Befangenheit

Was bedeutet eigentlich „Befangenheit“?

Haben Sie schonmal einen Richter wegen Befangenheit abgelehnt?“, fragen Mandanten bisweilen vor einem Prozess. „Noch nie!“, antworte ich dann, was sie umgehend an der Qualifikation ihres Verteidigers zweifeln lässt. „Aber falls mein Richter befangen ist …“, haken sie dann hoffnungsfroh nach, nur um von mir zu erfahren: „Es interessiert mich nicht, ob Richter befangen sind.“ Danach herrscht betrübtes Schweigen. Das müssen Mandanten erst mal verdauen. Hat der Anwalt vielleicht keine Ahnung?

Doch, hat er, darum weiß er, dass es nie darauf ankommt, ob ein Richter befangen ist. Der Gesetzgeber hat darauf geachtet, dass bei derartigen Scharmützeln niemand sein Gesicht verlieren muss. Darum verlangt er nur die „Besorgnis der Befangenheit“, um Richter ablehnen zu können. Es genügt also das „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit“. Ob der Betreffende wirklich voreingenommen ist, wird nie entschieden.

Was entschieden wird, ist die Frage, ob dieses Misstrauen des Mandanten zu Recht besteht. Es muss nämlich nach den Maßstäben eines »besonnenen Dritten« gegeben sein, nicht nur rein subjektiv. Mit anderen Worten: Nur wenn jeder Andere auch an der Unparteilichkeit des Richters zweifeln würde, werden die Bedenken des konkreten Mandanten vom Gericht ernst genommen. Ob nun tatsächlich jeder Andere diese Zweifel ebenfalls hätte, lässt sich eigentlich nur durch eine Meinungsumfrage feststellen. So weit kommt es aber nicht, denn das entscheiden einfach andere Richter, die selbstverständlich viel besser beurteilen können, ob der Angeklagte zu Recht an der Unparteilichkeit eines Richters zweifelt, der ihm kurz nach Prozessbeginn androht: »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«

Um den Hintergrund solcher Äußerungen besser verstehen zu können, holen die zur Entscheidung über den Ablehnungsantrag berufenen Richter von dem abgelehnten Richter eine »dienstliche Stellungnahme« ein. Nach einer Volksweisheit wird ja nirgendwo so viel gelogen wie bei Gericht. Der Gesetzgeber täte deshalb gut daran, für diese dienstlichen Stellungnahmen den Anwaltszwang einzuführen, denn es ist bisweilen lächerlich und absurd, wie manche Richter unter Verdrehung aller Tatsachen sich zu rechtfertigen versuchen. Zum Glück nur wenige.

Nach der dienstlichen Stellungnahme entscheiden die Kollegen des abgelehnten Richters. Die sind streng, sehr streng – allerdings nur, wenn der abgelehnte Richter ein Schöffe ist. Die armen Schöffen dürfen noch nicht einmal während stundenlanger Sitzungen schnell per SMS regeln, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Sie dürfen auch nicht in einer Verhandlung am 6.12. dem Staatsanwalt einen Schokoladennikolaus schenken. Alles Gründe, um den Prozess sofort abzubrechen und den Schöffen abzuschießen.

Ist der abgelehnte Richter hingegen ein Berufsrichter, kann er auf großzügigere Maßstäbe bei seinen Kollegen hoffen. Wenn eine Richterin mit dem Opfer einer Körperverletzung enge persönliche Beziehungen pflegt und sich regelmäßig mit ihm zum Mittagessen trifft, muss das für den Angeklagten, der den Mann brutal zusammengeschlagen haben soll, noch lange kein Grund sein, an der Unvoreingenommenheit dieser Richterin zu zweifeln. Richter können doch privat und dienstlich problemlos trennen. Wo kämen wir hin, wenn jeder daran zweifeln dürfte?

Allerdings gibt es ja noch die Revision. Das Revisionsgericht prüft auf entsprechenden Antrag nochmals nach, ob das Verhalten des abgelehnten Richters tatsächlich so unbefangen war. Seltsamerweise kommen die Revisionsgerichte oft zu ganz anderen Wertungen, als die Kollegen vom Gericht des abgelehnten Richters.

Konsequenz: Weil ein Richter, der schon am ersten Verhandlungstag wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, trotzdem weitermachen durfte, wird noch 20 Tage oder länger weiterverhandelt, der Angeklagte auch verurteilt und erst vom Revisionsgericht festgestellt, dass dieser Prozess so nie hätte stattfinden dürfen.

Und darum beginnt das ganze Verfahren dann von vorne, der Angeklagte steht wieder mit seinem Verteidiger vor der Türe, doch dieses Mal fragt er: »Würden Sie einen Richter auch ablehnen, wenn Sie besorgt sind, dass er befangen ist?« – »Nein«, antworte ich dann. »Es kommt nicht darauf an, ob der Verteidiger wegen der möglichen Befangenheit eines Richters besorgt ist.«

Strafprozess ist eben kompliziert.

Honorarvereinbarung

Warum schließen Verteidiger eigentlich „Honorarvereinbarungen“ ab?

Gestern habe ich eine Revisionsbegründung fertiggestellt. Das gesetzliche Honorar dafür beträgt mindestens 120,.- EUR und höchstens 1.110,- EUR. Für einen einzigen Brief! Nicht schlecht – könnte man denken. Schauen wir also mal genauer hin:

Mein Mandant hat von einem Landgericht 5 Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Für schweren Menschenhandel, dirigierende Zuhälterei, Vergewaltigung und diverse andere Ungezogenheiten. Die Hauptverhandlung dauerte 16 Tage. Um meine Arbeit (Begründung der Revision) zu erledigen, habe ich ein 133 Seiten starkes Urteil, 387 Seiten Sitzungsprotokoll und genau einen Monat Zeit. Diese Frist ist nicht verlängerbar.

