über dem Unterschied zwischen Mord und Totschlag. Der Mord braucht Mordmerkmale, das einzig hier passende wäre die Verdeckungsabsicht. Aber handelte der Freier zur Verdeckung einer Straftat? Er wollte ja nicht etwa nicht zahlen, er wollte nur drei Tage später zahlen, weil er selbst auf sein Geld wartete. So etwas kommt in der Kneipe relativ oft vor. „Einen Deckel machen“ heißt es dort. Darum solltest Du, geneigter Leser, nun aufpassen, denn am Ende des Falles wird der BGH sagen:

An einem wirtschaftlichen Minderwert des Entgeltanspruchs infolge der abredewidrig unterbleibenden sofortigen Barzahlung kann es allenfalls dann fehlen, wenn zum für die Gesamtsaldierung maßgeblichen Zeitpunkt der Vermögensverfügung die zeitnahe Erfüllung der Entgeltforderung mit Sicherheit zu erwarten steht.

Soll heißen: Dein Anschreibenlassen in der Kneipe ist eventuell eine Straftat, denn eigentlich, stillschweigend und einverständlich gingen der Wirt und Du davon aus, dass Bier und Korn sofort bar bezahlt werden. Doch keine Panik vor dem rufvernichtenden Vorwurf des Zechprellens: Verträge kann man nämlich jederzeit ändern. So lange der Wirt zähneknirschend den Deckel schreibt, weil er Dich als guten Kunden nicht verlieren will, bist Du auf der sicheren Seite. Anders wäre es nur, wenn er sofort losschrie, ohrenbetäubend, gellend laut …

Damit sind wir wieder auf dem Straßenstrich, denn sie hat geschrien, sie wollte nicht anschreiben, nicht drei Tage warten bis es Geld gibt. Ihre ursprüngliche Hoffnung auf sofortige Barzahlung wurde enttäuscht, weshalb ihr höchstrichterlich – leider aber post mortem – bestätigt wurde, betrogen worden zu sein. Pech für den Freier, denn das Schwurgericht wollte ihn mit achteinhalb Jahren wegen Totschlags laufen lassen, der BGH erkannte stattdessen auf Mord. Die Differenz zwischen 8,5 Jahren und lebenslänglich basiert allein auf den 3 Tagen Zahlungsaufschub, die der Freier haben, sein Opfer ihm aber nicht geben wollte.

(Mõglicherweise wäre er glimpflicher davon gekommen, wenn er gesagt hätte: „Ups, Portemonaie vergessen, ich laufe schnell nachhause und besorg dir die Kohle. Meine Alte leiht mir bestimmt was.“ Da hat wohl ein Verteidiger nicht mitgedacht.)

Und was lernen wir daraus? Kehlköpfe sind brüchig, Puten sind teurer als Bordsteinschwalben und Barzahlung heißt nicht anschreiben. Denk daran beim nächsten Besuch in der Kneipe – oder wo auch immer.

Eine Frage der Ehre

Was darf der Anwalt eigentlich im „Verteidigerplädoyer“?

Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“ – So wirst Du, geneigter Leser, von manchen Richtern angebrüllt, wenn gerade ein Polizeizeuge ausgesagt hat und Du als Angeklagter dies mit einem „Stimmt so nicht.“ kommentierst. Wohlgemerkt: Du sitzt in dieser Situation auf einer Anklagebank und verteidigst Dich gegen Vorwürfe, die Dich Deine Freiheit, Deinen Job, Dein Hab und Gut kosten können. Man sollte meinen, dass man dann auch um sein Recht kämpfen darf. Aber nicht jedes Gericht mag es, wenn man die Glaubwürdigkeit seines Hauptbelastungszeugen anzweifelt.

Natürlich hat auch die Filmindustrie diesen Konflikt längst erkannt und bereits 1992 legendär inszeniert, mit einem (damals noch nicht abgedrehten) Tom Cruise als Verteidiger und einem die Arroganz und Blasiertheit des Militärs herausragend spielenden Jack Nicholson als Widerpart. Ganz großes Kino!

Nun ist der amerikanische Strafprozess etwas seltsam, weil dort beispielsweise Angeklagte auch Zeugen sind, was für mich unvorstellbar ist. Noch seltsamer scheint mir der dortige Militärstrafprozess, weil er es offenbar nicht zulässt, höherrangigen Offizieren Fragen zu stellen, die sie besser nicht beantworten sollten. Die Macht schützt eben überall zuerst sich selbst.

Aber wenn wir das Hollywood-Gedöns mal außen vor lassen, spiegelt diese Filmszene treffend wider, worum es auch in den Niederungen deutscher Strafprozesse geht: Es gibt Zeugen, denen wird bereits geglaubt, bevor sie überhaupt eine Aussage gemacht haben. Unterschiedlich ist nur die Begründung der Justiz.
Der Polizist ist ein erfahrener Zeuge, der noch nie falsch ausgesagt hat“, lautet das Credo der einen, „Ich glaube ihm nicht, weil er Polizist ist, sondern weil er die Wahrheit gesagt hat“, versuchen andere sich den Anschein von Objektivität zu geben. Im Endeffekt meinen beide dasselbe: Zweifle bloß nicht meinen Zeugen an!!!

