Was ist eigentlich eine „Garantenstellung“?
Heute vor 10 Jahren sank die „Costa Concordia“, wodurch ein Mann auf traurige Weise berühmt wurde: Kapitän Schettino. Was hat er getan? Nun, er verließ ein havariertes Schiff nicht als Letzter. In Italien ist dies ein Gesetzesverstoß, in Deutschland gibt es kein entsprechendes Gesetz, da gehört es zum Ehrenkodex des Kapitäns mit seinem Kahn notfalls abzusaufen.
Viele sind in jener Nacht ebenfalls von der Costa Concordia geflohen, mit Rettungsbooten oder frei schwimmend. Niemand macht ihnen deshalb einen Vorwurf. Nur Schettino wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt, denn er hatte gegen ein Gesetz verstoßen. Aber wie hätte ein deutscher Richter einen Gesetzesverstoß feststellt, wenn es gar keine gesetzliche Pflicht gibt, in einer bestimmten Weise zu handeln?
Ganz einfach: Er wäre umgekehrt an die Sache herangegangen. Anstatt wie der italienische Strafrichter einfach feststellen, dass Schettino das Schiff gesetzeswidrig verlassen hat, fragt sein deutscher Kollege: Musste Schettino auf dem Schiff bleiben? Und diese Pflicht des Kapitäns, sein Schiff nur als Letzter zu verlassen, nennt er nicht „Ehre“ oder „Verantwortung“, denn er ist ja Jurist mit eigener Fachsprache, darum redet er von der Garantenstellung.
In der Praxis ist die Gefahr, etwas nicht zu tun, was ein Richter hinterher erwartet hätte, größer als gemeinhin vermutet.
Musst Du einen Betrunkenen, der in eigenen Exkrementen kollabiert in der Gosse liegt, Mund-zu-Mund beatmen? Darfst Du einfach weggucken, wenn Dein Mitbewohner Drogen abwiegt und in Tütchen verpackt? Wen musst Du zuerst retten, wenn die heimliche Geliebte und die getrennt lebende Ehefrau mit Autos frontal aufeinanderprallen? Wenn zwei Diebe, die gemeinsam einbrechen füreinander verantwortlich sind, gilt das dann auch für zwei Flüchtlinge, die illegal einreisen? Wie oft musst Du den Lebensmüden, der es immer wieder versucht, vom Seil schneiden? Ist ein Grundeigentümer, auf dessen Acker von Dritten illegal Müll abgelagert wird, für die Müllkippe verantwortlich?
Das Zauberwort, mit dem über Deine Strafbarkeit entschieden wird, lautet in all diesen Fällen: Garantenpflicht. Und niemand sagt Dir vorher, wie der Richter diese hinterher beurteilt. Sicher ist nur, dass an Richterkollegen, Staatsanwälte und Polizisten großzügigere Maßstäbe angelegt werden, als an den Rest der Welt.
Wann immer Du, geneigter Leser, ein flaues Gefühl im Magen verspürst und Dich fragst, ob Du etwas lieber tun oder unterlassen solltest, dann stell Dir einfach vor, Du seiest Kapitän Schettino. Dein Schiff wurde gerade von einem Felsen aufgeschlitzt, neigt sich bedrohlich zur Seite und könnte bald sinken. Kannst Du es jetzt verantworten, ins Rettungsboot zu steigen und das Schiff sich selbst zu überlassen? Solltest Du dann immer noch zweifeln, so bedenke, dass Du vor Gericht ebenso hilflos bist wie auf hoher See. Dein Schiff ist im Zweifelsfalle die Titanic und wird ohnehin untergehen.