EXISTENZVERNICHTUNG

Was ist eigentlich „Polizeiwillkür“?

Welche schockierenden Details erwartest du, geneigter Leser, jetzt von mir zu hören? Zertrümmertes Inventar nach Hausdurchsuchungen? Prügel in dunklen Ecken? Missbrauch bei nächtlichen Verhören? Folter in Kellerzellen?

Ein Anwalt erfährt viel, kann es aber nicht beweisen. Darum sage ich: Alles Quatsch! Wir leben hier nicht in Türkisch-Weißrussland. Derlei ist verboten, also gibt es das nicht.

Dennoch handelt unsere Polizei willkürlich, obwohl sie oft nichts dafür kann.

Es muss im Herbst des letzten Jahres gewesen sein, als die Sportsfreunde in Uniform darin geschult wurden, wie man gefälschte Führerscheine erkennt. Ob es die Schulung tatsächlich gab, weiß ich nicht, aber seither häufen sich die Fälle – und sie laufen immer gleich ab: Ein Ausländer am Steuer wird gebeten, seinen Führerschein vorzuzeigen. Dabei entsteht ein Verdacht.

Wusstest du, dass hierzulande Bulgaren mit spanischen Führerscheinen unterwegs sind, Rumänen mit italienischen, Tschechen mit französischen und Polen mit litauischen? Die Welt ist global geworden und manch ein Arbeitsmigrant arbeitet nicht nur im EU-Ausland, sondern erwirbt dort auch eine Fahrerlaubnis. Rechtlich kein Problem, denn EU-Bürger mit EU-Führerscheinen dürfen EU-weit fahren. Zumindest in der Theorie.

Praktisch kann der frisch geschulte oder gar nicht geschulte deutsche Polizist kaum wissen, ob der spanische, italienische, französische oder litauische Führerschein echt ist. Also mutmaßt er: Sieht das Wasserzeichen nicht etwas komisch aus? Warum ist da ein Knick im Dokument? So einen Stempel habe ich noch nie gesehen. Diese Ausstellerstadt kenne ich nicht. Und überhaupt ist der Lappen in einer Sprache verfasst, die ich nicht verstehe. Also ziehen wir das Ding mal ein.

Ach, der Herr Ausländer hat einen Job als Pizzafahrer, als Paketauslieferer, als LKW-Trucker gar? Tja, dann muss der Job nun eben ruhen bis der Amtsschimmel geäppelt hat. Tut mir leid für dich und deine Frau und deine Kinder, adieu, wir melden uns.

Bis ein amtlicher Gutachter die Echtheit bestätigt – und bisher waren die Führerscheine in allen Fällen tatsächlich echt – vergeht im Schnitt ein halbes Jahr. In der Zeit zwischen Weihnachten und Ostern hatte ich genau ein Dutzend solcher Fälle auf dem Tisch. Ein Dutzend Schicksale, ein Dutzend ruinierte Existenzen und fast ein Dutzend Menschen, die aus einer gesicherten Existenz heraus auf Sozialhilfeniveau katapultiert wurden. Fast ein Dutzend, weil einer leider kein EU-Ausländer und seine Aufenthaltserlaubnis daher an die Arbeitsstelle geknüpft war. Er lebte noch einen Monat auf Pump bei Freunden, ein bis zwei weitere Monate bettelnd auf der Straße, dann hat er das Land verlassen – wohin auch immer.

Heute erfuhr ich, dass sein Führerschein echt war und er ihn wieder abholen kann. Danke, liebe Polizei. Ich weiß nur gerade nicht, ob er überhaupt noch lebt. –

„Dennoch handelt unsere Polizei willkürlich, obwohl sie oft nichts dafür kann“, schrieb ich oben. Warum kann sie nichts dafür?

Ganz einfach: Was soll er denn tun, der Herr Polizeikommissaranwärter auf seiner ersten Dienstfahrt, wenn ein Slowake ohne Deutschkenntnisse ihm ein verwittertes, kaum noch lesbares Dokument aus dem hintersten Winkel Portugals vorlegt? Ihn trifft kaum eine Schuld, zumal binnen weniger Tage ein Gericht darüber entscheidet, ob die Sicherstellung des Führerscheins Bestand hat. Dort beruft man sich – hoch lebe der Richtervorbehalt – auf die Einschätzung der Polizei. Aber auch das ist nachvollziehbar. Ich könnte die Echtheit solcher Lappen (im wahrsten Sinne des Wortes) auch nicht beurteilen. Weil unsere europäische Bürokratie nicht in der Lage ist, einheitliche Führerscheine zu schaffen. Weil es zwar eine europäische Behörde gibt, die alle EU-Fahrerlaubnisse registrieren soll, dieser Moloch aber nicht funktioniert. (In einem Verfahren warten wir seit über einem Jahr auf die Beantwortung einer gerichtlichen Anfrage). Das macht diese Fälle so frustierend.

Innenpolitiker mit Rückgrat müssten jetzt eigentlich sagen: „Halt! Es werden keine Existenzen mehr vernichtet, so lange die EU nicht ihre Hausaufgaben gemacht hat!“

Aber wahrscheinlich diskutieren sie gerade darüber, ob der „Führer“ im Schein politisch korrekt und falls ja wie er zu gendern ist.

Pfui schämt Euch!