Wer clever ist und sich nicht alleine auf die Anklagebank setzt, der bringt einen Verteidiger mit, dem er es überlässt, die Glaubwürdigkeit der Zeugen kritisch zu würdigen. Das macht die Sache zumindest aus Sicht der Polizeizeugen nicht besser. Da sie meistens im Rudel vernommen werden, bleiben sie nach der Aussage darum gerne noch im Gerichtssaal, um durch ihre uniformierte Präsenz zu zeigen, dass Zweifel an ihren Aussagen nicht geduldet werden. Tut der Verteidiger es dennoch, dann muss er durchaus auch mal mit einer Anklage rechnen. In Frankfurt ist dies kürzlich einem Anwalt widerfahren, nur weil er es gewagt hat, den Wahrheitsgehalt von Polizeiaussagen anzuzweifeln.

Wie das Anwaltsleben so spielt, braucht man am Ende ein Quäntchen Glück, welches dem angeklagten Kollegen auch zuteil wurde, und zwar durch ein Gericht, das sich zunächst einmal auf Martin Luther stützte und dessen Konzilskritik abwandelte zu „Gerichte können bei ihrer Beweiswürdigung irren und haben geirrt.“ Danach erinnerte es sich eigener Erfahrungen mit Polizeibeamten, die gelogen hatten „mitunter, dass sich die Balken bogen“ und in einer Dreistheit, dass „das Wort ´Verschwörung´ keine Übertreibung war“.
Dem angeklagten Verteidiger half das Gericht mit einem im Geschwurbel üblicher Beweiswürdigungsfloskeln oft schmerzlich vermissten Instrument aus der Klemme: Logik! Denn wenn der Angeklagte A sagt, der Zeuge aber B, dann ist zwar völlig klar, dass einer lügt, doch kann es dem Verteidiger deshalb verwehrt sein, der Einlassung des eigenen Mandanten zu folgen? Wie sollte er denn das A verteidigen, ohne damit zugleich das B als Falschaussage zu werten?
Die Anklage in Frankfurt wurde noch nicht einmal zugelassen, was zwar nicht so schön klingt wie „Freispruch“, tatsächlich aber ein noch glanzvollerer Sieg ist. Sollte Dich also je ein Richter fragen: „Wollen Sie etwa behaupten, dass der Zeuge lügt?“, dann bleibe höflich, lächele ihn an und frage zurück: „Wollen Sie etwa behaupten, dass ich lüge?

Beweisverwertungsverbot

Was ist eigentlich eine „Eilanordnungskompetenz“?

Morgens halb zehn in Deutschland: Die Bauarbeiter der Nation kauen gerade Nussriegel, die Richter sitzen in der Kantine und trinken Kaffee. Alles ruht, einer wacht: der Staatsanwalt! Ebenfalls immer im Dienst ist die Polizei, die soeben einen ganz heißen Tipp bekommen hat. Daniel Düsentrieb hortet in seiner Wohnung Drogen! Schnell ein Anruf beim Staatsanwalt: Dürfen wir rein?

Der Staatsanwalt kämpft sich durch eine äußerst komplizierte Rechtslage, denn die Antwort auf das Anliegen der Polizei liegt in zwei Gesetzen verstreut. Da wäre zunächst das Grundgesetz mit der klaren Ansage „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Daneben gibt es eine Strafprozessordnung, die vorschreibt, dass Wohnungsdurchsuchungen nur durch einen Richter angeordnet werden dürfen. Allerdings, so steht da weiter, darf die Anordnung bei Gefahr im Verzug auch der Staatsanwalt treffen. Was nun? Liegt hier Gefahr im Verzug vor, nur weil der Richter gerade Kaffee trinkt? Oder braucht es dazu mehr, vielleicht den Totalausfall aller Richter, den Stillstand der Rechtspflege, die Stunde Null des Rechtsstaates?

In der Praxis besteht Gefahr im Verzug regelmäßig samstagnachts um drei. Denn das Böse schläft nie, Richter schon. Darum ist irgendwo im Land immer ein Staatsanwalt wach. Nicht weil er böse wäre, sondern weil die Jagd nach Verbrechern sein Lebenszweck ist. Der Blick auf die Uhr zeigt jedoch: Es ist jetzt erst dreiviertel zehn an einem gewöhnlichen Werktag. Noch ziemlich lange hin bis samstagnachts. Was mach´ ich nur, was mach´ ich nur?
Rückfrage an den Außendienst: Wie sieht’s aus vor Ort? Die Antwort jagt den Puls nach oben: Polizeimeister Bullerich hat gerade dezent an der Tür gelauscht, die dabei die wie von Wunderhand einfach aufgesprungen ist. Wir blicken auf ein ganzes Arsenal von Drogen, Waffen und Falschgeld. Dürfen wir jetzt endlich rein?

Und in diesem Augenblick tut der Staatsanwalt Daniel Düsentrieb einen sehr großen Gefallen: „Hebt die Bude aus!“ spricht er in das Telefon. Den Rest des Tages verbringt die Polizei mit dem Katalogisieren einer LKW-Ladung voller Asservate, so nennen sie das, was sie jetzt aus Daniel Düsentriebs Wohnung abtransportieren.