Zunächst analysiere ich die 133 Seiten Urteil ganz exakt, mehrfach, zigfach, immer wieder.
Gleich am Anfang geht es los: Das Gericht hat sich über die persönlichen Verhältnisse des Verurteilten – also seine Finanzen – anhand seiner Bankunterlagen ein Bild gemacht. Also blättere ich die 387 Seiten Protokoll durch, was dazu vermerkt ist. Wurden die Bankordner nur „zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht“ oder wurden sie „vom Gericht in Augenschein genommen“? Beides würde nicht ausreichen, aber laut Protokoll wurden die Kontoauszüge „verlesen“. Diese Spur führt mich also nicht weiter, darum beginne ich  wieder von vorne. Urteil lesen, Protokoll lesen, mehrfach, zigfach, immer wieder.

Dann die nächste Fährte: Am 8. Verhandlungstag war der Protokollführer erkrankt. Er wurde durch einen anderen Justizbeamten ersetzt. Ganz am Ende des Prozesses, wenn das Protokoll unterschrieben wird, war der Ersatzman aber nicht beteiligt. Das wird zu Problemen für die Justiz führen! Allerdings nur deshalb, weil ein Anwalt weiß, worauf er achten muss und wie er mit einem solchen Fehler umzugehen hat. Du, geneigter Leser, wirst Dir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können, dass eine fehlende Unterschrift überhaupt eine Rolle spielt. Denn Du verwendest nicht jeden Tag einen Teil Deiner Zeit zur Fortbildung – schon lange bevor die konkrete Revisionsbegründung beginnt.

Der Mandant liefert natürlich auch Hinweise: Er erinnert sich genau, dass alle Zeugen sein Auto als blaues Auto beschrieben haben, obwohl der Täter nachweislich ein rotes Auto fuhr. Im Urteil wird aber fälschlicherweise behauptet, das Auto des Mandanten sei rot gewesen. Außerdem hatte der Täter laut Urteil eine Glatze, mein Mandant aber lange Haare. „Interessant“, sage ich dazu, was die höfliche Variante von „Interessiert mich nicht, weil es keine Rolle spielt“ ist.

Adressat meiner Revisionsbegründung ist letztlich der Bundesgerichtshof (BGH), das höchste deutsche Strafgericht. Dort werden demnächst 5 Berufsrichter über die Revision entscheiden, und zwar auf der Basis dessen, was das Landgericht als Sachverhalt festgestellt hat. Ob diese Feststellungen richtig oder falsch sind, interessiert die Damen und Herren am BGH nicht. Es sei denn, das Landgericht hätte in sein Urteil geschrieben:  „Das Wasser floss den Berg hinauf, wo es bei hoch-sommerlichen Temperaturen zu Eis gefror.“ Das nennt man dann einen „Verstoß gegen die Denkgesetze“ und führt zur Aufhebung des Urteils. Solange das Landgericht nur Rot und Blau verwechselt und Langhaarigen eine Glatze attestiert, muss der Verurteilte eben damit leben. Im Knast kann er ja 5 Jahre darüber nachdenken.

Habe ich alle Fehler gefunden (hoffentlich nicht die entscheidenden übersehen), müssen diese in einer ganz bestimmten Form zu Papier gebracht werden. BGH-Richter gehen an eine Revisionsbegründung heran wie der Bömmel aus der Feuerzangenbowle an die Dampfmaschine: „Da stelle mehr uns janz dumm.

Hat das Landgericht den entscheidenen Alibi-Zeugen einfach nicht geladen, obwohl dies dutzendfach beantragt wurde, mag dem Laien dies fehlerhaft erscheinen. Dem BGH muss man aber zusätzlich noch erklären, was dieser Zeuge voraussichtlich ausgesagt hätte und warum das Urteil dann anders ausgefallen wäre. An diesen Formalien scheitern die meisten Revisionen. BGH-Richter erklären bei Fortbildungsveranstaltungen ungerührt, wie sie Fehler im Urteil zweifelsfrei erkannt haben. Es hat sie aber nicht interessiert, weil der Anwalt den Fehler nicht formvollendet gerügt hat.
Macht ja nix, geht ja nur um 5 Jahre Haft.

Wenn die Revisionsbegründung fertig ist, hat man Tage und Nächte mit dem Urteil und dem Protokoll verbracht. Für einen einzigen Brief? Ich habe es mir abgewöhnt, die Stunden zu zählen, denn sonst müsste ich wohl ernsthaft darüber nachdenken, ob mir der gesetzliche Mindestlohn gezahlt wird.

Das anwaltliche Honorar, welches heute mein Thema ist, wird zwar auch danach bemessen, welche Bedeutung eine Sache für den Mandanten hat. Aber was heißt das konkret? In dem einen Monat, der ihm für die Revisionsbegründung bleibt, trägt der Anwalt die volle Verantwortung dafür, ob sein Klient möglicherweise für 5 Jahre ins Gefängnis geschickt wird. Klingt schwer nach Höchstgebühr.
Es gibt aber nicht nur 5 Jahre, sondern auch noch 10 oder 15 oder lebenslang. Kommt es zum Streit über das Honorar, ist darum meistens schon fraglich, ob der Verteidiger mit seiner Revisionsbegründung überhaupt die Oberkante des Gebührenrahmens touchiert hat. Darüber hinaus gekommen ist er dann sicher nicht. Denn über die Latte segeln nur Stabhochspringer.

Genau darum ist es schlichtweg ein Gebot der Fairness gegenüber seinem Strafverteidiger, eine kostendeckende Vergütung mit ihm zu vereinbaren, bevor er mit der Arbeit beginnt. So erkläre ich das auch meinen Mananten.

Die verstanden haben, einigen sich dann mit mir auf ein angemessenes Honorar. Die nicht verstanden haben, denken über Maßnahmen zur Kostenreduzierung nach und bieten mir an, zunächst einmal einen eigenen Entwurf zu fertigen, damit ich es leichter habe.

Das sind dann die Fälle, wo ich leider das Mandat beenden muss.

Strafrechtsreform

Reform des Sexualstrafrechts

Ich berichte über Rechtsthemen ja gerne mit einem Augenzwinkern. Satire ist mir nicht völlig fremd.

