Der Dreiviertel-Rechtsstaat

Die Habsburgermonarchie ist bekanntlich walzertanzend in den Abgrund gerauscht. Trudelnd im Dreivierteltakt.
Den Deutschen liegt eher der Marschrhythmus, der einen geraden Takt voraussetzt, also 4/4, 2/4, 2/2 oder auch 6/8, wobei letzterer vielleicht rechnerisch wie ein doppelter 3/4-Takt erscheint, tatsächlich aber nicht walzertanzbar ist.
Immer wenn die Deutschen zu stramm marschieren, geraten sie regelmäßig aus dem Takt, so wie es derzeit wieder den Anschein hat. Denn unser Rechtsstaat läuft nur noch auf dreien von vier Zylindern, was ich aus profundem Munde zu berichten weiß.
Anfang Juni fand in Berlin der Deutsche Anwaltstag 2025 statt, bei dem – so etwas habe ich noch nicht erlebt – die neue Bundesjustizministerin das obligatorische Grußwort schwänzte und eine Staatsekretärin schickte. Nicht nur eine Stil- sondern auch eine Respektlosigkeit gegenüber der Anwaltschaft.
Nach der formellen Eröffnung, die – man hätte es ahnen können – auch ohne Bundesjustizministerin eine gelungene Veranstaltung war, folgte eine Podiumsdiskussion, u.a. mit dem vormaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der auf die Frage nach der Qualität unseres Rechtsstaates antwortete: „Auf einer Skala von 1-10 etwa 7-8.“
Das klingt zunächst einmal nach einem hohen Wert, es sind aber lediglich noch drei Viertel des Ganzen und für mich ist dies schockierend.
Wenn ein Elefant lediglich drei Beine hat, fehlt ihm anscheinend nur eines zur vollen Stärke. Verliert er dann jedoch ein weiters, fällt er zwingend um. Das macht die Dreiviertel so gefährlich: Sie suggerieren fast ein Ganzes zu sein, sind aber bereits nah am Zusammenbruch.
Wenn wir noch ein paar Pünktchen verlieren und auf der Skala bei 5 von 10 landen, bedeutete dies zur Hälfte waltende Willkür. Dann ist der Rechtsstaat praktisch schon gestorben.
Der Grund, warum dies nur wenige besorgt, ist eine gefährliche Umdeutung dessen, was Rechtsstaat bedeutet. Entstanden und richtig verstanden ist dieser Begriff der Antagonist zum Polizeistaat. In diesem Sinne wurde auch unser Grundgesetz geschrieben, das Freiheitsrechte immer als Abwehrrechte gegen den übergriffigen Staat begreift. Konservative Politiker trachten allerdings danach, der liberalen Gesellschaft ihren Rechtsstaat zu stehlen und ihn wider diese einzusetzen. Wenn sie gegen Bürger die „volle Härte des Rechtsstaates“ fordern, den Sicherheitsbehörden immer mehr Eingriffsmöglichkeit geben wollen, um „den Rechtsstaat zu verteidigen“, dann dient das nur der Chimäre eines Rechtsstaates, tatsächlich aber exakt jenem Polizeistaat, gegen den der freiheitliche Rechtsstaat durch Aufklärung und Revolutionen installiert wurde.
So besehen gibt es in diesem Land zwei Rechtsstaaten, die einander bekämpfen. Wenn dir, geneigter Leser, ein Politiker versichert, wie konsequent er für den Rechtsstaat eintritt, so achte auf den Takt: Der Chimäre will stramm stets marschieren. Der echte Rechtsstaat tanzt am Abgrund Walzer. Trudelnd im Dreivierteltakt.

Berauschte Polizei

Berauschte Polizei

Sie ließen es gestern richtig krachen, denn so eine Party hat die Kreuznacher Polizei noch nicht gefeiert. Härter und exzessiver als bei den Berliner Kollegen auf dem G-20 ging es zur Sache. Den Anlass erläuterte der Pressesprecher der Kriminalinspektion freudestrahlend: „Am 24.8. ist das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ in Kraft getreten. Auf dem fortwährenden Weg in den Polizeistaat ist dies ein gigantischer Schritt. Teilweise Abschaffung des Richtervorbehalts, Staatstrojaner, Quellen-TKÜ, Online-Durchsuchung – nahezu das gesamte Arsenal totalitärer Diktaturen steht nun auch uns zur Verfügung.“


Besonders freut den Pressesprecher der Ablauf des Gesetzgebungsverfahren: „Zuerst gab es eine Kommission, die Vorschläge erarbeitet hat. Hier ein paar Vereinfachungen im Ermittlungsverfahren, dafür dort effektiverer Schutz der Rechte Einzelner. Das war ziemlich ausgewogen. Doch das mit den Bürgerrechten wurde dann gar nicht erst ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die haben lediglich rein kosmetisch ein paar Beschuldigtenrechte vorgegaukelt. Kurz vor Schluss, hat die Regierung zudem auch noch klammheimlich ein paar richtige Hämmer eingebaut und die Verfassung so richtig gebogen. Ein derart gesetzwidriges Gesetzgebungsverfahren gab es noch nie! Für einen Rechtsstaat ist das zwar ein Hohn – aber wir als Polizei haben jetzt das Instrumentarium, das wir immer schon wollten. Es fehlt eigentlich nur noch die Folter.“


Der deutsche Michel nimmt das Gesetz wie üblich achselzuckend zur Kenntnis. Besonders bescheuerte Flachpfeifen kommentieren mit dem idiotischsten Satz aller Zeiten: „Ich habe schließlich nichts zu verbergen.“

Der Polizeisprecher freut sich währenddessen ein Loch in die Schirmmütze: „Am besten finde ich die neue Pflicht für Zeugen, bei der Polizei zu erscheinen und aussagen zu müssen. Das haben alle Vorgängerregierungen konsequent abgelehnt. Jetzt wurde uns die Regelung einfach so geschenkt. Noch dazu ohne Schriftform oder Ladungsfrist. Künftig können wir also an jeder Haustür klingeln und die sofortige Aussage erzwingen.“ Dann blinzelt er mit einem Auge. „Klar, dass wir den Leuten nicht gleich sagen, ob sie selbst oder enge Verwandte tatverdächtig sind. Erstmal reden lassen und anschließend belehren, wird unsere Maxime sein.“

Nur einen kleinen Wermutstropfen sieht der Ordnungshüter: „Theoretisch haben die Leute immer noch das Recht, einen Anwalt anzurufen. Wir werden das unterlaufen, indem wir erst nach Büroschluss verhören. Generell muss der Gesetzgeber da aber nochmal nachbessern. Aus Polizeisicht wäre es wünschenswert, Rechtsanwälten erst nach der Verurteilung Zugang zu Verdächtigen zu gewähren.“