Forensische Wahrheit

Was ist eigentlich die „forensische Wahrheit“?

»Es erscheint der Zeuge XY um 14 Uhr. Nach einem Vorgespräch wird er über seine Zeugenpflichten belehrt und anschließend verantwortlich vernommen. Beginn der Vernehmung: 14.30 Uhr.«

So etwas liest man in wenigstens der Hälfte aller polizeilichen Vernehmungsprotokolle. Es ist so normal, dass die Polizei sich noch nicht einmal bemüht, den Rechtsbruch zu vertuschen. Nur gewiefte Ermittler verschweigen das »Vorgespräch«, verplappern sich aber hinterher selbst, wenn sie beispielsweise diktieren: »Sie haben vorhin im Vorgespräch gesagt …«.

Die Strafprozessordnung kennt kein Vorgespräch. Sowohl Zeugen als auch Beschuldigte sind zuerst zu belehren, sodann zu vernehmen. Vorgespräche dienen allein dazu, den Zeugen zu steuern. Sie verfälschen also die Aussage und sind daher schlichtweg rechtswidrig.

Falls Du, geneigter Leser, jemals einen Rechtsfall hattest und Dich heute noch wunderst, was die Justiz daraus gemacht hat, dann liegt dies nicht nur aber auch an diesen ominösen Vorgesprächen. Andere Gründe können die Zeitnot der mit dem Fall befassten Personen sein, die fehlenden Kenntnisse in der Psychologie einer Aussage, der Unwille von Zeugen, wahrheitsgemäß auszusagen, die Versuche der Prozessbeteiligten, Tatsachen zu drehen und zu deuten, kurzum: Bis ein bestimmtes Geschehen im Gerichtssaal rekonstruiert wurde, unterliegt es derart vielen Einflüssen, dass es fast schon einem Wunder gleichkäme, wenn die Wahrheit vor Gericht ein tatsächliches Geschehen in allen Facetten korrekt abbildete. Man muss sich nur mal ein Fußballspiel von zwei verschiedenen Zuschauern erzählen lassen, dann wird klar, warum es wahrheitsgetreue Aussagen nicht gibt.

Da die Justiz es schon vor sehr langer Zeit aufgegeben hat, auf das Wunder der wahren Aussage zu warten, begnügt sie sich mit einem Zerrbild der Realität, wozu sie ihren Richtern den »Grundsatz der freien Beweiswürdigung« an die Hand gegeben hat. Das meint: Was der Richter für erwiesen hält, wird Grundlage des Urteils, und zwar – ein Schelm, der Böses dabei denkt – mit Bindungswirkung für die höhere Instanz. Ein Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Richters zu akzeptieren. (Es sei denn, er ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Wasser den Berg hinauf fließt. Aber solche Fehler machen Richter nicht.)

Wenn der Rechtsmediziner feststellt, dass der Messerstich von einem Rechtshänder kam, der Angeklagte aber Linkshänder ist, hindert niemand das Gericht daran, zu glauben, dass der Linkshänder eben ausnahmsweise mal mit Rechts zugestochen hat. Und warum zeigt der Stichkanal nach oben, obwohl der Angeklagte doch viel kleiner ist als das Opfer? Nun, er wird sich eben auf einen Stuhl gestellt haben. – So kann es gehen, wenn die Justiz zur Wahrheitsfindung schreitet, tatsächlich aber gar nicht nach der Wahrheit sucht, sondern nur nach einer Möglichkeit, ihr Urteil fehlerfrei zu begründen.

»Das ließe sich schreiben«, sagen erfahrene Vorsitzende, wenn sie andeuten wollen, dass sie einen Angeklagten für überführt halten. Damit erklären sie unverhohlen, aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme einen Weg zu sehen, ihr Urteil in einer Weise zu begründen, die es der nächsten Instanz unmöglich macht, an dem Beweisergebnis herumzunörgeln. Und nur darum geht es.
Was die Gerichte an Fakten mittels ihrer freien Beweiswürdigung so zusammensetzen, dass sich ein Urteil schreiben ließe, nennt man die forensische Wahrheit. Sie kann der Realität sehr nahe kommen, aber auch eine frei erfundene Geschichte sein. Völlig egal, Hauptsache es lässt sich schreiben.