Ein Kollege berichtet hier über die Auswüchse unseres jüngst erst wieder reformierten Sexualstrafrechts. Wahrscheinlich hat er das auch augenzwinkernd gemeint. Es ist aber bittere Realität.

Man lese nur einmal die Kommentare zu dem Artikel.

Lebenslang

Wie lange ist eigentlich „lebenslang“?

James Eagan Holmes müsste eigentlich im Guiness-Buch der Rekorde stehen. Tut er zwar nicht, aber er hat noch viel Zeit, auf Neuauflagen zu warten. Sein Urteil lautet nämlich auf 12 Mal lebenslänglich plus zusätzlich 3.318 Jahre Haft. Ich habe zwar den Prozess nicht verfolgt, stelle mir aber gerade vor, wie der Staatsanwalt auf 13 Mal lebenslänglich plus 3.500 Jahre plädiert und der Verteidiger das Gericht um 1 Leben plus 182 Jahre runterschwätzt. Anschließend fragt er seinen Mandanten voller Stolz auf seine Leistung: »Na, wie war ich?«

Ein solcher Erfolg bliebe ihm bei der deutschen Justiz versagt, denn das Urteil gegen Holmes wurde in den USA gefällt. In Deutschland hätte das Gericht den Staatsanwalt verwundert angeschaut. Denn bei uns steht im Gesetz: »Das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe ist fünfzehn Jahre.« 20 Jahre oder 25 oder 100 und mehr könnten demnach also nicht verhängt werden.

Die ersten Kommentatoren greifen jetzt schon in die Tasten, um mich zu belehren, dass es auch »lebenslänglich« gibt. Dazu komme ich aber erst später, hier geht es zunächst um die »zeitige« Freiheitsstrafe.

Manche Straftäter werden bekanntlich mehrfach straffällig. Die naheliegende Frage ist dann, ob die 15-Jahres-Grenze pro Tat gilt oder eine Obergrenze für alle Taten zusammen bildet. Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Grundsätzlich kennt das Strafrecht den Mengenrabatt, der im Juristendeutsch »Gesamtstrafe« heißt. Stellen wir uns einen Täter vor, der jeweils zum Monatsersten seinen Hartz-4-Regelsatz durch einen schweren Raub aufbessert, für den er bis zu 5 Jahre pro Einzelfall bekommen müsste. Kurz vor Weihnachten wird er erstmals verurteilt, weil man ihm die Raubüberfälle im ersten Halbjahr zwischenzeitlich nachweisen konnte. Unser Räuber bekommt dann nicht 6 x 5 Jahre, sondern es wird eine Gesamtstrafe gebildet, die maximal 15 Jahre betragen darf.

Immerhin reicht es für eine Zelle in der nächsten JVA, wo unserer Räuber dann ganz entspannt abwarten darf, ob man ihm die Raubüberfälle im zweiten Halbjahr auch noch nachweisen kann. Im Ergebnis kann ihm das nämlich egal sein. Zwar wird man ihn ein zweites Mal vor Gericht stellen. Er bekommt aber nicht bis zu 6 x 5 Jahre dazu, auch nicht 1 x 15 Jahre obendrauf, sondern es gilt weiterhin die Obergrenze von 15 Jahren für alle Taten zusammen. Nach dem Urteil wird er dann wahrscheinlich sagen: »Verbrechen lohnt sich doch.«

Nun ist der Hartz-4-Regelsatz angeblich knapp bemessen. Stellen wir uns darum einmal vor, auch das Zusatzeinkommen unseres Räubers hätte nicht bis zum nächsten Monatsersten gereicht, weshalb er in der glühenden Julihitze seinen Durst löschen musste, indem er eine Dose Bier für 39 Cent aus einem Laden mitgehen ließ. Auch diese Akte landet irgendwann bei einem Staatsanwalt, allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Räuber schon wegen der Raubüberfälle im ersten Halbjahr inhaftiert ist. Weil unsere Staatsanwälte aber fleißig sind, klagen sie auch diesen Ladendiebstahl noch an.

Nun hat unser Räuber Grund zu zittern!

Der Diebstahl einer Bierdose lag nämlich genau zwischen dem ersten und dem zweiten Halbjahr. Der Trick mit der Gesamtstrafe von maximal 15 Jahren funktioniert nun nicht mehr. Das Gericht wird vielmehr aus den ersten 6 Raubüberfällen und dem Bierdosendiebstahl eine Gesamtstrafe bilden, die – mittlerweile dürfte es jeder kapiert haben – 15 Jahre nicht überschreiten darf. Die Raubüberfälle im zweiten Halbjahr können nun aber nicht mehr in die Gesamtstrafe einbezogen werden. Unser Räuber bekommt also für das zweite Halbjahr zwar nicht 6 x 5 Jahre, aber eine zusätzliche Strafe von maximal 15 Jahren.

Im Endeffekt könnte er sich also 30 Jahre einfangen. Er darf sich dann neben James Eagan Holmes für einen Eintrag im Guiness-Buch bewerben, und zwar in der Sparte »Teuerste Bierdose aller Zeiten.«

Von einer 30jährigen Haft ist es nun kein großer Sprung mehr zur lebenslangen Freiheitsstrafe. Die gibt es tatsächlich und der Volksmund glaubt zu wissen, dass es sie nur für Mord gibt. Stimmt leider nur fast, denn das Gesetz kennt auch einen besonders schweren Fall des Totschlags. Der wird ebenfalls mit lebenslang bestraft. Außerdem gibt es Taten »mit Todesfolge«. Wenn das Opfer einer Vergewaltigung oder eines Raubes zwar nicht bei der Tat getötet wird, aber durch die Folgen der Tat stirbt, droht dem Täter lebenslang.

Lebenslang heißt – lebenslang! Wenn die Presse von einer lebenslänglichen Verurteilung berichtet, gibt es immer irgendwo einen, der sich damit auskennt und prophezeit, dass der Verurteilte »in 15 Jahren wieder draußen« sei. Ganz so einfach ist dies nicht. Es wird lediglich nach 15 Jahren erstmals geprüft, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dies ist aber kein Selbstläufer. Oftmals fehlt es an der Prognose, dass der Häftling sich bewähren werde. Dann muss er eben nachsitzen.