Machen wir uns nichts vor: Hätte der Staatsanwalt diesen Sachverhalt einem Ermittlungsrichter geschildert, wäre die Durchsuchungsanordnung postwendend ergangen, ohne dass jener sich beim Kaffeetrinken hätte stören lassen. Das ist der Grund, warum die selbsternannten Verfechter des Rechtsstaates nun aufheulen. Alles nicht so schlimm! Was soll der Quatsch? Bloße Förmelei! Und während Daniel Düsentrieb (er ist wohl mittlerweile an seiner Wohnung aufgetaucht) bereits in Handschellen zu Gericht transportiert wird, die Anordnung der Untersuchungshaft nur noch eines kurzen Termins beim Haftrichter bedarf (auch so eine unnütze Förmelei?), lese ich nochmal kurz bei Rudolf von Ihering nach. Der war ein ziemlich bedeutender Rechtswissenschaftler des vorletzten Jahrhunderts und ziemlich überzeugt davon, „dass wir in der Form die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit haben“.

Für Daniel Düsentrieb bedeutet dieser Satz an diesem Tag tatsächlich Freiheit, auch wenn Du, geneigter Leser, nun ungläubig staunen wirst. Denn der Staatsanwalt hat einen entscheidenden Fehler begangen. Er hätte die Polizei anweisen müssen, die Wohnung so lange zu bewachen, bis die Kaffeepause des Richters beendet und dieser bereit zu einer Entscheidung ist. Niemals aber hätte er selbst die Durchsuchung anordnen dürfen, denn er hatte keine Eilanordnungskompetenz, jedenfalls nicht morgens um halb zehn in Deutschland.

In Karlsruhe, dort wo unsere höchsten Strafrichter sitzen, sieht man diese Eigenmächtigkeiten sehr ungern. Zwar würde ich nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der LKW voller Asservate tatsächlich einem Beweisverwertungsverbot unterliegt, aber zumindest beim Haftrichter findet der Staatsanwalt keine Gnade. Denn durch die grobe Missachtung des Richtervorbehalts wurden wesentliche Sicherungsmechanismen des Rechtsstaates umgangen und Beweise durch bewussten Rechtsbruch erlangt.

Darum pfeift sich Daniel Düsentrieb jetzt etwas zur Erholung rein und Polizeimeister Bullerich wird künftig mitteilen, dass es sich beim Lauschen so anhöre, als würde da gerade jemand Drogen in der Klospülung versenken. Das könnte die Gefahr in Verzig begründen, nützen wird ihm das aber nicht, denn der Staatsanwalt wird künftig lieber den Telefonhörer abhängen und sich einen Müsliriegel gönnen, morgens um halb zehn in Deutschland.

Nachtrag:

Ganz kampflos hat die Staatsanwaltschaft das nicht hingenommen. Nach einer Beschwerde wurde Daniel Düsentrieb vom Landgericht wieder in U-Haft geschickt. Meine weitere Beschwerde hat dann aber beim OLG Koblenz Gehör gefunden. Die Untersuchungshaft wurde aufgehoben. Und weil´s so schön ist, veröffentliche ich den Beschluss hier mal.

Vom Trost der Gesetzblätter

Was ist eigentlich eine „Bundesversammlung“?

Politik triff Glamour – so könnte man die Titelfrage kurz beantworten. Dennoch schätze ich den Anteil derer, die sich auskennen für geringer als bei sonstigen Themen des Verfassungsrechts. Was ein Bundestag oder ein Bundesminister ist, wissen wir schließlich alle, wozu der Bundesrat dient und wie er sich zusammensetzt können zumindest diejenigen erklären, die bis hier noch mitlesen, und dass der zweithöchste Mann im Staat der Bundeskanzler ist – geschenkt … oder ist es vielleicht doch eher der Bundestagspräsident?

Etwas schwieriger, da nicht so alltäglich, ist es mit der Bundesversammlung, die das Grundgesetz in Art. 54 GG erwähnt und die nur eine einzige Aufgabe hat: die Wahl des Bundespräsidenten. Sie umfasst den gesamten Bundestag und nochmal genauso viele Ländervertreter, also über 1000 Leutchen. Ich wüsste aus dem Stand nicht zu sagen, ob es irgendwo in der Welt eine größere demokratische Versammlung gibt.

Irgendwann hat es sich eingebürgert, dass die Länder nicht nur gewählte Parlamentarier schicken, sondern Promis. Darum können Boris Becker oder Thomas Gottschalk von sich behaupten, schonmal Teil der Bundesversammlung gewesen zu sein (vermute ich mal, nachgeprüft habe ich es nicht).

Wie das mit der Verfassung so ist, umreißt sie nur in groben Zügen ihr Anliegen und überlässt das Nähere einem Bundesgesetz. Deshalb gibt es ein „Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung“ (BPräsWahlG), wo noch viel mehr über die Bundesversammlung steht (Höchstzahlverfahren d’Hondt!) und dann kommen wir zu der Frage, wen das eigentlich überhaupt und wieso gerade dieser Tage interessiert. Wir kümmern uns schließlich gerade um die Wahl eines anderen Präsidenten und außerdem haben wir noch Corona.

Eben! – Wir haben Corona! Und Du wirst Dich, geneigter Leser, bereits gefragt haben, wie dann die vermutlich größte demokratische Versammlung der Welt tagen kann?

Unser Bundestagspräsident, der ist zuständig für die Einladung der Bundesversammlung, scheint sich dies auch bereits gefragt zu haben, denn mit deutscher Gründlichkeit hat er just am 2. November 2020, verkündet im Bundesgesetzblatt I S. 2271 (Nr. 49) mit Geltung ab 06.11.2020 und dem für mich unerklärlichen Zusatz „FNA: 1100-1-19“ uns alle wissen lassen: Die 17. Bundesversammlung findet am 13. Februar 2022 in Berlin statt.

