Tatherrschaft

Was bedeutet eigentlich „Tatherrschaft“?

Es wird Blut fließen, viel Blut. Das verdanken wir allein einem einzigen Mann, der von seiner weit entfernten Hauptstadt aus eine andere Stadt zur Hauptstadt des Staates Israel ernannte. Jeder weiß, dass er damit ganze Länder ins Chaos treibt und heftigste Auseinandersetzungen gezielt provoziert. Er tritt bildlich gesprochen eine Lawine los, die über viele Menschen viel Leid bringt. Andere sprechen von einem Flächenbrand, der nun im Nahen Osten zu erwarten sei.

Würde unsereiner im Skiurlaub aus Spaß, aus Dummheit, aus Arroganz oder warum auch immer eine Piste nutzen, vor der jeder warnt und die wegen Lawinengefahr gesperrt ist, würden wir ihn wegen der Lawine, die er auslöst, um friedliche Winterurlauber zuzuschütten, vor Gericht stellen. Nicht anders verfahren wir mit einem, der Streichholz und Benzinkanister einsetzt, um seine Paranoia auszuleben.

Warum muss Donald Trump dann keine Anklage fürchten?

Abgesehen davon, dass für Trump kein deutsches Recht gilt, besteht ein entscheidender Unterschied zwischen seiner Lawine und den Schneemassen im Winter oder der Feuersbrunst des Brandstifters: Schnee denkt nicht. Feuer denkt auch nicht. Ob Trump das tut, wissen wir nicht, darauf kommt es aber nicht an, denn seine Lawine kann denken, sein Flächenbrand auch. Die er provoziert sind Menschen aus Fleisch und Blut. Es steht ihnen völlig frei, ob sie wegen der Hauptstadtfrage sich gegenseitig erschlagen oder unschuldige Dritte. Zumindest theoretisch könnten sie es auch ganz sein lassen – was voraussichtlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden wird. Solange jedoch für vernünftige Menschen noch Alternativen bestehen zum Ausbruch der Gewalt, kann Trump juristisch nicht schuld daran sein, dass es knallt.

Um das auch wirklich zu verstehen, muss man weit ausholen, mehr als eineinhalb tausend Jahre weit. Es waren die frühchristlichen Theologen, die sich bereits in der ausgehenden Antike den Kopf darüber zerbrachen, wieso Gott, der doch von ihnen als in allem perfekt erdacht war, eine derart schlechte Welt mit solch überaus bösen Menschen geschaffen hat. Aurelius Augustinus löste das Problem mit einem genialen Kniff: Er erfand den freien Willen. Der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, so habe es der Schöpfer gewollt, weshalb – in letzter Konsequenz – selbst Auschwitz kein Anlass sein sollte, an der göttlichen Perfektion unserer Welt zu zweifeln. Für solche Ideen wird man als Kirchenlehrer verehrt.

Das Strafrecht hat zwar Gott aus der Gleichung gestrichen, den Gedanken vom freien Willen aber übernommen und zum Fundament der Strafbarkeit ausgebaut. Eigenverantwortliches Handeln unterstellt es dem Menschen und erwartet es von ihm. Ein hehrer Anspruch angesichts manch triebgesteuerter Dumpfbacken. Und ein gutes Beispiel dafür, wie Ideale immer in ihr Gegenteil verdreht werden. Der Staat schätzt den freien Willen seiner Bürger nirgendwo so hoch wie dort, wo er sie bestrafen will. Und er achtet mit seinen Gesetzen immer sorgfältig darauf, dass manche sich ihnen geschickt entziehen können. Darum ist der Täter im Hintergrund fein raus, denn man kann ihn nicht dafür verantwortlich machen, dass andere den Stein werfen, den er zufällig im richtigen Moment aufgehoben hat.

Schlaumeier werden jetzt „Anstiftung“ rufen, aber es kann niemand ernsthaft behaupten, Trump habe irgendeinen Palästinenser direkt dazu aufgefordert, einen Molotow-Cocktail zu schleudern. Er hat es gewusst, erhofft, provoziert – aber eben nicht zu verantworten. Strafjuristen sprechen von fehlender Tatherrschaft und verneigen sich vor der Größe des menschlichen Geistes.

Damit rücken diejenigen in den Blick des Strafrechts, welche die Herrschaft über all die nun bevorstehenden Gewalttaten haben, also die Krawallmacher auf der Straße. Sie kommen in der öffentlichen Diskussion etwas knapp weg. Kommentatoren bejammern lautstark, dass der Mob nun wieder von der Leine gelassen wurde. Aber niemand stellt die Frage, weshalb er eigentlich angeleint sein müsste. Können diese wütenden Demonstranten etwa nicht anders? Haben sie einen Gendefekt, der sie zwingt, Pflastersteine herauszureißen und zu werfen? Oder folgen sie ihrem freien Willen, auch wenn sie „De libero arbitrio“ von Augustinus vermutlich nie gelesen haben?

Würde in der jetzt aufgeheizten Situation einmal nicht populistisch-journalistisch sondern kühl juristisch argumentiert, käme die öffentliche Meinung vielleicht zu einem völlig anderen Ergebnis: Nicht Trump wäre schuld, auch nicht andere politische oder religiöse Führer, die den Konflikt anheizen, sondern der einzelne Wüterich, der vermummt oder offen randaliert. Eine verwirrende Analyse der Situation. Und ein Grund dafür, warum juristischer Sachverstand so ziemlich das Letzte ist, was in einer politischen Diskussion gebraucht wird.

Vor Gericht kannst Du, geneigter Leser, Dich jedoch darauf verlassen, dass politische Erwägungen es Dir nicht ersparen, wegen Deines freien Willens verurteilt zu werden. Die Massenschlägerei vor dem Fußballstadion erscheint nicht in einem milderen Licht, weil Bayern München schon wieder gewonnen hat. Und das Auto, das Du beim G-20-Gipel abgefackelt hast, verzeiht man Dir nicht deshalb, weil der um seine Ersparnisse fürchtende griechische Rentner Deinen heiligen Zorn entfachte.

Strafgerichte sind emotionslos. Dein Kampf für eine gerechtere Welt ist ihnen schon deshalb suspekt, weil Du nicht berufen bist, für Gerechtigkeit zu kämpfen.