Obendrein – wir sind hier schließlich in Deutschland – hat der Häftling auch einen Anspruch darauf, dass seine lebenslange Freiheitsstrafe ordnungsgemäß vollstreckt wird. Wenn die Justiz ihn nach 15 Jahren einfach rausschmeißen will, darf er darauf bestehen, weiter drin zu bleiben. Ich hatte Anfang der 1990er Jahre mal mit einem Gefangenen zu tun, der Mitte der 1960er Jahre inhaftiert worden war. Er hatte also das Leben in Freiheit verloren zu einer Zeit, als der Schwarzweiß-Fernseher für seine Mitbürger die Krone des technischen Fortschritts war. Bereits die Mondlandung hatte er im Knast miterlebt, ebenso alles, was danach folgte. Das Leben »dort draußen« macht ihm Angst. Er wollte sein Gefängnis nicht verlassen und ist später dort auch gestorben. Lebenslang heißt – lebenslang!

Die Möglichkeit, trotz einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe irgendwann auf Bewährung entlassen zu werden, verdanken wir übrigens dem Bundesverfassungsgericht. Das musste sich im Juni 1977 mit der Frage befassen, ob die lebenslange Vollstreckung einer Freiheitsstrafe mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Das BVerfG hat damals viele Gutachten eingeholt und sich in seinem Urteil damit auseinandergesetzt.

Wer etwas über die Auswirkungen einer Langzeithaft erfahren möchte, dem empfehle ich die Lektüre => hier. Für die Eiligen zitiere ich, was dort über den Zustand eines Menschen nach 20 Jahren hinter Gittern gesagt wird:

»Dann beginnt … ein grausames Zerstörungswerk des inneren Lebens durch die abtötende Haft. Das Notwendigste und Beste im Menschen, sein Wille, zum Schlechten, aber auch zum Guten wird langsam, aber sicher gewürgt. Es fehlt die den Menschen »heiligende« Freude. Das Vegetieren beginnt und siegt. Die Gefangenen werden stumpf und gefühllos, Maschinen, endlich Ruinen. Das ist der Nährboden für entstehende geistige Störungen.«

Tatherrschaft

Was bedeutet eigentlich „Tatherrschaft“?

Es wird Blut fließen, viel Blut. Das verdanken wir allein einem einzigen Mann, der von seiner weit entfernten Hauptstadt aus eine andere Stadt zur Hauptstadt des Staates Israel ernannte. Jeder weiß, dass er damit ganze Länder ins Chaos treibt und heftigste Auseinandersetzungen gezielt provoziert. Er tritt bildlich gesprochen eine Lawine los, die über viele Menschen viel Leid bringt. Andere sprechen von einem Flächenbrand, der nun im Nahen Osten zu erwarten sei.

Würde unsereiner im Skiurlaub aus Spaß, aus Dummheit, aus Arroganz oder warum auch immer eine Piste nutzen, vor der jeder warnt und die wegen Lawinengefahr gesperrt ist, würden wir ihn wegen der Lawine, die er auslöst, um friedliche Winterurlauber zuzuschütten, vor Gericht stellen. Nicht anders verfahren wir mit einem, der Streichholz und Benzinkanister einsetzt, um seine Paranoia auszuleben.

Warum muss Donald Trump dann keine Anklage fürchten?

Abgesehen davon, dass für Trump kein deutsches Recht gilt, besteht ein entscheidender Unterschied zwischen seiner Lawine und den Schneemassen im Winter oder der Feuersbrunst des Brandstifters: Schnee denkt nicht. Feuer denkt auch nicht. Ob Trump das tut, wissen wir nicht, darauf kommt es aber nicht an, denn seine Lawine kann denken, sein Flächenbrand auch. Die er provoziert sind Menschen aus Fleisch und Blut. Es steht ihnen völlig frei, ob sie wegen der Hauptstadtfrage sich gegenseitig erschlagen oder unschuldige Dritte. Zumindest theoretisch könnten sie es auch ganz sein lassen – was voraussichtlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden wird. Solange jedoch für vernünftige Menschen noch Alternativen bestehen zum Ausbruch der Gewalt, kann Trump juristisch nicht schuld daran sein, dass es knallt.

Um das auch wirklich zu verstehen, muss man weit ausholen, mehr als eineinhalb tausend Jahre weit. Es waren die frühchristlichen Theologen, die sich bereits in der ausgehenden Antike den Kopf darüber zerbrachen, wieso Gott, der doch von ihnen als in allem perfekt erdacht war, eine derart schlechte Welt mit solch überaus bösen Menschen geschaffen hat. Aurelius Augustinus löste das Problem mit einem genialen Kniff: Er erfand den freien Willen. Der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, so habe es der Schöpfer gewollt, weshalb – in letzter Konsequenz – selbst Auschwitz kein Anlass sein sollte, an der göttlichen Perfektion unserer Welt zu zweifeln. Für solche Ideen wird man als Kirchenlehrer verehrt.

Das Strafrecht hat zwar Gott aus der Gleichung gestrichen, den Gedanken vom freien Willen aber übernommen und zum Fundament der Strafbarkeit ausgebaut. Eigenverantwortliches Handeln unterstellt es dem Menschen und erwartet es von ihm. Ein hehrer Anspruch angesichts manch triebgesteuerter Dumpfbacken. Und ein gutes Beispiel dafür, wie Ideale immer in ihr Gegenteil verdreht werden. Der Staat schätzt den freien Willen seiner Bürger nirgendwo so hoch wie dort, wo er sie bestrafen will. Und er achtet mit seinen Gesetzen immer sorgfältig darauf, dass manche sich ihnen geschickt entziehen können. Darum ist der Täter im Hintergrund fein raus, denn man kann ihn nicht dafür verantwortlich machen, dass andere den Stein werfen, den er zufällig im richtigen Moment aufgehoben hat.