Damit hat die Corona-Pandemie nun ein offizielles Enddatum. Denn an diesem Tag werden sich die erwähnten über 1000 Leutchen in den Reichstag zwängen und (ohne Aussprache, so steht es im Gesetz) zur Abstimmung schreiten. Das ist unter Coronabedingungen eindeutig unmöglich, darum muss es bis dahin vorbei sein mit der Pandemie.

Eine gute Nachricht, wie ich finde, deshalb wollte ich sie meinen Lesern nicht vorenthalten. Und dass sie uns genau zu Beginn des 2. Lockdowns verkündet wurde, gibt doch Hoffnung … oder sollte es zumindest tun … zumindest aus der Sicht des Bundestagspräsidenten …

Strafbare Volkssprache

Was ist eigentlich eine „Bedrohung“?

„Wer einen Menschen mit der Begehung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens bedroht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

§ 241 Abs.1 StGB

So steht es seit ewigen Zeiten im Strafgesetzbuch (StGB) und spaltet die Wissenden von den Unwissenden. Denn während Otto Normalverbraucher sich schon bedroht fühlt, wenn ihm jemand „Gleich setzt es was!“ entgegenschleudert, schauen die Juristen zuerst noch in § 12 StGB, wo geregelt ist, dass Verbrechen nur solche Taten sind, für die im Mindestmaß ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist.
(Das Gesetz spricht sogar wörtlich davon, dass die Verbrechen mit Freiheitsstrafe „bedroht“ werden, was aber keine Bedrohung im Sinne des StGB ist.)

In der Praxis führt dies zu heftigen Scharmützeln vor Gericht. Man streitet gern um die Ernsthaftigkeit der Drohung, woran es bei Formulierungen wie „Ich schlag dich tot“ oder „Die nächste Kugel ist für dich“ fehlen kann. Und natürlich geht es stets um die Frage, ob die angedrohte Tat überhaupt schon Verbrechenscharakter hat. Wer Dir, geneigter Leser, einen Baseballschläger in die Zähne hauen will, droht mit einer gefährlichen Körperverletzung, aber nicht mit einem Verbrechen. Verfehlt er hingegen das Gebiss und trifft das Auge, könnte es sich um eine schwere Körperverletzung und damit durchaus um ein Verbrechen handeln. Aber wer will das wissen, solange damit nur gedroht wird?

Nun leben wir allerdings in Zeiten der Überregulierung und für den Gesetzgeber ist das Strafrecht schon länger nicht mehr das schärfste Schwert des Rechtsstaates, die Ultima Ratio, also das, was unerlässlich verboten werden muss. Stattdessen steuert man heutzutage über das Strafrecht, was allgemein als wünschenswertes Verhalten gilt. Das ist so ähnlich wie im Steuerrecht. Wenn der Dieselmotor auslaufen soll, wird die Mineralölsteuer erhöht und wenn ein Politiker statt der ersehnten Huldigung Kritik erfährt, gibt es eben neue Straftatbestände. Nicht die Sanktion begangenen Unrechts steht im Vordergrund, sondern die Weltverbesserung, der realitätsfremde Blütentraum. Darum werden wir alle, auch Du und ich, schleichend kriminalisiert. Was in China das Sozialpunktesystem erreichen soll, erledigt bei uns ein zunehmendes Gesinnungsstrafrecht.

Diesem ist nun auch der althergebrachte Bedrohungsparagraph zum Opfer gefallen, denn künftig bedarf es nicht mehr der Drohung mit einem Verbrechen. Vielmehr soll gelten:

„Wer einen Menschen mit der Begehung einer gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder gegen eine Sache von bedeutendem Wert bedroht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

§ 241 StGB – Entwurf

Da muss man erstmal tief durchatmen!

Die vom Strafrecht erfassten Fälle täglicher Streitereien werden sich ins Unendliche potenzieren. Der Deutschen Durchschnittsvokabular, das im Alltagsjargon so knackige Sätze enthält wie „Ich hau dir auf´s Maul“ oder „Ich trete dir gleich wohin“ – gerne auch ergänzt um die Bezeichnung konkreter Körperteile unter der Gürtellinie – ist künftig strafbar!
(Ob der mit Freiheitsstrafen drohende Gesetzgeber sich dann allein dadurch bereits ebenfalls strafbar macht, muss erst noch entschieden werden. Ich betrachte eine Strafvorschrift durchaus als Bedrohung meiner persönlichen Freiheit.)

Natürlich entsprechen vorstehende Beispiele nicht den Formulierungskünsten feiner Pinkel, das räume ich gerne ein. Aber muss man deshalb gleich zum Strafrecht greifen? Soll die Sprache des Volkes, so wie sie am Tresen, in den Fußballstadien, auf dem Bau oder am Fließband gesprochen wird, schon wegen ihrer Derbheit eine Straftat sein? Es mag in der Welt unserer Abgeordneten wünschenswert scheinen, auch im dichtesten Fastnachtsgetümmel noch höflich zu bleiben und betrunkene Narren korrekt aufzufordern, es doch bitte zu unterlassen, sich einer Frau unziemlich zu nähern. Ernst genommen wird aber nur, wer grimmig „Abstand! Sonst gibt´s was auf die Fresse!“ brüllt. Und das wird sich auch nicht wegen einer neuen Strafvorschrift ändern.

