Wie funktioniert eigentlich eine „Beweisführung“?
Peter war ein bescheidener Rentner mit wenig Ansprüchen an das Leben. Gegen Abend suchte er regelmäßig seine Stammkneipe auf und trank am Tresen ein paar Bier. Damit war er zufrieden. Bis auf jenen Abend, an dem ein Fremder in Peters Stammkneipe feierte. Der war „nicht von hier“, sondern aus dem Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer flussaufwärts. Er wollte einen draufmachen und das tat er: Lautstark, grölend, großkotzig. Peter fühlte sich gestört. „Geht das auch ein bisschen leiser?“, fragte er. Sonst nichts. Aber für den Fremden war das ein Satz zu viel.
Wenig später wollte Peter nach Hause gehen. Er verließ die Stammkneipe, zündet sich eine Zigarette an und atmete tief durch in der kalten, klaren Nacht. Dann trafen ihn drei Messerstiche von hinten im Brustkorb. Der Täter flüchtete, aufmerksame Passanten riefen den Notarzt. Peter überlebte.
Mordversuch nennt Peter das noch heute. Aus Gründen, die sich hinter Begriffen wie „freiwilliger Rücktritt“ verbergen, nennen Juristen eine solche Tat nur gefährliche Körperverletzung. Es ist keine sonderliche Verteidigerkunst, solche Täter mit einer Bewährungsstrafe aus der Sache heraus zu holen. Mein Mandant war allerdings nicht der Täter, sondern Peter, für den ich das Maximum erstreiten wollte. Daher begab ich mich in das Nachbarstädtchen, ein paar Kilometer Fluss aufwärts. Meine Vorstellung von Strafrecht war damals geprägt durch die Filmindustrie und ich dachte ernsthaft, ein guter Anwalt müsse ermitteln wie ein Privatdetektiv. Also fragte ich mich durch die Kneipen bis ich wusste, wo ich den Täter finden würde. Eines Abends saß er mir tatsächlich am Tresen gegenüber: Lautstark, grölend, großkotzig.
Von Beruf war er Kraftfahrer, weshalb er immer ein 0,4-Liter-Glas H-Milch neben seinen zahlreichen Drinks stehen hatte. Das würde „den Atem reinigen“, verkündete er permanent. Ich beobachtete und machte Notizen.
Im Prozess kam das zu erwartende Repertoire: Völlig alkoholungewohnt, immer nur am arbeiten, ein einziges Mal Party gemacht, ausnahmsweise über die Stränge geschlagen, nicht mehr Herr seiner Sinne … Der Psychogutachter nickte zustimmend, bis das Fragerecht an mich ging. Ich wusste, dass der Täter meine Fragen nicht einmal beantworten musste, weshalb ich uns jedes Taktieren ersparte und gleich auf den Punkt kam: „Weshalb trinken Sie bei ihren Sauftouren eigentlich immer ein Glas H-Milch?“
Der Angeklagte erbleichte, der Verteidiger reagierte falsch: „Was soll diese Frage?“ Ich berichtete von meinem Kneipenbesuch, der Gutachter zog einen langen Querstrich durch seine Notizen, das Gericht schaute den Angeklagten grimmig an. Am Ende bekam er keine Bewährung. Ein schöner Erfolg, aber wie wäre dieser Fall ohne das Glas Milch ausgegangen?
Strafverteidigung ohne eigene Ermittlungsergebnisse ist darauf beschränkt, die Beweisführung der Staatsanwaltschaft zu torpedieren. Dies geschieht durch Beweisanträge, deren Formulierung durchaus Kunstfertigkeit erfordert. Zusätzlich sollte man Beweisverwertungsverbote erkennen und effektiv rügen können. Und man muss wissen, worauf es bei Rechtsmitteln ankommt. Denn oft kann der Strafprozess in erster Instanz gar nicht gewonnen werden. Beim schuldigen Mandanten ist die Verurteilung schließlich per se kein falsches Urteil. Sie kann allerdings ein Fehlurteil sein. Darauf zielt Verteidigung dann ab.
Auf der Verteidigerbank im Gerichtssaal sitzt idealerweise eine gespaltene Persönlichkeit. Die eine stellt Fragen oder Anträge. Die andere beobachtet den Prozess wie ein Zuschauer, bewertet das Verfahren permanent aus der Sicht einer höheren Instanz und schafft die Grundlagen für erfolgreiche Rechtsmittel. Das kann richtig Spaß machen. Ich zerbreche mir vor einer Verhandlung oft stundenlang den Kopf darüber, wann und wie ich einen Bauern auf dem Schachbrett des Strafprozesses bewege. Reagiert die Gegenseite darauf mit einer geschickten Rochade, ringt mir dies sogar Anerkennung ab. Clevere Winkelzüge, facettenreiche Taktik und geistreiche Scharmützel faszinieren mich – selbst wenn der Mandant dafür in den Knast wandert.
Doch wie, so magst Du, geneigter Leser, Dich fragen, wie findet der Strafverteidiger das streitentscheidende Glas Milch?
Ich bin unentwegt davon überzeugt, dass die eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers (vergleiche dazu auch => hier) einer der wenigen Schlüssel zum Erfolg ist. Aber diese Arbeit können nur junge unterbeschäftigte Anwälte leisten. Irgendwann muss man sich als Strafverteidiger von Hollywood verabschieden, denn dafür braucht es Mandanten, die solche Arbeit angemessen vergüten. Tun sie leider nicht, weshalb hervorragende Verteidigungsansätze oftmals nicht genutzt werden.
Würde Peter heute nochmals niedergestochen, bekäme der Täter Bewährung.