Schlaumeier werden jetzt „Anstiftung“ rufen, aber es kann niemand ernsthaft behaupten, Trump habe irgendeinen Palästinenser direkt dazu aufgefordert, einen Molotow-Cocktail zu schleudern. Er hat es gewusst, erhofft, provoziert – aber eben nicht zu verantworten. Strafjuristen sprechen von fehlender Tatherrschaft und verneigen sich vor der Größe des menschlichen Geistes.

Damit rücken diejenigen in den Blick des Strafrechts, welche die Herrschaft über all die nun bevorstehenden Gewalttaten haben, also die Krawallmacher auf der Straße. Sie kommen in der öffentlichen Diskussion etwas knapp weg. Kommentatoren bejammern lautstark, dass der Mob nun wieder von der Leine gelassen wurde. Aber niemand stellt die Frage, weshalb er eigentlich angeleint sein müsste. Können diese wütenden Demonstranten etwa nicht anders? Haben sie einen Gendefekt, der sie zwingt, Pflastersteine herauszureißen und zu werfen? Oder folgen sie ihrem freien Willen, auch wenn sie „De libero arbitrio“ von Augustinus vermutlich nie gelesen haben?

Würde in der jetzt aufgeheizten Situation einmal nicht populistisch-journalistisch sondern kühl juristisch argumentiert, käme die öffentliche Meinung vielleicht zu einem völlig anderen Ergebnis: Nicht Trump wäre schuld, auch nicht andere politische oder religiöse Führer, die den Konflikt anheizen, sondern der einzelne Wüterich, der vermummt oder offen randaliert. Eine verwirrende Analyse der Situation. Und ein Grund dafür, warum juristischer Sachverstand so ziemlich das Letzte ist, was in einer politischen Diskussion gebraucht wird.

Vor Gericht kannst Du, geneigter Leser, Dich jedoch darauf verlassen, dass politische Erwägungen es Dir nicht ersparen, wegen Deines freien Willens verurteilt zu werden. Die Massenschlägerei vor dem Fußballstadion erscheint nicht in einem milderen Licht, weil Bayern München schon wieder gewonnen hat. Und das Auto, das Du beim G-20-Gipel abgefackelt hast, verzeiht man Dir nicht deshalb, weil der um seine Ersparnisse fürchtende griechische Rentner Deinen heiligen Zorn entfachte.

Strafgerichte sind emotionslos. Dein Kampf für eine gerechtere Welt ist ihnen schon deshalb suspekt, weil Du nicht berufen bist, für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Inquisition

Was ist eigentlich die „Inquisitionsmaxime“?

Hollywood hat uns den Inquisitionsprozess als düsterstes Kapitel des finsteren Mittelalters verkauft. Dabei war er strafprozessual ein echter Fortschritt. Ich hätte keine Lust, die Richtigkeit einer Aussage jedes Mal durch „sechs ehrbarer Männer Eid, denen zu glauben sey“ oder durch Gottesurteile beweisen zu müssen. Mir liegt eher die rationale Beweisführung mit protokolliertem Prozessablauf. Nichts anderes war der Inquisitionsprozess, der in Deutschland vom Spätmittelalter bis etwa zu Goethes Zeiten praktiziert wurde. Danach hat man das Verfahren etwas humanisiert (Abschaffung der Folter), erweitert (Zulassung anderer Beweismittel als Zeugen) und personell aufgepeppt (Erfindung der Staatsanwaltschaft). Schon war unsere heutige Strafprozessordnung geboren, die sich lange Zeit eines gesunden Wuchses erfreute. In letzter Zeit bekommt sie einige hässliche Wucherungen, weil zu viel an ihr herumgedoktert wird. Könnte sein, dass sie allmählich dem Siechtum anheimfällt.

Jedenfalls ist es historisch nicht ganz verkehrt, ihre Wurzeln im alten Inquisitionsprozess zu suchen, weshalb man die Vorgehensweise eines Strafrichters auch heute noch als Inquisitionsmaxime bezeichnet. Darunter versteht man das Prinzip, dass der Richter von Amts wegen alles Erforderliche unternimmt, um die Wahrheit zu erforschen. Das Ergebnis seiner Ermittlungen nennt man dann „materielle Wahrheit“.

Allerdings kann es Dir, geneigter Leser, auch passieren, dass ein Richter einfach sagt: „Interessiert mich doch nicht, was hier wahr ist.“ Dann bist Du in einem Zivilprozess gelandet, wo statt der Inquisitionsmaxime die Verhandlungsmaxime gilt. Wenn dort zwei Streithähne übereinstimmend behaupten, der Schornsteinfeger habe eine weiße Uniform getragen, dann unterstellt der Richter dies eben als wahr und legt es seinem Urteil zugrunde. Man spricht dann von der „formellen Wahrheit“. Die würde mir in manchen Strafprozessen besser gefallen, ist aber bei Staatsanwälten extrem unbeliebt.

Lustig wird es, wenn beide Maximen aufeinandertreffen, also zwei unterschiedliche Gerichte denselben Sachverhalt nach ihren jeweiligen Vorschriften untersuchen. Schlägt der Willi Wüterich dem Hans Halbblind ein Auge aus, landet er wegen der schweren Körperverletzung vor dem Strafgericht und wegen einer Schmerzensgeldforderung vor dem Zivilgericht. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass ein Richter ihn für schuldig befindet, der andere aber für unschuldig und umgekehrt. So ist das mit der Wahrheit im Prozess: Mal ist sie formell, mal materiell, meistens aber falsch.

Darum hat Hollywood noch etwas ganz Besonderes aus dem Hut gezaubert. Dort kennt man nämlich auch „die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.“ Klingt bombastisch, ist aber nur großes Kino. Vor Gericht ist mir die noch nie begegnet.

Denunziantentum

Wie macht man eigentlich eine „anonyme Anzeige“?

„Herr XY und sein Sohn vertreiben Kinderpornographie der übelsten Art. Der Computer ist im Keller versteckt“. So schrieb kürzlich ein Unbekannter an eine bayerische Staatsanwaltschaft. Ein Brief, der die Strafverfolger elektrisierte.