Bundestag und Bundesrat haben das Gesetz schon abgesegnet, es fehlt derzeit nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Wer nicht schon wegen eines losen Mundwerks bald verhaftet werden will, muss daher jetzt bereits an seinem Wortschatz feilen.

Als Jurist fixiert man sich dabei natürlich zuerst auf das Wörtchen „rechtswidrig“. Es scheint mir allerdings zu kompliziert, mögliche Rechtfertigungsgründe in meine Alltagssprache aufzunehmen, denn dann wäre sie ja keine Alltagssprache mehr. „Ich hau dir in Notwehr auf´s Maul“ gibt irgendwie nicht das wieder, was ich eigentlich sagen möchte.

Aber ich rede gern, wie mir der Schnabel gewachsen ist, darum ließ mir die Suche nach einer Lücke keine Ruhe, bis mir auffiel, was der Gesetzgeber bisher noch übersehen hat: Nämlich die Tatsache, dass der Mensch sich gerne an Dinge klammert, die ihm mehr wert sind, als beispielsweise seine Kinder. Das Auto wäre etwa so ein Ding und es würde mir relativ leicht über die Zunge gehen, jemandem zu sagen: „Ich trete Dir gleich eine Delle ins Auto.“ Doch Achtung: Autos können einen bedeutenden Wert haben. Die Formulierung gibt es auch in anderen Paragraphen und meint dann eine Wertgrenze von um die 1.500 EUR. Anderer Leute Auto zu bedrohen könnte folglich riskant werden.

Uneingeschränkt erlaubt bleiben dürften hingegen Verwünschungen gegen Haustiere. Dem Koi-Karpfen das Wasser abzulassen sollte man seinem Gegner vielleicht nicht androhen (Wertgrenze!), aber gegen dessen Hunde, Katzen, Vögel, Hasen und Hamster darf man ungeniert wüten – selbstverständlich nur verbal, denn der Tatbestand meint ja die Bedrohung, nicht die Umsetzung.

Charakterlich ist dies zwar eher mies, doch der Gesetzgeber zwingt ja dazu, indem er die Menschen ihrer Alltagssprache beraubt. Ob die Welt dadurch tatsächlich besser wird oder ob mit neuen Gesetzen auch Drohungen gegen Haustiere bald zur Straftat deklariert werden müssen, entscheiden die Damen und Herren in Berlin. Ich fürchte, sie werden den Schritt gehen.

Mit der aktuellen „Reform“ des Strafrechts haben sie sich jedenfalls in die Geschichtsbücher eingeschrieben. Künftige Historiker werden wohl urteilen: Ein überflüssiger Schritt für die Menschheit, aber ein rabenschwarzer Tag für die Haustiere.

Anmerkung

Nachdem der Bundespräsident nun unterzeichnet hat, tritt das Gesetz am 3.4.2021 in Kraft.

In memoriam FJS

Wie weit geht eigentlich die „Meinungsfreiheit“?

Eine der Merkwürdigkeiten unseres Strafrechtssystems ist, dass es dem Mörder nur 2 Instanzen gewährt, dem Ladendieb immerhin 3 und dem Pöbler sogar 4. Denn wer vom Amtsrichter wegen Beleidigung verurteilt wird, kann nach dem Land- und Oberlandes- noch das Bundesverfassungsgericht anrufen. Und dies sogar mit guten Erfolgsaussichten. Die Grenze zwischen einer strafbaren Beleidigung und einer zulässigen Meinungsäußerung ist schwammig. Du wirst, geneigter Leser, dich wahrscheinlich einfach nur wundern, wenn man dich freispricht, obwohl du Polizisten „dumm, unfähig, schikanös, machtversessen und niveaulos“ nanntest, aber oft nutzt man solche Formulierungen ja nur, weil man einem anderen mal so richtig die Meinung geigen will. Und wenn die Meinung betroffen ist, egal ob gegeigt oder gesungen, wackeln womöglich die Fundamente unserer Verfassung. Darum wird ein solches Urteil „ganz oben“ nochmal überprüft.
(Meine Auswertung der verfassungsgerichtlichen Judikatur hat ergeben, dass nur eine Gruppe wirklich sicher ist vor Pöbeleien: die Richter).

Früher, als angeblich alles noch besser, der Himmel weiß-blauer und die Politiker originaler waren, nannte einer von denen mal einen anderen:

„eine armenische Mischung aus marokkanischem Teppichhändler, türkischem Rosinenhändler, griechischem Schiffsmakler und jüdischem Geldverleiher und ein Sachse.“

Dieses Zitat hätte heutzutage hinreichend Potential, von der öffentlichen Empörung bis zum Staatsanwalt jeden auf den Plan zu rufen, der oder die gerade nichts zu tun hat, schon immer mal was sagen wollte und am liebsten alles verbieten möchte. Es würde mindestens als Ehrverletzung, wahrscheinlich sogar als Volksverhetzung gedeutet, locker ein Sommerloch füllen und schneller zum Rücktritt des Zitatverfassers führen, als ein Andreas Scheuer überhaupt Maut sagen kann.

Denn es gilt als Fortschritt, alle Klischees über andere Nationen, Religionen, Regionen, Professionen usw. zu unterdrücken. Je bildhafter, blumiger, bunter die Sprache, desto größer die Gefahr, dass sich irgendwer angeblich beleidigt fühlt. Vorausgesetzt, eine bestimmte Wortwahl wurde bereits von anderen als rassistisch oder sexistisch definiert. Selbst hätte der angeblich Beleidigte es oft gar nicht bemerkt.

