Was ist eigentlich die „ex-ante-Sicht“?
Vor vielen Jahren habe ich mich einmal auf der Suche nach einem Zeugen spät nachts in eine als Drogenhölle verschriene Spelunke begeben, denn ich wusste, dass der Zeuge dort sicher anzutreffen ist. Natürlich bin ich nicht mit Anzug und Schlips aufgetaucht, aber irgendwie war mein Erscheinen doch auffällig. Zuerst wurde getuschelt, dann flog das Wort „Anwalt“ durch den Raum, kurz später schon die Warnung „Spitzel“ und plötzlich stand der Wirt vor mir, mit rot glühendem Gesicht und glasigen Augen. In der Hand hielt er einen Knüppel, keinen Baseballschläger, eher so einen Schlagstock wie ihn englische Polizisten am Mann führen. „Ich schlag ihm die Zähne raus“, brüllte er und sah irgendwie so aus, als ob er das tatsächlich vorhatte. Mir war klar, dass ein schützend erhobener Unterarm gegen solche Knüppel kein wirklicher Schutz ist. Obwohl nicht schmächtig gebaut, war ich körperlich schon deshalb unterlegen, weil ich saß, während er stand. In dieser Situation fiel mir ein, dass ich ein Messer bei mir trug, ein Opinel, Klingenlänge 8 cm, zusammengeklappt in der Hosentasche.
Wie es tatsächlich weiterging, lässt sich in einem meiner Romane nachlesen. Ich denke, ich habe die Szene irgendwo dort beschrieben. Wie es rechtlich weitergeht, entscheiden in solchen Fällen letztlich die Strafgerichte und ihre mitunter verwirrenden Vorstellungen darüber, was Notwehr ist.
Schulmäßig definiert man Notwehr als die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff schnell und sicher zu beenden. Wenn also Kinder in einen Kirschbaum klettern, um sich an den Früchten zu laben, der Eigentümer des Kirschbaums aber nicht klettern kann, um die Kinder zu vertreiben, darf er zur Verteidigung seines Eigentums die Kinder mit der Schrotflinte vom Baum schießen. So zumindest wäre es, wenn man das Gesetz wörtlich nähme und so wurde es 1920 auch vom Reichsgericht noch entschieden.
Der moderne Rechtsstaat hat dem Gesetz darum ein paar ungeschriebene Ergänzungen hinzugefügt. Heutzutage operieren die Strafgerichte mit sogenannten sozial-ethischen Einschränkungen des Notwehrrechts und nehmen eine Rechtsgüterabwägung vor. Kinderleben gegen Kirsche ist irgendwie nicht stimmig, darum würde derselbe Rentner, den das Reichsgericht 1920 freigesprochen hat, für dieselbe Tat 2018 mindestens fünf Jahre hinter Gittern verschwinden.
Klingt irgendwie beruhigend, löst aber mein Problem mit dem Wirt in der Spelunke nicht. Dort stellte sich ja eher die Frage Schädelbruch gegen Messer im Bauch, eine prinzipiell einmal nicht unangemessen erscheinende Reaktion.
Aber die Strafgerichte haben nicht nur sozial-ethische Einschränkungen erfunden, sondern etwas, das ebenfalls nicht im Gesetz steht, nämlich die objektive ex-ante-Sicht. So etwas können sich eigentlich nur Juristen ausdenken. Und noch schlimmer: Sie können es auch anwenden. Die Frage, ob man das Messer ziehen darf, wird nämlich „auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung“ beantwortet. Mit anderen Worten: Der Richter kocht sich einen Tee, setzt sich an seinen Schreibtisch und tunkt den Teebeutel rhythmisch in die Tasse, während er sich die konkrete Situation ausmalt. Dann lehnt er sich zurück, genießt den feinen Bergamotte-Ton seines Earl-Grey und blendet ganz entspannt zunächst einmal den konkreten Stress der Mann-gegen-Mann-Situation völlig aus (objektiv!). Die gespannten Erwartungen einer aufgeputschten Menge sieht er nicht, die Schreie „Los, gib´s ihm“ hört er nicht. Stattdessen grübelt er sachlich und besonnen darüber nach, wie ein vernünftiger Mensch nun reagieren sollte. Das bringt ihn zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass es möglicherweise ein milderes Mittel zur Verteidigung gab, nämlich die bloße Androhung des Stichs.
Rechtlich korrekt, da hat er keine Zweifel, wäre eigentlich gewesen, dem Wirt das Opinel zunächst einmal zu zeigen (allein das Aufklappen dauert schon eine Ewigkeit) und ihm freundlich zu erklären: „Lieber Wirt, wenn Du diesen Knüppel gegen meine Zähne richten solltest, muff if leider fuftechen.“ Hat man es versäumt, diese Warnung auszusprechen – der zweite Teil des Satzes wurde offensichtlich bereits ohne Zähne gesprochen – wird der Richter zu dem Schluss kommen, dass das Messer hier verfrüht zum Einsatz kam. Wohlgemerkt: ex ante.
Nun lebt der gemeine Bürger ja nicht gerade ständig in der Gefahr, seine Zähne durch einen Schlagstock zu verlieren (der gemeine Strafverteidiger übrigens auch nicht). Wahrscheinlich werden es eh schon die Dritten und die Rechtsgüterabwägung bei einem künstlichen Gebiss möglicherweise auch völlig anders zu treffen sein.
Die breite Masse treibt das Notwehrrecht heutzutage erst dann um, wenn wieder Sommer ist und die Nation kein anderes Problem hat, als dass ein Hund im Auto auf dem Supermarktparkplatz etwas schwitzen könnte. In sozialen Netzwerken wird darum schon etwa ab Ostern prophylaktisch dazu aufgerufen, auf jeden Fall hemmungslos Autoscheiben einzuschlagen. Wer das nicht umgehend liked und teilt, ist verdächtig, wahrscheinlich missbraucht er auch zuhause seine Kinder. Ginge es nach den Verbreitern solcher Aufrufe, sähen unsere Parkplätze im Sommer aus wie Hamburg nach dem G 20.
Ex ante betrachtet wird ein Richter nicht dazu tendieren, die Sachbeschädigung am Auto als Notwehr zugunsten eines Hundes anzusehen. Klar, Dackelblicke sind unwiderstehlich, da kann man gar nicht anders. Aber möglicherweise hätte ja ein Anruf bei der Polizei oder ein Rundruf im Supermarkt auch schon gereicht, um Waldi frische Luft zuzufächeln. Höchstwahrscheinlich kommt der Richter noch nicht einmal zur ex-ante-Sicht, sondern stolpert schon vorher über das Problem, ob fremde Hunde ein Rechtsgut sind, das jedermann zu schützen sich berufen fühlen darf.
Diese Frage beantworte ich aber erst, wenn ich mal Bock auf einen richtig großen Shitstorm habe.