Die zuständige Kriminalpolizei stellte umgehend fest, dass die namentlich benannten Personen tatsächlich existierten. Ein sehr starkes Verdachtsmoment! Wenn einer behauptet, dass Elvis lebt und die Kripo bei ihren Ermittlungen feststellt, dass es einen Elvis zumindest einmal gab, dann spricht viel dafür, dass diese anonyme Anzeige auf wahren Tatsache beruht. Also auf nach Memphis zur Durchsuchung.

Allerdings barg der bayerische Fall ein Problem: Die Wohnadresse war falsch angegeben. Was nun? Die Staatsanwaltschaft entschied sich trotzdem dafür, Durchsuchungsbeschlüsse zu beantragen, was der zuständige Ermittlussgrichter aber ablehnte. Hiergegen richtet sich eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die der Meinung war, das „ihre“ anonyme Anzeige weit über eine gewöhnliche anonyme Anzeige hinausgehe. Schließlich sei ja auch der Standort eines Computers – nämlich „im Keller“ – angegeben worden. Aber auch die Beschwerdekammer des Landgerichts wollte keinen Durchsuchungsbeschluss erlassen. Argument: „Anonyme Anzeigen rechtfertigen in der Regel keinen Anfangsverdacht. Jegliche andere Sichtweise würde dem Denunziantentum Tür und Tor öffnen.“

Wenn Du, geneigter Leser, Deinen Feind mit Erfolg denunzieren willst, dann sollte Dir dieser Fall eine Lehre sein. Was der Anzeigeerstatter nämlich hier versäumte, waren Fakten, die keine Fakten sind, sich aber so anhören als ob. Postfaktische Fakten gewissermaßen.

Willst Du es besser machen, so schreibe beispielsweise: „Der Computer wurde vor zwei Jahren im Media-Markt gekauft.“ oder „Die Eingangstür zum Keller ist knallrot lackiert.“ oder „Der Rechner ist durch ein Passwort gesichert.“ Solche Sätze wirken magisch auf die Ermittler, denn die fragen sich dann: „Woher sollte der anonyme Anzeiger so etwas wissen, wenn es nicht tatsächlich wahr ist?“ Sie können sich der Magie dieser Fakten nicht entziehen. Am besten Du zeigst Dich einmal anonym selbst an und verteidigst Dich dann mit dem Satz: „Meine Kellertür ist aber weiß.“ Dann wirst Du verstehen, was ich meine. Die Polizei wird alle Lackschichten auf der Kellertür abkratzen, nur um etwas Knallrotes zu finden.

Aber Vorsicht: Die postfaktischen Fakten sollten nicht zu präzise sein. Wenn Du in Deine Anzeige den Satz schreibst: „Neulich beim Stromausfall ging der Rechner aus.“ oder „Der Keller hat einen Seitenausgang in den Garten.“, dann verdirbst Du der Strafverfolgung den Spaß. Stromausfälle und Seiteneingänge lassen sich nämlich nachprüfen. So etwas sollte man nur behaupten, wenn es auch stimmt. Besser ist es allemal, möglichst schwurbelig zu bleiben, also nur so zu tun, als könne man Fakten liefern. Dann geht das Ding glatt durch.

Auf keinen Fall solltest Du Fakten erfinden, die Dich enttarnen. „Ich kann immer von gegenüber zuschauen“, wäre prinzipiell eine gute Idee, führt aber möglicherweise zu einer Durchsuchung nicht nur bei Deinem Nachbarn, sondern gleich auch noch bei Dir. Falsche Verdächtigung und üble Nachrede sind nämlich ebenfalls Straftaten und gegenüber von jemandem zu wohnen, der zu Unrecht denunziert wurde, erscheint Ermittlungsrichtern als ziemlich gutes Argument für den Erlass eines entsprechenden Beschlusses.

Du bekommst jetzt langsam ein flaues Gefühl im Magen, nicht wahr? Fragst Dich, ob Du in Deinem my home is my castle auch tatsächlich sicher bist vor unangenehmem Durchsuchungen. Nun, dann habe ich mit diesem Beitrag mein heutiges Ziel erreicht. Ich mag auch keine Denunzianten, wollte aber wenigstens mal gesagt haben, wie dünn das Eis ist, das Dich als Richtervorbehalt vorm Sturz ins eiskalte Wasser schützt.

Beweiswürdigung

Was passiert eigentlich bei der „Beweiswürdigung“?

Von Beweisaufnahmen vor Gericht wissen viele nur Folgendes: Max Mustermann wird als Zeuge aufgerufen, macht eine Aussage und geht. Dann wird Michaela Musterfrau als Zeugin vernommen, behauptet das Gegenteil und geht ebenfalls. Am Ende gibt es ein Urteil, das darüber entscheidet, ob jemand schuldig ist oder nicht. Woher die Gerichte wissen, ob der Mustermann oder die Musterfrau gelogen haben, bleibt im Dunkeln.

Die Kunst, dies zu entscheiden, nennt man Beweiswürdigung. Es ist der geheimnisvollste Teil eines Strafprozesses. Im Fernsehen sieht man nie etwas davon und auch in der Realität findet die Beweiswürdigung hinter verschlossenen Türen statt. Ebenso mysteriös wie der Ablauf der Beweiswürdigung ist die Tatsache, dass es gleich zwei verschiedene Arten davon gibt.

Manchmal steht nämlich Aussage gegen Aussage, es gibt also nur einen vermeintlichen Täter und ein angebliches Opfer. Dies ist häufig aber nicht nur bei Sexualdelikten der Fall, weil diese ja gerne unter vier Augen stattfinden. In solchen Fällen sind die Richter aufgefordert, die belastende Zeugenaussage einer »besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung« zu unterziehen. Erforderlich ist dann eine »sehr sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.« (ständige Rechtsprechung des BGH).