Der jüdische Geldverleiher dürfte zwar damals bereits grenzwertig gewesen sein, dem türkischen Rosinenhändler wird man aber erst heute und nur zwecks Bauchbepinselung seines despotischen Staatspräsidenten eine Ehrverletzung zugestehen. Der marokkanische Teppichhändler wartet nach meiner Einschätzung gerade auf seine Entdeckung durch unsere Oberkorrektoren. Er könnte kurzfristig zum Unwort werden – oder auch nicht. Korrekte Sprache ist Glückssache. Der griechische Schiffsmakler schließlich kann sich grün und blau über diese Titulierung ärgern, hat aber kaum Chancen auf dem Index zu landen. So ungerecht ist die Welt.

Wer darüber entscheidet, was man bedenkenlos sagen darf und was nicht, wabert im Dunkeln. Eine offizielle Zensurstelle gibt es nicht. Mir scheint, die Aufseher über unsere Sprache sitzen noch nicht einmal in Regierungskreisen. Sie haben es lediglich geschafft, sich durch dauerndes öffentliches Empörtsein zur pseudomoralischen Instanz aufzuschwingen. Irgendeine Autorität ist damit nicht verbunden, die braucht es aber auch nicht, denn es zählt allein der einschaltquotenrelevante Heulsusenfaktor.

Wegen des obigen Zitats würden sie aktuell wahrscheinlich medienwirksam in Ohnmacht fallen. Doch als es seinerzeit ausgesprochen wurde, blieb es folgenlos für den Verfasser Franz-Josef Strauß und den so gescholtenen Hans-Dietrich Genscher. Denn zu jener Zeit durfte man so etwas sagen, was aus der Vergangenheit wirklich einmal die gute alte Zeit macht. Hauptstadt war damals noch nicht das glas- und stahlstrotzende Berlin, sondern das verschnarchte zementklotzige Bonn. Zumindest mir aber wird wehmütig ums Herz wenn ich zurückdenke, wie frei wir damals reden durften.

Formelle Rechtskraft

Was ist eigentlich die „formelle Rechtskraft“?

Auch wenn die Juristerei unter dem Deckmäntelchen einer Wissenschaft daher kommt, ist sie im Grunde genommen nur Rechthaberei. „Ich habe Recht!“, sagt der Klient zu seinem Anwalt, der zum Gegenanwalt, beide zum Gericht und dieses wiederum durch drei Instanzen. Das Merkwürdige dabei: Jeder kommt zu einem anderen Ergebnis, das er für Recht hält. Daher auch der Spruch „Zwei Juristen, drei Meinungen“. Gäbe es noch die vierte, fünfte, n-te Instanz, würden die ganz neue Behauptungen zum Recht postulieren. Darum muss irgendwann Schluss sein, ein Sachverhalt letztinstanzlich entschieden, eine der vielen unterschiedlichen Auffassungen für verbindlich erklärt werden. Zu diesem Zweck entzieht der Gesetzgeber den Streithanseln an einem bestimmten Punkt die Möglichkeit, noch weitere Rechtsmittel einlegen zu können. Dann tritt Rechtskraft ein.
Rien ne va plus – Nichts geht mehr“, sagt der unterlegene Anwalt dann, weil er sich gerade an Roulette erinnert fühlt. Der den Prozess gewonnen hat, plustert sich mit Lateinkenntnissen auf und schwafelt was von „Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, der Fall ist beendet“. Der Satz kommt aus dem Kirchenrecht und meint: „So wie es jetzt entschieden ist, bleibt es! Geht nachhause und streitet euch über etwas anderes.

Da es im Recht keine richtigen Entscheidungen gibt, sondern nur endgültige, kann es auch keine bessere Lösung geben, als die, den Streit einfach nicht mehr weiterzuführen, ihn gewissermaßen gewaltsam zu beenden, notfalls auch mit einem Fehlurteil. Was gestern noch schreiendes Unrecht war, kann morgen schon Recht sein – zumindest formell infolge der Rechtskraft. Denn es ist diese formelle Rechtskraft, also der Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, die der Gesetzgeber dir, geneigter Leser, als Gerechtigkeit verkauft. Und als sei dies nicht schon bedauerlich genug, hat er den Weg dahin auch noch verbaut mit zwei Hürden: Form und Frist.

Ich staune immer öfter, wie leichtfertig der Bürger mit seinem Recht umgeht. Da bekommt er einen fetten gelben Brief mit einer mehrseitigen Rechtsmittelbelehrung und was tut er? Er greift zum Handy und schickt dem Staat eine Mail. Oder er wähnt sich gar derart sicher im Recht, dass er eine Antwort schlichtweg verweigert. „Wozu sollte ich Einspruch einlegen, ich bin doch viel zu schnell, um geblitzt zu werden“, kommentiert arrogant der erfolgreiche Jungunternehmer und Betreiber einer Shisha-Bar, streichelt verliebt seinen G-Power M850i und zerreißt den Bußgeldbescheid mit süffisantem Grinsen.
Doch Vorsicht: Auch solche Verfahren erwachsen in formelle Rechtskraft, nur entscheidet dann eben nicht Rom, sondern der Sachbearbeiter in der Bußgeldstelle Hintertupfingen, und der sagt emotionslos: 3 Monate Fahrverbot! Wie bitte Einspruch? Nö, die 2-Wochenfrist ist abgelaufen.

