Gibt es bei Mord eigentlich „Bewährung“?
Im frühmorgendlichen Verkehr kommt es zu einem tödlichen Unfall, weil ein Autofahrer nicht rechtzeitig bremsen kann. Eine ihm unbekannte Frau verstirbt unter seinem Wagen, genauer gesagt unter dem rechten Vorderrad, das auf ihrem Kopf steht.
Der zutiefst erschütterte Fahrer muss sich vor dem Amtsgericht verantworten. Nach einer tränenreichen Einlassung voller Schuldvorwürfe gegen sich selbst erhält zwei Jahre auf Bewährung.
So weit, so gewöhnlich – Alltag an deutschen Gerichten.
Dem Verurteilten gefällt die Strafe dennoch nicht, weshalb er Revision einlegt, eine sogenannte Sprungrevision.
Aufgrund eines relativ banalen Fehlers muss das Oberlandesgericht als Revisionsgericht das Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht zurückverweisen. Dort verhandelt ein anderer Amtsrichter den Fall erneut.
„Was wollen Sie denn eigentlich? Ein noch milderes Urteil werden Sie bei mir nicht bekommen“, verkündet er gleich zu Sitzungsbeginn. Dann packt der Angeklagte aus: Die Frau sei ihm natürlich bekannt gewesen, er habe sie abgrundtief gehasst. wochenlang ihren morgendlichen Weg zur Arbeit ausgespäht, geduldig die richtige Gelegenheit abgewartet und sein Opfer dann mit voller Absicht eiskalt überfahren.
Ein „noch milderes Urteil“ ist damit vom Tisch, aber kann die Strafe nun erhöht werden?
Der Amtsrichter ist zunächst einmal fein raus, denn er kann den Fall an das Schwurgericht verweisen. Dort wird sich eine speziell für Tötungsdelikte zuständige Strafkammer lange den Kopf zerbrechen, am Ende aber angewidert und mit Bauchschmerzen das einzig denkbare Urteil verkünden:
1.) Der Angeklagte ist des Mordes schuldig.
2.) Er wird zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
3.) Die Vollstreckung der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Der Fall ist rein theoretisch und er wird es hoffentlich auch bleiben. Mein Vertrauen in den Rechtsstaat ist jedenfalls nicht so groß, dass ich auch in einer solchen Extremsituation auf das perfekte Funktionieren des System vertrauen würde. Vielleicht setzt ja doch ein Gericht die Regeln außer Kraft und verhängt die lebenslange Freiheitsstrafe. Aber solange sich alle an das Gesetz halten, müsste der Prozess so enden wie hier beschrieben.
Du wirst, geneigter Leser, dich fragen wie so etwas möglich ist.
Nun: Zunächst einmal hat nur der Angeklagte Revision eingelegt. In solchen Fällen kann das einmal gefällte Urteil nie schlechter für ihn werden. Die zwei Jahre auf Bewährung sind und bleiben in Stein gemeißelt. Was sich ändern kann, ist die Bewertung der Tat durch das Gericht. Darum wurde hier aus der fahrlässigen Tötung der Mord.
Grundsätzlich könnte ein glaubhaftes Geständnis zwar Anlass sein, einen beendeten Prozess wieder neu aufzurollen. Erst nach Rechtskraft des Urteils mit einem Mord zu prahlen, ist also nicht empfehlenswert. Aber hier war der Prozess ja gerade nicht beendet. Konsequenz: Änderung des Schuldspruchs, aber die Strafe bleibt die gleiche.
Bliebe nur noch die Frage, ob ein solches Urteil noch gerecht genannt werden kann. Überwiegend wird man es wohl als Unrechtsurteil ansehen, der Ruf nach Gesetzesänderungen erschallen, Politiker sich mit wütenden Tiraden gegen die Absurdität des Rechtsstaates aufblähen. Lediglich Juristen können das Ergebnis akzeptieren. Für sie ist ein Urteil dann gerecht, wenn es dem Gesetz entspricht. Die Konsequenz – den Mörder mit Bewährungsstrafe – erdulden sie wohl auch deshalb, weil sie wissen, wie oft es anders ist, formal gerechte Urteile größtmögliches Unrecht verbriefen.