In allen anderen Fällen, wenn es also mehrere Zeugen gibt oder darüber hinaus noch sonstige Beweismittel (Urkunden, Sachverständige usw…), dann gelten diese hohen Anforderungen seltsamerweise nicht. Ob die Gerichte dann nur eine „Beweiswürdigung light“ durchführen, weiß ich nicht. Es bleibt ja geheim.

Für den Normalfall gilt also der Grundsatz: Ob die Musterfrau oder der Mustermann gelogen hat, entscheidet allein das Gericht im stillen Kämmerlein. Und was die Strafkammer eines Landgerichts für die Wahrheit hält, ist und bleibt die Wahrheit. Daran lässt sich nicht mehr rütteln, es gibt keine weitere Instanz, die diese Tatsachenfeststellungen ändern könnte. Zweifelsohne eine der ganz großen Schwachpunkte des Strafprozesses. Versuche, dies zu ändern (etwa durch Tonbandmitschnitte der Hauptverhandlung) werden von interessierter Seite konsequent abgeblockt. Infolgedessen steht über die dreitägige Aussage des Hauptbelastungszeugen (und aller anderen auch) nur ein einziger Satz im Protokoll: Der Zeuge bekundete zur Sache.

Wie kann es aber sein, dass um die Wahrheit so gestritten wird? Gibt es denn mehrere Wahrheiten?

Wenn Du, geneigter Leser, eine Weinstube verlässt, ohne Deinen Riesling zu bezahlen, sieht ein Staatsanwalt darin umgehend eine Zechprellerei. Vielleicht hat aber auch der Wirt zuvor gesagt: »Der geht auf´s Haus.« Oder Du erhieltest einen Anruf, der so dringend war, dass Du in der Hektik das Bezahlen glatt vergaßest. Oder der Wein war so hundsmiserabel und korkschmeckend, dass Du es schlichtweg abgelehnt hast, ihn zu bezahlen, oder … Es gibt vielleicht nicht verschiedene Wahrheiten, aber jede Geschichte hat mehrere Seiten. Die richtige Seite herauszuarbeiten ist, worum es geht und von welcher Seite ein Geschehen zu betrachten ist, lohnt allemal den Streit darum.

Wenn es aber so schwierig ist, die Wahrheit aus lauter unterschiedlichen Schilderungen zu extrahieren, ist dann das Fachpersonal wenigstens besonders darin geschult? Leider muss ich Dich enttäuschen, denn wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema liefern triste Ergebnisse.

Am gefährlichsten ist die Maxime aller Kriminalpolizisten: das Bauchgefühl. Sein Wert entspricht der Wahrscheinlichkeit beim Würfeln. Die Chance, einen Lügner dadurch zu erkennen, ist genauso hoch wie die, einer wahrheitsgemäß aussagenden Person nicht zu glauben.

Richter gelten im Vergleich mit Polizisten als eher objektiv und argumentieren nicht mit dem Bauchgefühl, sondern mit ihrem persönlichen Eindruck von dem Zeugen. Der unterliegt aber nicht minder irrationalen Einflüssen. Vor der Mittagspause neigen sie eher zu Schuldsprüchen als danach. Die Glaubwürdigkeit wird rein intuitiv beurteilt, nach Alltagstheorien oder – so formulierte jüngst ein Richter in einem Fachaufsatz – »nach Begründungsmustern, die wissenschaftlich meist wertlos sind“. So jedenfalls will es die Forschung festgestellt haben und liefert auch gleich eine Statistik dazu. Um 50% liege die Trefferquote bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung. Das entspricht ziemlich genau den Möglichkeiten, die man bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen überhaupt hat: Ja oder Nein.

Der Grund, warum die Strafgerichte ihre Urteile trotzdem nicht auslosen, liegt in einem Umstand begründet, welcher der Vollständigkeit halber zumindest erwähnt werden soll. Die umfassende Beweiswürdigung beinhaltet nämlich zwei Aspekte, zum einen die Glaubhaftigkeit einer Aussage und zum anderen die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Zumindest der erste dieser Aspekte ist einer rationalen Überprüfung durchaus zugänglich. Wer mir erzählt, ohne technische Tricks eine Stunde tauchen zu können, ist genauso unglaubwürdig wie der, der es gesehen haben will. Da ist die Aussage inhaltlich schon falsch, weshalb die Glaubwürdigkeit des Zeugen irrelevant erscheint.

Aber was ist mit den echten Zweifelsfällen, die wirklich als reine Glaubensfrage zu entscheiden sind?

Auch hierzu gibt es Untersuchungen. Sie geben Grund zur Beunruhigung. Professoren haben für so etwas immer beeindruckende Begriffe, sprechen vom Perseveranz-Effekt und der kognitiven Dissonanztheorie, vom Pappenheimer-Syndrom und dem Inertia-Effekt. Gemeint ist etwas ziemlich Einfaches: Legt man dem Gericht eine Akte vor, die zu Beginn immer nur belastendes Material enthält, werden die entlastenden Gesichtspunkte im hinteren Aktenteil kaum noch zur Kenntnis genommen. Wer je eine Strafakte durchgeblättert hat, wird nun wissen, warum sie genau so aufgebaut ist.

Was Presse und Justiz oft beleidigt als »Konfliktverteidigung« diffamieren, ist vor diesem Hintergrund nichts anderes, als der Versuch der Strafverteidigung, auf die Wahrheitsfindung eines sich sakrosankt wähnenden Gerichts irgendwie Einfluss nehmen. Vielleicht führt ja noch ein anderer Zeuge weiter, eventuell bringt der nächste Beweisantrag ans Licht, dass es anders gewesen sein könnte. Es ist ein einsamer Kampf gegen immer höhere Hürden. Aber es ist Deine einzige Chance.

Richterliche Unabhängigkeit

Wie weit geht eigentlich die „richterliche Unabhängigkeit“?