Wir lernen also: Wer im Kampf ums Recht am Ende siegt, ist oft nur eine Frage des Zufalls. Aber wer schon am Anfang scheitert, sollte sich mal fragen, wozu es Anwälte gibt.

Am Scheideweg

Was ist eigentlich „Aufklärungshilfe“?

Der Verteidiger als Komplize des Verbrechens ist ein beliebtes Klischee, aber schon deshalb falsch, weil klassische Verteidigung erst nach der Tat beginnt. Die Leiche ist schon kalt! Ob, wann und wie jemand ins Jenseits befördert wurde, war nicht Gegenstand meiner Beratung.

Handelt es sich einmal nicht um Mord, also in der weit überwiegenden Zahl der Fälle, stellt sich die Frage der Komplizenschaft bald von anderer Seite, denn meist hat die Polizei ein paar Fragen, die über den Fall hinausgehen: Mittäter, die unerkannt blieben, Hintermänner, die Tipps gaben, Profiteure, denen die Beute zufloss, all dies interessiert die Strafverfolger und sie hätten gerne, dass ein Täter und sein Anwalt an der Aufklärung mitwirken. „Petzen“ heißt das umgangsprachlich, „freiwilliges Offenbaren seines Wissens“ im Gesetz. Es soll angeblich zu einer Strafmilderung wegen Aufklärungshilfe führen. Geht es bei der Straftat um Drogen, gehört der Hinweis darauf sogar zur vorgedruckten Beschuldigtenbelehrung. Aber Vorsicht! Im Gesetz steht nämlich nicht „soll“ oder „muss„, sondern lediglich „kann„. Manch einer, der sein Verteidigungsgebäude auf dieser Vorschrift errichtete, musste erkennen, auf Sand gebaut zu haben.

Die Politik hatte sich von der Aufklärungshilfe wesentlich mehr versprochen und kann nicht so recht verstehen, weshalb die vermeintlich goldene Brücke eher ungern beschritten wird. Auch dies trägt zum Nimbus der Komplizenschaft von Verteidigung und Verbrechen bei. Tatsächlich thematisiere ich die Möglichkeiten der Aufklärungshilfe in Beratungen nicht, was zunächst einen ganz einfachen Grund hat: Das Gefängnis ist eine Welt für sich. Wer da rein kommt und einen Verteidiger hat, der bekannt ist für die Konspiration mit der Polizei, steht eben etwas tiefer in der Knasthierarchie.

Bleibt der Beschuldigte auf freiem Fuß, ist die Aufklärungshilfe dennoch kritisch zu sehen. Manchmal gibt es nämlich durchaus Täter, die sich auf so etwas einlassen wollen. Sie bringen letztlich einem Verteidiger in einer Kleinstadt nur Schwierigkeiten. Denn es trifft am Ende immer einen oder mehrere aus der eigenen Klientel. Die einen Mandanten werden erwischt, weil andere Mandanten sie ans Messer geliefert haben. Keine angenehme Situation in der leider bisweilen Anwälte als besondere Komplizen des Verbrechens auftrumpfen, indem sie nämlich Informationen des Verräters durchstecken an die Verratenen.

Du wirst, geneigter Leser, es deinem Anwalt möglicherweise danken, wenn er dich warnt vor einem anstehenden Hausbesuch der Sportsfreunde in Uniform. Vielleicht findest du es sogar ganz toll, welch hervorragende Kontakte dieser Anwalt hat. Aber ist dir klar, dass er im gleichen Moment einen anderen Mandanten verrät? Nämlich jenen, welcher der Polizei den Tipp gab. Dessen Aufklärungshilfe ist wenig wert, wenn die anschließende Hausdurchsuchung keine Treffer bringt.

Damit ist auch klar, wie der Verteidiger – unabhängig von gesetzlichen Ge- und Verboten – sich zu verhalten hat, wenn einer seiner Klienten zur sprudelnden Quelle wird: Er muss zusehen, dass er alle damit verbundenen Mandate schleunigst los wird! Denn er kann weder Verräter noch Verratene weiterhin mit vollem Einsatz vertreten, da er sie eigentlich gegeneinander ausspielen müsste. Daher mag ich die Aufklärungshilfe auch nicht. Das ist jedoch keine Komplizenschaft zum Verbrechen, sondern einfach nur zwingendes Verhalten.

Containern

Was ist eigentlich eine „Dereliktion“?

Spätestens seit den 68ern – Stichwort: APO – ist es irgendwie modern, die Gesetze nicht dem Gesetzgeber zu überlassen, sondern sich aktiv in den Vorgang der Gesetzgebung einzubringen, was ja nicht verkehrt sein muss in einer Demokratie, die ständig mehr in die Hände einiger geschlossener Parteienzirkel gerät. Um den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen, gibt es viele Möglichkeiten im weiten Feld zwischen Diskutieren und Ignorieren. Besonders herausragend im Sinne eines engagierten Bürgertums sind beide Eckpfeiler nicht, denn wenn der Gesetzgeber beispielsweise beschlösse, das Golfplatzwässern während Dürrephasen zu verbieten, wäre das Schwafeln über Für und Wider in Talkshows ebenso langweilig wie das lautstarke Jammern um das Vertrocknen des Grüns. Mit demokratischem Diskurs hat weder das eine noch das andere zu tun.