Natürlich sind Gerichte nicht darauf aus, Fehlurteile zu produzieren. Unschuldige zu verurteilen, Unrecht zu sprechen. Aber ihr Arbeitsmaterial ist ja nur eine Akte. Sie können nicht mehr tun, als den Inhalt dieser Akte auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Daher lohnt noch einmal der Blick auf das Vorgespräch bei der Polizei. Im eingangs geschilderten Beispiel dauerte es 30 Minuten. Was kann man in dieser Zeit nicht alles besprechen!

Strafverteidiger kämpfen verbissen darum, den Inhalt solcher Vorgespräche im Prozess aufzuklären. Meist bleibt im Dunkeln, was Polizei und Zeuge eine halbe Stunde lang an Informationen ausgetauscht haben, denn man hat angeblich nur über »den Ablauf der Vernehmung« geredet. Wer jedoch wissen will, warum die forensische Wahrheit bisweilen so völlig anders klingt als der wahre Sachverhalt, der sollte diese Vorgespräche genau unter die Lupe nehmen.

Inquisition

Was ist eigentlich die „Inquisitionsmaxime“?

Hollywood hat uns den Inquisitionsprozess als düsterstes Kapitel des finsteren Mittelalters verkauft. Dabei war er strafprozessual ein echter Fortschritt. Ich hätte keine Lust, die Richtigkeit einer Aussage jedes Mal durch „sechs ehrbarer Männer Eid, denen zu glauben sey“ oder durch Gottesurteile beweisen zu müssen. Mir liegt eher die rationale Beweisführung mit protokolliertem Prozessablauf. Nichts anderes war der Inquisitionsprozess, der in Deutschland vom Spätmittelalter bis etwa zu Goethes Zeiten praktiziert wurde. Danach hat man das Verfahren etwas humanisiert (Abschaffung der Folter), erweitert (Zulassung anderer Beweismittel als Zeugen) und personell aufgepeppt (Erfindung der Staatsanwaltschaft). Schon war unsere heutige Strafprozessordnung geboren, die sich lange Zeit eines gesunden Wuchses erfreute. In letzter Zeit bekommt sie einige hässliche Wucherungen, weil zu viel an ihr herumgedoktert wird. Könnte sein, dass sie allmählich dem Siechtum anheimfällt.

Jedenfalls ist es historisch nicht ganz verkehrt, ihre Wurzeln im alten Inquisitionsprozess zu suchen, weshalb man die Vorgehensweise eines Strafrichters auch heute noch als Inquisitionsmaxime bezeichnet. Darunter versteht man das Prinzip, dass der Richter von Amts wegen alles Erforderliche unternimmt, um die Wahrheit zu erforschen. Das Ergebnis seiner Ermittlungen nennt man dann „materielle Wahrheit“.

Allerdings kann es Dir, geneigter Leser, auch passieren, dass ein Richter einfach sagt: „Interessiert mich doch nicht, was hier wahr ist.“ Dann bist Du in einem Zivilprozess gelandet, wo statt der Inquisitionsmaxime die Verhandlungsmaxime gilt. Wenn dort zwei Streithähne übereinstimmend behaupten, der Schornsteinfeger habe eine weiße Uniform getragen, dann unterstellt der Richter dies eben als wahr und legt es seinem Urteil zugrunde. Man spricht dann von der „formellen Wahrheit“. Die würde mir in manchen Strafprozessen besser gefallen, ist aber bei Staatsanwälten extrem unbeliebt.

Lustig wird es, wenn beide Maximen aufeinandertreffen, also zwei unterschiedliche Gerichte denselben Sachverhalt nach ihren jeweiligen Vorschriften untersuchen. Schlägt der Willi Wüterich dem Hans Halbblind ein Auge aus, landet er wegen der schweren Körperverletzung vor dem Strafgericht und wegen einer Schmerzensgeldforderung vor dem Zivilgericht. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass ein Richter ihn für schuldig befindet, der andere aber für unschuldig und umgekehrt. So ist das mit der Wahrheit im Prozess: Mal ist sie formell, mal materiell, meistens aber falsch.

Darum hat Hollywood noch etwas ganz Besonderes aus dem Hut gezaubert. Dort kennt man nämlich auch „die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.“ Klingt bombastisch, ist aber nur großes Kino. Vor Gericht ist mir die noch nie begegnet.