Was ist eigentlich die „formelle Rechtskraft“?
Auch wenn die Juristerei unter dem Deckmäntelchen einer Wissenschaft daher kommt, ist sie im Grunde genommen nur Rechthaberei. „Ich habe Recht!“, sagt der Klient zu seinem Anwalt, der zum Gegenanwalt, beide zum Gericht und dieses wiederum durch drei Instanzen. Das Merkwürdige dabei: Jeder kommt zu einem anderen Ergebnis, das er für Recht hält. Daher auch der Spruch „Zwei Juristen, drei Meinungen“. Gäbe es noch die vierte, fünfte, n-te Instanz, würden die ganz neue Behauptungen zum Recht postulieren. Darum muss irgendwann Schluss sein, ein Sachverhalt letztinstanzlich entschieden, eine der vielen unterschiedlichen Auffassungen für verbindlich erklärt werden. Zu diesem Zweck entzieht der Gesetzgeber den Streithanseln an einem bestimmten Punkt die Möglichkeit, noch weitere Rechtsmittel einlegen zu können. Dann tritt Rechtskraft ein.
„Rien ne va plus – Nichts geht mehr“, sagt der unterlegene Anwalt dann, weil er sich gerade an Roulette erinnert fühlt. Der den Prozess gewonnen hat, plustert sich mit Lateinkenntnissen auf und schwafelt was von „Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, der Fall ist beendet“. Der Satz kommt aus dem Kirchenrecht und meint: „So wie es jetzt entschieden ist, bleibt es! Geht nachhause und streitet euch über etwas anderes.“
Da es im Recht keine richtigen Entscheidungen gibt, sondern nur endgültige, kann es auch keine bessere Lösung geben, als die, den Streit einfach nicht mehr weiterzuführen, ihn gewissermaßen gewaltsam zu beenden, notfalls auch mit einem Fehlurteil. Was gestern noch schreiendes Unrecht war, kann morgen schon Recht sein – zumindest formell infolge der Rechtskraft. Denn es ist diese formelle Rechtskraft, also der Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, die der Gesetzgeber dir, geneigter Leser, als Gerechtigkeit verkauft. Und als sei dies nicht schon bedauerlich genug, hat er den Weg dahin auch noch verbaut mit zwei Hürden: Form und Frist.
Ich staune immer öfter, wie leichtfertig der Bürger mit seinem Recht umgeht. Da bekommt er einen fetten gelben Brief mit einer mehrseitigen Rechtsmittelbelehrung und was tut er? Er greift zum Handy und schickt dem Staat eine Mail. Oder er wähnt sich gar derart sicher im Recht, dass er eine Antwort schlichtweg verweigert. „Wozu sollte ich Einspruch einlegen, ich bin doch viel zu schnell, um geblitzt zu werden“, kommentiert arrogant der erfolgreiche Jungunternehmer und Betreiber einer Shisha-Bar, streichelt verliebt seinen G-Power M850i und zerreißt den Bußgeldbescheid mit süffisantem Grinsen.
Doch Vorsicht: Auch solche Verfahren erwachsen in formelle Rechtskraft, nur entscheidet dann eben nicht Rom, sondern der Sachbearbeiter in der Bußgeldstelle Hintertupfingen, und der sagt emotionslos: 3 Monate Fahrverbot! Wie bitte Einspruch? Nö, die 2-Wochenfrist ist abgelaufen.
Wir lernen also: Wer im Kampf ums Recht am Ende siegt, ist oft nur eine Frage des Zufalls. Aber wer schon am Anfang scheitert, sollte sich mal fragen, wozu es Anwälte gibt.