Erfrischender finde ich Methoden des aktiven Protests, im Falle des Golfplatzes also das heimliche Weiterwässern des Nachts durch Golfliebhaber oder das ebenso heim- und nächtliche Umgraben des Platzes durch Golfgegner. Da liegt – für Strafverteidiger immer interessant – ein wenig Anarchie in der Luft und es zeugt von echtem republikanischem Engagement in der Nachfolge der alten Römer, die ja – Stichwort: die Gracchen – politische Konflikte gerne handfest austrugen.

Zwischen diesen Extremen gibt es ein paar Verirrte, die das Bedürfnis treibt, als Märtyrer in die Geschichte einzugehen. Man erkennt sie am Übertreten gerade solcher Gesetze, die besonders im öffentlichen Focus stehen sowie am Nimbus der moralischen Überlegenheit, denn ihr Engagement gilt jenen, die sonst angeblich keine Stimme haben: Tiere, Kinder, Minderheiten aller Farben, Religionen, Herkünfte, kurzum: Gruppen, zu denen sie selbst nicht gehören und die auch nicht gefragt wurden, ob sie Deckmantel für Gesetzesübertretungen sein wollen. Meist sind die Möchtegern-Märtyrer fremdgesteuert von irgendwelchen Hypes und darum bar jeder Sachkenntnis, was sich oftmals rächt, wenn man es ausgerechnet mit dem Gesetzgeber aufnehmen will. Denn der ist völlig spaßbefreit. Er kann es nicht verstehen und daher auch nicht gutheißen, wenn seine Gesetze auf Kritik stoßen. Daher sollte man sich über Gesetze, die man zu brechen gedenkt, vorher ein paar Gedanken machen.

Nehmen wir beispielhaft die Lebensmittelverschwendung in unserem Lande. Die ist und bleibt etwas Unerklärliches, weshalb zu wünschen wäre, das Problem möge endlich mal gelöst werden. Manche sehen die Lösung im Containern, was ich vom Protestfaktor her auf der Ebene des heimlichen Golfplatzumgrabens ansiedeln würde, also grundsätzlich sympathisch finde. Containern ist auch rechtlich kein sehr schwieriges Problem, denn es ist entweder Diebstahl oder nicht. Daher muss man sich nur fragen, ob der Salatkopf im Müll eine fremde Sache ist oder eine herrenlose.

Du hast, geneigter Leser, den Salatkopf an der Kasse eines Supermarktes teuer bezahlt, darum darfst du ihn mit Fug und Recht dein eigen nennen. Nur leider ist seither eine Woche vergangen, das Ding sieht verschrumpelt aus, sein Anblick verdirbt dir den Appetit. Doch morgen kommt ja die Müllabfuhr, die braune Tonne steht schon draußen. Also schnell noch weg damit. Interessiert es dich da noch, was mit dem entsorgten Salat geschieht? Nö, Hauptsache im Gemüsefach ist Platz für neue teuere Salatköpfe. Ein paar Schlaumeier haben während du an der Mülltonne warst schon die Überschrift dieses Beitrages gegoogelt und herausgefunden, dass Dereliktion die Besitzaufgabe mit dem Willen, das Eigentum erlöschen zu lassen meint. Genau dies hast du soeben mit deinem Salatkopf gemacht.
Wenn sich nun ein Aktivist mit Guy-Fawkes-Maske an deine Biotonne schleicht, den Salatkopf herausfischt und ihn mit im Müll letzter Woche erbeutetem ranzigem Rapsöl irgendwie herunterschlingt, ist dir dies völlig egal, denn du hast dich des Salats entledigt, willst ihn einfach nicht mehr haben. Das Grünzeug ist herrenlos geworden. Darum hat Guy Fawkes auch keinen Diebstahl begangen, sondern sich allenfalls den Magen verdorben, was straffrei ist.

Puristen unter den Juristen behaupten zwar, du habest dein Eigentum an dem Salatkopf gar nicht aufgeben, sondern ihn mit dem Wurf in die Mülltonne an den Müllentsorger übereignen wollen. Diese Kollegen glauben wahrscheinlich aber auch an die jungfräuliche Geburt, oder – um im Strafrecht zu bleiben, an den fahrlässigen Diebstahl. Ich sage dazu: Man sieht dem Salat im Müll dieses Übereignungskonstrukt nicht an. Basta!

Anders wäre es, wenn der Salatkopfentsorger nach außen deutlich machen würde, dass er keine Dereliktion möchte, weil es ihm vielleicht nicht gefällt, dass andere in seinem Müll wühlen. So geschehen in dem Fall, der aktuell wieder als Container-Urteil durch die Presse geistert. Da war es nämlich so, dass der Salat in einem verschlossenen Container lag, der nur durch Einsatz eines Werkzeuges geöffnet werden konnte. Wenn das kein Diebstahl ist, dann weiß ich auch nicht mehr, was sonst noch Diebstahl sein sollte. Aber: Täter war nicht Guy Fawkes, sondern zwei verwirrte Studentinnen aus der Gruppe der Möchtegern-Märtyrer, also die mit der moralischen Überlegenheit. Woher sie diese beziehen, bleibt ein Rästel, möglicherweise haben sie zuviel Proudhon gelesen. Aber: Was dachten die denn, warum jemand seinen Müllcontainer abschließt???

Ich kann damit leben, dass sie beim Bundesverfassungsgericht kein Gehör gefunden haben.