Was ist eigentlich die „Inquisitionsmaxime“?
Hollywood hat uns den Inquisitionsprozess als düsterstes Kapitel des finsteren Mittelalters verkauft. Dabei war er strafprozessual ein echter Fortschritt. Ich hätte keine Lust, die Richtigkeit einer Aussage jedes Mal durch „sechs ehrbarer Männer Eid, denen zu glauben sey“ oder durch Gottesurteile beweisen zu müssen. Mir liegt eher die rationale Beweisführung mit protokolliertem Prozessablauf. Nichts anderes war der Inquisitionsprozess, der in Deutschland vom Spätmittelalter bis etwa zu Goethes Zeiten praktiziert wurde. Danach hat man das Verfahren etwas humanisiert (Abschaffung der Folter), erweitert (Zulassung anderer Beweismittel als Zeugen) und personell aufgepeppt (Erfindung der Staatsanwaltschaft). Schon war unsere heutige Strafprozessordnung geboren, die sich lange Zeit eines gesunden Wuchses erfreute. In letzter Zeit bekommt sie einige hässliche Wucherungen, weil zu viel an ihr herumgedoktert wird. Könnte sein, dass sie allmählich dem Siechtum anheimfällt.
Jedenfalls ist es historisch nicht ganz verkehrt, ihre Wurzeln im alten Inquisitionsprozess zu suchen, weshalb man die Vorgehensweise eines Strafrichters auch heute noch als Inquisitionsmaxime bezeichnet. Darunter versteht man das Prinzip, dass der Richter von Amts wegen alles Erforderliche unternimmt, um die Wahrheit zu erforschen. Das Ergebnis seiner Ermittlungen nennt man dann „materielle Wahrheit“.
Allerdings kann es Dir, geneigter Leser, auch passieren, dass ein Richter einfach sagt: „Interessiert mich doch nicht, was hier wahr ist.“ Dann bist Du in einem Zivilprozess gelandet, wo statt der Inquisitionsmaxime die Verhandlungsmaxime gilt. Wenn dort zwei Streithähne übereinstimmend behaupten, der Schornsteinfeger habe eine weiße Uniform getragen, dann unterstellt der Richter dies eben als wahr und legt es seinem Urteil zugrunde. Man spricht dann von der „formellen Wahrheit“. Die würde mir in manchen Strafprozessen besser gefallen, ist aber bei Staatsanwälten extrem unbeliebt.
Lustig wird es, wenn beide Maximen aufeinandertreffen, also zwei unterschiedliche Gerichte denselben Sachverhalt nach ihren jeweiligen Vorschriften untersuchen. Schlägt der Willi Wüterich dem Hans Halbblind ein Auge aus, landet er wegen der schweren Körperverletzung vor dem Strafgericht und wegen einer Schmerzensgeldforderung vor dem Zivilgericht. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass ein Richter ihn für schuldig befindet, der andere aber für unschuldig und umgekehrt. So ist das mit der Wahrheit im Prozess: Mal ist sie formell, mal materiell, meistens aber falsch.
Darum hat Hollywood noch etwas ganz Besonderes aus dem Hut gezaubert. Dort kennt man nämlich auch „die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.“ Klingt bombastisch, ist aber nur großes Kino. Vor Gericht ist mir die noch nie begegnet.