Das Netz ist voll von skurrilen Urteilen. Ich erwähne hier nur mal zwei herausragende Beispiele (mit Quellenangabe, falls es jemand nicht glauben will):

1.) Das Landgericht Stuttgart hat einst verlauten lassen, was es von der Urteilsfindung in oberen und höchsten Gerichten hält:

»Die entsprechende Rechtsprechung des BGH ist für das Gericht obsolet. Beim BGH handelt es sich um ein von Parteibuch-Richtern der gegenwärtigen Bonner Koalition dominierten Tendenzbetrieb, der als verlängerter Arm der Reichen und Mächtigen allzu oft deren Interessen zielfördernd in seine Erwägungen einstellt und dabei nicht davor zurückschreckt, Grundrechte zu mißachten, wie kassierende Rechtsprechung des BVerfG belegt.
Die Rechtsprechung des 9. Senats des OLG Stuttgart ist der des BGH konform, ja noch »bankenfreundlicher«, sie ist von der (wohl CDU-) Vorsitzenden des Senats bestimmt, die der gesellschaftlichen Schicht der Optimaten angehört (Ehemann Arzt) und deren Rechtsansichten evident dem Muster »das gesellschaftliche Sein bestimmt das Rechtsbewußtsein« folgen. Solche Richterinnen haben für »kleine Leute« und deren, auch psychologische, Lebenswirklichkeiten kein Verständnis, sie sind abgehoben, akademisch sozialblind, in ihrem rechtlichen Denken tendieren sie von vornherein darwinistisch. »Banken« gehören für sie zur Nomenklatura, ehrenwerte Institutionen, denen man nicht sittenwidriges Handeln zuordnen kann, ohne das bestehende Ordnungsgefüge zu tangieren. Und immer noch spukt in den Köpfen der Oberrichter das ursprüngliche BGH-Schema herum, daß nämlich die sog. Privatautonomie als Rechtsinstitut von Verfassungsrang die Anwendung des § 138 BGB auf Fälle vorliegender Art verbiete, obwohl doch § 138 BGB die Vertragsfreiheit verfassungskonform limitiert.« (LG Stuttgart · Urteil vom 12. Juni 1996 · Az. 21 O 519/95, abgedruckt hier)

2.) Noch drastischer urteilte das Landgericht Mannheim, welches gleich alle Vorderpfälzer in einen Topf warf:

»Es handelt sich hier um eine Erscheinung, die speziell für den vorderpfälzischen Raum typisch und häufig ist, allerdings bedarf es spezieller landes– und volkskundlicher Erfahrung, um das zu erkennen – Stammesfremde vermögen das zumeist nur, wenn sie seit längerem in unserer Region heimisch sind. Es sind Menschen von, wie man meinen könnte, heiterer Gemütsart und jovialen Umgangsformen, dabei jedoch mit einer geradezu extremen Antriebsarmut, deren chronischer Unfleiß sich naturgemäß erschwerend auf ihr berufliches Fortkommen auswirkt. Da sie jedoch auf ein gewisses träges Wohlleben nicht verzichten können – sie müßten ja dann hart arbeiten –, versuchen sie sich “durchzuwursteln” und bei jeder Gelegenheit durch irgendwelche Tricks Pekuniäres für sich herauszuschlagen. Wehe jedoch, wenn man ihnen dann etwas streitig machen will! Dann tun sie alles, um das einmal Erlangte nicht wieder herausgeben zu müssen, und scheuen auch nicht davor zurück, notfalls jemanden “in die Pfanne zu hauen”, und dies mit dem freundlichsten Gesicht.« (LG Mannheim, Urteil vom 23.01.1997 – (12) 4 Ns 48/96, abgedruckt in NJW 1997, 1995f)

Da fragt sich mancher, ob die sowas dürfen. Die Antwort ist klar: Natürlich dürfen die das, denn Richter sind nur und ausschließlich dem Gesetz unterworfen. Das hat Konsequenzen in einem Land, das nach dem Verbotsprinzip lebt, wo also gilt, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten wurde. Grenzen setzt den Richtern folglich nur das Strafrecht. Beleidigen oder übel nachreden sollte man auch in einem Urteil nicht und irgendwo droht auch noch die Rechtsbeugung. Da urteilen dann Richter über Rechtsverstöße von Richtern – wahrscheinlich der am wenigsten zur Verurteilung führende Tatbestand des ganzen Rechts.

Da wir uns mittlerweile in der Weihnachtszeit befinden, könnte man sich da mal fragen, ob Richter auch über eine jungfräuliche Geburt entscheiden können. Du magst Dich, geneigter Leser, fragen, weshalb dies denn in unserer modernen Welt eine Rolle spielen sollte. Doch in der Juristerei gibt es nichts, das es nicht gibt. Es geschah nämlich tatsächlich in Hessen vor gut zwei Jahrzehnten, dass eine verheiratete Frau ein Kind gebar und selbstverständlich (= als Zeugin vor Gericht) behauptete, der Kindsvater sei ihr Ehemann. Nachdem dies durch Gutachten widerlegt worden war, fiel ihr ein, dass ein „Herr aus Hamburg“ sie mal geküsst hatte, weshalb sie wohl vom Küssen schwanger geworden sein müsse.

Der zuständigen Staatsanwaltschaft reichte dies für eine Anklage wegen uneidlicher Falschaussage, weshalb letztlich ein Strafrichter darüber zu entscheiden hatte, ob Frauen vom Küssen schwanger werden können. Und tatsächlich erinnerte sich der Amtsrichter an die in der Bibel erwähnte unbefleckte Empfängnis, auf der so wörtlich „immerhin die Kulturgeschichte des christlichen Abendlandes zu einem nicht unerheblichen Teil beruht.“ Er entschied folglich, dass der Frau eine Falschaussage nicht nachgewiesen werden könne und ließ die Anklage nicht zu.

Wer das jetzt verrückt findet, möge darüber nachdenken, was die Alternative wäre. Strafrecht ist eine Waffe und es gibt genügend Länder, in denen Strafrichter Instrument der Politik sind. Eine mit dem Segen der Justiz vorgeflunkerte Jungfrauengeburt ist eine Bagatelle gegen die ungezählten Menschen weltweit, die im Namen einer korrumpierten Gerechtigkeit hinter Gittern verrotten.